Der Begriff Nachhaltigkeit ist in Deutschland 300 Jahre alt. (…) Das heißt, wir feiern in diesem Jahr 300 Jahre Nachhaltigkeit. Daran können Sie erkennen, wie lange eigentlich einfache Sachen brauchen, um wirklich durchgesetzt zu werden. Wir sprechen jetzt über eine Welt, die heute mehr als sieben Milliarden Einwohner hat und die 2050 neun Milliarden Einwohner haben wird, auf der die Einkommen ungleich verteilt sind, auf der die Vermögen noch viel ungleicher verteilt sind, und über eine Welt, die mit Sicherheit auf Kosten der Zukunft lebt, also von der umfassenden Devise der Nachhaltigkeit noch weit entfernt ist."
Wer heute über Nachhaltigkeit als politischem Wert schreibt, läuft Gefahr, einem Begriff, der ausgequetscht ist wie eine Zitrone, allenfalls ein weiteres Bekenntnis zu dessen Wichtigkeit für die Zukunft unserer Gesellschaft hinzuzufügen. In kaum einer gewichtigen Rede auf der nationalen oder internationalen politischen Bühne fehlt heute der Verweis auf Nachhaltigkeit, sei es im Bereich des Ökonomischen, des Ökologischen oder des Sozialen. Nach der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro im Jahr 1992 hat unter den politischen Akteuren geradezu ein inflationärer Wettlauf im Beschwören der Notwendigkeit und Bedeutung von Nachhaltigkeit eingesetzt – ein Wettlauf, der inzwischen in eine Art Nachhaltigkeits-Populismus ausgeartet ist und dem Begriff jegliche Trennschärfe zu nehmen droht.
Taugt also der Begriff überhaupt noch dazu, ihm im Gesamtuniversum politischer Werte eine spezifische Bedeutung beizumessen? Oder ist er so entleert, dass er im Grunde zu einer beliebigen und unverbindlichen Formel im politischen Alltag zu werden droht? Um diese Fragen zu klären, soll zunächst nachgezeichnet werden, wie der Begriff Nachhaltigkeit Eingang in zeitgenössische gesellschaftspolitische Diskurse gefunden hat. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass ein gesellschaftspolitisches Konzept erst dann in Institutionen und alltäglichen Wertorientierungen verankert ist, wenn es sich als regulative Leitidee im politischen Diskurs durchgesetzt hat. Darauf aufbauend geht der Beitrag auf den Verfassungsrang von Nachhaltigkeit als politischem Grundwert sowie auf seine Bedeutung als Wertorientierung in den gesellschaftlichen Praxen und Verhaltensweisen ein, bevor Nachhaltigkeit als politischer Wert in aktuelle gesellschaftspolitische Zukunftskonzepte und Strategien für das politische Handeln eingeordnet wird.
Vom Nischendasein zur regulativen Leitidee
Wenn man sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit Werten beschäftigt, gerät man schnell in ein kaum zu entwirrendes Knäuel verschiedener Erklärungen, Ansätze und Deutungen. Einig sind sich die meisten Autorinnen und Autoren darin, dass der ursprünglich aus der Ökonomie stammende Begriff erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Wertephilosophie in den Bereich der Politik übertragen wurde, während er in der traditionellen europäischen Ethik nur eine marginale Rolle spielte.
Die Entstehung neuer Werte ist häufig mit tief greifenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen verbunden, in denen sich neue Leitideen Bahn brechen. So haben die großen politischen Leitideen der Moderne – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – ihren Ursprung in der Amerikanischen beziehungsweise Französischen Revolution. Sie bestimmen bis heute unser politisches Handeln und wurden im Laufe der Geschichte von unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Strömungen und Parteien programmatisch vereinnahmt. Sie entwickelten sich zu regulativen Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenseins. Obwohl die Ursprünge des Begriffs Nachhaltigkeit vor dem Zeitalter dieser Revolutionen liegen, konnte dieser seine politische Sprengkraft als eine neue regulative Leitidee natürlich erst zu einem Zeitpunkt entfalten, als die destruktiven Folgen einer wachstums- und fortschrittsgetriebenen Moderne langsam ins öffentliche Bewusstsein sickerten.
