Der NATO-Einsatz gegen das Gaddafi-Regime 2011 war der erste Krieg, der politisch weithin mit dem Prinzip der "Schutzverantwortung" (Responsibility to Protect, R2P) gerechtfertigt wurde. Nach diesem Prinzip hat die internationale Staatengemeinschaft zwar nicht rechtlich, jedoch moralisch eine subsidiäre Verantwortung, massenhafte Menschenrechtsverletzungen notfalls auch mit militärischer Gewalt zu verhindern, wenn die Regierung des betreffenden Landes ihrer Schutzverantwortung gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern nicht gerecht wird.
Zwar ist die R2P-Diskussion eine Fortsetzung der Debatte um die "humanitäre Intervention"
Schutzverantwortung als normatives Prinzip
Selten hat ein Begriff so schnell Eingang in das politische, ethische und völkerrechtliche Vokabular gefunden wie jener der "Schutzverantwortung". Wahlweise ist dabei von einem Konzept, einem Prinzip, einer Norm oder einer Doktrin die Rede – schon diese schillernde Konnotation verweist auf unterschiedliche Deutungen. Die den Begriff ursprünglich propagierende International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) verstand R2P als Prinzip, Regierungen sprechen meist von einem Konzept, und in der akademischen Literatur wird R2P oft als eine (entstehende) Norm bezeichnet.
Als die ICISS ihre Arbeit 2001 aufnahm, stand dahinter die Absicht, der Debatte um die humanitäre Intervention nach den Erfahrungen in Ruanda und auf dem Balkan einen neuen diskursiven Rahmen zu geben.
Inhaltlich machte sich die Kommission eine Neuinterpretation des Souveränitätsbegriffs zu eigen – Souveränität wurde nicht mehr als Kontrolle verstanden, sondern als Verantwortlichkeit. Die Schutzverantwortung teilt sich zwar in drei Dimensionen auf: Prävention, Reaktion und Wiederaufbau. Im Mittelpunkt des Berichts steht jedoch der harte Kern der militärischen Interventionsproblematik. In extremen Fällen sei, so die These, ein militärisches Eingreifen gefordert, wenn nationale Regierungen ihrer Schutzverantwortung nicht gerecht werden. Zum einen gilt dies dann, wenn ein Verlust an Menschenleben in großem Ausmaß zu beklagen ist oder droht, ob durch staatliches Handeln oder staatliches Schutzversagen; zum anderen in Fällen "ethnischer Säuberungen" großen Ausmaßes.
Die Schutzverantwortung in dem Sinne, wie sie unter dem Dach der VN Zustimmung erfahren hat, ist in einigen Punkten enger gefasst. Das Abschlussdokument des Gipfeltreffens 2005 spricht von der Verantwortung, Bevölkerungen vor Genozid, Kriegsverbrechen, "ethnischer Säuberung" und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. R2P 2005 enthält somit eine Liste spezifischer Fälle von Verbrechen. Der internationalen Gemeinschaft, vertreten durch die VN, fällt eine subsidiäre Rolle zu, wenn nationale Regierungen ihrer Schutzverantwortung offenkundig nicht nachkommen. Dies umfasst im konkreten Fall auch den Einsatz von Zwangsmitteln nach Kapitel sieben der VN-Charta, falls sich friedliche Mittel als unangemessen erweisen.
Bei R2P 2005 ist, wenn es um Zwangsmittel geht, allerdings nicht von "Verantwortung" die Rede, sondern von "Bereitschaft". Von einer Interventionspflicht wird nicht gesprochen.
Nach einhelligem Verständnis ist das Prinzip der Schutzverantwortung, genauer die militärische Interventionskomponente, jedoch noch keine völkerrechtlich verpflichtende Norm.
Zum ius cogens gehört allerdings auch das Gewaltverbot, von dem die individuelle und kollektive Verteidigung nach Artikel 51 der VN-Charta ausgenommen ist. Aufgrund des Gewaltverbots ist eine militärische Intervention nur dann unzweideutig erlaubt, wenn der VN-Sicherheitsrat eine Bedrohung des internationalen Friedens konstatiert und Zwangsmaßnahmen nach Kapitel sieben autorisiert.
Der eigentlich innovative Kern des Schutzverantwortungsprinzips, die Interventionspflicht, ist keine bindende Rechtsnorm. Dafür mangelt es dem Prinzip an wesentlichen Voraussetzungen, darunter insbesondere Allgemeingültigkeit, Klarheit, Konsistenz und vor allem auch an einer entsprechenden Rechtspraxis.