In der Bundesrepublik lässt sich dieser Zeitpunkt relativ genau bestimmen. Die kulturhistorische Forschung begreift die 1970er Jahre als "Umbruchzeit" und als "Abschied von der Geltung des liberal consensus"
Der Impuls für Nachhaltigkeit als neue regulative Leitidee kam also nicht aus der Ökonomie, sondern aus der ökologischen Bewegung der 1970er Jahre, die damals noch in ihrer embryonalen Phase steckte und gesellschaftspolitisch weitgehend ein Nischendasein führte. Zwar beschäftigten sich schon in dieser Zeit internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen auf ihrer Conference on the Human Environment (1972) in Stockholm mit den wachsenden Problemen der weltweiten Umweltzerstörung, aber es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis Nachhaltigkeit Eingang in offizielle internationale Dokumente fand. Erst in den Debatten auf den Umweltkonferenzen der Vereinten Nationen seit 1992 folgte der Siegeszug des Prinzips der Nachhaltigkeit nicht nur als ökologische, sondern auch als wirtschaftliche und soziale Handlungsmaxime.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die volkswirtschaftliche Dimension von Nachhaltigkeit erst über den ökologischen Umweg auch von der Ökonomie wieder als handlungsleitendes Prinzip entdeckt wurde. Das hat damit zu tun, dass in den vergangenen Jahrzehnten in wirtschafts- und finanzpolitischen Diskursen ein zentraler Kerngedanke von Nachhaltigkeit stärker an Einfluss gewonnen hat – die Verantwortung für nachkommende Generationen. Die Grünen vermochten es in ihrem ersten Wahlkampf zur Europawahl 1979,
Halten wir fest: Nachhaltigkeit hat sich seit den 1970er Jahren nach und nach über den ökologischen Diskurs als mehrdimensionale regulative Leitidee in der Bundesrepublik und in der internationalen Arena etablieren können. Nicht jede regulative Leitidee wird jedoch in den Katalog der politischen Grundwerte einer Gesellschaft aufgenommen. Erst die verfassungsrechtliche Normierung und Aufwertung einer Leitidee kann als ein Zeichen dafür gewertet werden, dass sie als politischer Grundwert anerkannt und akzeptiert ist.
Von der Leitidee zum Grundwert
In der Bundesrepublik hat das Prinzip der Nachhaltigkeit bisher zwar keinen normierenden Verfassungsrang als einklagbares Grundrecht erhalten, aber 2002 wurde der Schutz der Umwelt als Staatsschutzziel in das Grundgesetz (Artikel 20a) aufgenommen. Die Formulierung, dass der Staat "in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen (…) durch die Gesetzgebung und (…) durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung" schützt, nimmt den Gedanken der Nachhaltigkeit implizit in das Staatsschutzziel mit auf. Angela Merkel bediente sich bei ihrer eingangs zitierten Rede auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg eines kleinen Tricks, um Nachhaltigkeit auch aus Artikel 1 des Grundgesetzes ("Die Würde des Menschen ist unantastbar") als Verfassungsziel abzuleiten: "Dieser Artikel 1 gilt nicht nur für uns heute, sondern wir haben auch eine Verantwortung für die Kinder, für die Enkel, für die Generationen, die nach uns kommen. Deshalb ist es so wichtig und so richtig, dass der Begriff Nachhaltigkeit schrittweise an Bedeutung gewinnt und unser politisches Handeln immer mehr bestimmt."
Tatsächlich stellt sich die Frage, ob die Verpflichtung zu einer nachhaltigen Entwicklung explizit als Grundrecht Verfassungsrang bekommen sollte oder sich aus bereits bestehenden Artikeln des Grundgesetzes ableiten lässt. Einen Vorschlag des 2001 von der damaligen Bundesregierung ins Leben gerufenen "Rats für Nachhaltige Entwicklung" aufgreifend, brachte 2006 eine fraktionsübergreifende Gruppe von überwiegend jüngeren Bundestagsabgeordneten einen Gesetzentwurf zur Erweiterung der Staatszielbestimmung nach Artikel 20a in den Bundestag ein. Der Entwurf sah vor, einen neuen Artikel 20b mit folgendem Wortlaut einzufügen: "Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künftiger Generationen zu schützen."