Im R2P-Diskurs hat die alte Idee der humanitären Intervention ihre neue Ausprägung gewonnen. Doch umfasst die Schutzverantwortung weit mehr; denn die militärische Intervention ist nur ein Element der – um den gegenwärtigen VN-Jargon zu benutzen – dritten Säule von R2P, der zeitnahen und entschlossenen Reaktion.
Doch der "neue Schlauch" der Moralisierung hat deutliche Auswirkungen auf den internationalen Diskurs, die nicht zu unterschätzen sind. R2P hat die Parameter der internationalen Debatte verändert.
Menschenrechte und Militärgewalt
Wer eine Verpflichtung zu menschenrechtlich begründeten militärischen Interventionen postuliert, argumentiert im Rahmen des "liberalen" Paradigmas internationaler Politik. Denn aus "realistischer" Sicht besteht Verantwortung zuallererst in der Durchsetzung nationaler Interessen. Eigene Staatsbürger zur Rettung anderer in den Krieg zu schicken, ohne dass grundlegende nationale Interessen auf dem Spiel stehen, ist aus Sicht der realistischen Denkschule moralisch verantwortungslos.
Die Frage nach grenzüberschreitenden moralischen Verpflichtungen, nach dem Ausmaß einer Verantwortung für "Fremde", stellt sich erst im Rahmen des Liberalismus, wird aber durchaus unterschiedlich bewertet. Entscheidend ist dabei, ob man eher dem Kosmopolitismus oder dem Partikularismus zuneigt, ob man also einen moralischen Universalismus vertritt, in dem die Grundrechte eines jeden Menschen von gleicher Bedeutung sind, oder ob man einen Vorrang für die Rechte der eigenen Mitbürger anerkennt und moralische Verantwortung in abgestuftem Sinne versteht.
Militarisierte kosmopolitische Moral.
R2P als Prinzip ist einer liberalen kosmopolitischen Moral verpflichtet, die staatliche Grenzen gering achtet und transnationale Verpflichtungen zwischen Individuen in den Mittelpunkt stellt. Denn R2P postuliert faktisch – ohne dass ihre Verfechter dies näher begründen – eine allgemeine Verpflichtung, überall auf der Welt notfalls mit militärischen Mitteln schwere Gewalttaten zu unterbinden und im Dienst der Humanität Krieg zu führen, wenn sich dadurch schlimme Übel beenden lassen.
Selbst wenn man die Imperative eines kosmopolitischen Ansatzes akzeptiert, der weitreichende, universal geltende Hilfspflichten behauptet, so bleibt die Frage: Warum wird im öffentlichen Diskurs vielfach die militärische Nothilfe gegenüber anderen Hilfspflichten privilegiert, etwa gegenüber der Verpflichtung, Krankheiten zu bekämpfen, die Millionen Menschen den Tod bringen? Wenn eine positive Pflicht zur humanitären Intervention begründbar ist, weil sich jeder aus unparteiischer Abwägung heraus eine Welt wünschen müsste, in der ihm als Opfer gewaltsamer Menschenrechtsverletzungen geholfen würde, dann lassen sich aus einer solchen Perspektive auch andere Verpflichtungen zu humanitärer Hilfe ableiten – zur Bekämpfung von Armut, Krankheit, Hunger.
Dieses Problem stellt sich besonders bei einer an Handlungsfolgen orientierten Betrachtung: Ist das Ziel die Rettung einer größtmöglichen Zahl von Menschen, dann kann es unter Umständen weit effizienter sein, jene finanziellen Ressourcen, die ein Militäreinsatz verschlingt, anders einzusetzen. Insofern darf man die Opportunitätskosten eines humanitären Eingreifens nicht ignorieren. Mit den Summen, die für Militäraktionen ausgegeben werden, wären weit mehr Menschen zu retten, würden sie in Gesundheitsinitiativen fließen, etwa für Impfungen gegen Masern oder die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Malaria.
Globale Hilfspflicht versus nationale Verantwortung.
Die Pflicht, zur Rettung der Bürger anderer Staaten notfalls Krieg zu führen, wird meist in Analogie zur individuellen Nothilfe begründet, wozu jeder nach seinen Fähigkeiten und unter Abschätzung der Eigengefährdung verpflichtet ist. Doch das ist die Ebene individueller Moral. Bei humanitären Militärinterventionen geht es dagegen um Fragen politischer Ethik: Ist ein Staat überhaupt berechtigt, seine Soldaten – Bürger in Uniform – zu verpflichten, für den Schutz "Fremder" zu töten und dabei das Risiko des eigenen Todes einzugehen?
Eine globale militärische Hilfspflicht steht in Widerspruch zur Verantwortung gegenüber eigenen Staatsbürgern. Sie widerspricht auch dem "Vertrag", den Soldaten mit ihrer Gesellschaft eingegangen sind: notfalls ihr Leben für deren grundlegende Interessen zu opfern. Faktisch wird das Risiko eigener Verluste minimiert durch die Art, wie in den Fällen Kosovo und Libyen humanitär begründete Kriege geführt wurden – nämlich allein mit Luftstreitkräften. Doch Interventionen unter dem Imperativ, eigene Opfer nahezu vollständig auszuschließen, entsprechen nicht dem Ziel, eine möglichst große Zahl von Menschen zu retten.
Töten, um zu retten.
Wer eine Interventionspflicht behauptet, setzt voraus, es sei moralisch gerechtfertigt, zu töten, um zu retten – und zwar nicht nur direkte Übeltäter zu töten, sondern auch Soldaten, die nicht selbst an Verbrechen beteiligt sind, und Nichtkombattanten, deren Tod als "Kollateralschaden" hingenommen wird. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass sich damit die Debatte verschiebt: "Es wird nicht mehr vorrangig diskutiert, ob und unter welchen Umständen eine Ausnahme vom Tötungsverbot gerechtfertigt sei, sondern welche Arten von Menschenrechtsverletzungen zu einer Intervention verpflichten, selbst unter Inkaufnahme von unschuldig Getöteten."
Wenn Interventionsbefürworter sich der Frage nach der moralischen Legitimität des Tötens stellen, dann greifen sie häufig auf zwei Argumentationsfiguren zurück. Die eine lautet: Wir müssen den Tod Unschuldiger in Kauf nehmen, um eine weit größere Zahl Unschuldiger vor dem Tod zu retten.
Das Prinzip der Doppelwirkung eröffnet einen weiten Spielraum für die Inkaufnahme unbeabsichtigter, aber gleichwohl absehbarer Opfer unter Nichtkombattanten – ein Spielraum, der, wie kritisiert wurde, im Falle humanitär begründeter Interventionen zu groß ist. Diese sollen ja dem Schutz von Menschen dienen.
Das dem Argument der "Kollateralschäden" zugrunde liegende moralische Prinzip einer "Doppelwirkung" muss deshalb nach jenem restriktiven Verständnis angewandt werden, wie es Michael Walzer hinsichtlich der Verpflichtungen gegenüber den Rechten von Nichtkombattanten formuliert hat.
Folgenverantwortung – eher ignoriert als nüchtern reflektiert.
In der Debatte um humanitäre Interventionen werden die Probleme der Umsetzung, die Erfolgsaussichten und absehbare Gesamtfolgen weithin ausgeblendet.
Humanitäre Interventionen mit dem Ziel, Menschenleben zu retten, werden oft als schnelle Operation zu geringen eigenen Kosten dargestellt. Doch als bloße Kurzzeittherapie können humanitäre Interventionen kaum erfolgreich sein, geschehen die Menschenrechtsverletzungen doch in einem Kontext, der eine dauerhafte Befriedung verlangt.
Folgerungen
In der Summe legen die analysierten Probleme und Dilemmata folgenden Schluss nahe: Menschenrechtlich begründete Militärinterventionen sind nur in Extremsituationen zu rechtfertigen. Wenn die menschlichen Kosten einer solchen Intervention im Vergleich zum Nutzen unverhältnismäßig groß sind oder es unwahrscheinlich ist, dass die angestrebten humanitären Ziele erreicht werden, dann ist im Sinne einer konsequentialistischen Bewertung die Intervention moralisch falsch. Dies gilt auch dann, wenn der Einsatz militärischer Gewalt das Kriterium der Ultima Ratio erfüllt.
Das heißt: Es sprechen nicht nur pragmatische, sondern gerade auch moralische Gründe dafür, die Schwellenkriterien für eine mit dem Prinzip der Schutzverantwortung begründete Militärintervention sehr hoch anzusetzen.