Andere Länder, wie die Schweiz, sind schon einen Schritt weitergegangen und haben dem Ziel der Nachhaltigkeit bereits Verfassungsrang eingeräumt. In der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung wird die Verantwortung für die Schöpfung und für kommende Generationen explizit genannt, und in Artikel 2 heißt es: "Die Schweizerische Eidgenossenschaft (…) fördert (…) die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes. (…) Sie setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung."
Auch in dem 2003 vorgelegten Entwurf für eine Europäische Verfassung wurde das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung und der Solidarität zwischen den Generationen in Artikel I-3 (Ziele der Union) aufgenommen.
Nachhaltigkeit in den politischen Wertorientierungen der Gesellschaft
Eine regulative Leitidee, zumal wenn sie in den Katalog politischer Grundwerte aufgenommen wird, muss sich als Wertorientierung auch in den alltäglichen Praxen und Verhaltensweisen, also in der politischen Kultur einer Gesellschaft bewähren, bevor man ihr eine gewisse Wirkmächtigkeit zusprechen kann. Tatsächlich lässt sich seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik und in anderen westlichen Gesellschaften in dieser Hinsicht ein Bewusstseinswandel konstatieren. Nachhaltigkeit wurde in den vergangenen Jahrzehnten auch zu einer Frage der persönlichen Wertpräferenzen und des Lebenswandels. Ausgehend von den alternativen Lebensformen, in denen zunächst kleinere Gemeinschaften eine neue Kultur des Konsumverzichts einübten sowie neue Formen einer alternativen regionalen Ökonomie ausprobierten, entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben politische Wertorientierungen, die dem Postulat der Nachhaltigkeit folgten und nach und nach auch die Mehrheitsgesellschaft erreicht haben.
Nachhaltigkeit als Leitlinie des individuellen Verhaltens manifestiert sich beispielsweise in der Wiederverwertung von Rohstoffen durch Mülltrennung, einer Veränderung des Mobilitätsverhaltens, einem sparsameren Umgang mit öffentlichen Gütern, der Verwendung nachwachsender Materialien, dem Einkauf biologisch erzeugter Nahrungsmittel und einem anderen Umgang mit Zeit. Auch Tauschbörsen, Carsharing-Stationen, Ökoläden, Ökobanken, Märkte für ökologische Baumaterialien sowie ökologische Konsumgenossenschaften gehören längst zu einer über Jahre gewachsenen Nachhaltigkeits-Infrastruktur. Die Wirkung dieser Veränderungen in den individuellen Wertorientierungen auf eine nachhaltige Entwicklung ist jedoch politisch sehr umstritten. Ihnen wird von einigen Autoren eher symbolischer und kosmetischer Wert zugeschrieben, der dem guten Gewissen diene, aber de facto auf die Entwicklung einer weiterhin auf expansives Wachstum ausgerichteten Ökonomie keinen Einfluss habe.
Postwachstumsökonomie oder ökologische Modernisierung?
An der kontroversen Debatte über die Wirkung und den Sinn der Veränderung individueller Wertorientierungen und Verhaltensweisen für eine nachhaltige Entwicklung lässt sich ablesen, dass sich der Nachhaltigkeitsdiskurs in den vergangenen Jahren in zwei Richtungen polarisiert hat. Autoren wie Niko Paech kritisieren die Vorstellung eines "grünen Wachstumsmythos", der sich aus dem "Impetus einer ökologischen Modernisierung" speise und von der Illusion eines "qualitativen" beziehungsweise "nachhaltigen" Wachstums träume.
Interessanterweise ist es in Deutschland ein Vordenker der grünen Partei, Ralf Fücks, der mit seinem Buch "Intelligent Wachsen. Die grüne Revolution" genau in die entgegensetzte Richtung zielt, indem er Nachhaltigkeit zu einer "Frage der Produktionsweise" erklärt und aus der Perspektive jener Gesellschaften, die sich noch im Stadium der Entwicklung von privatem Wohlstand und Konsum befinden, gegen die Idee einer Postwachstumsgesellschaft "als Seufzer einer akademischen Mittelschicht, die schon alles hat, was das Herz begehrt"
Die Debatte oszilliert also um zwei sich anscheinend ausschließende Positionen. Produktiver scheint es zu sein, in beide Richtungen zu denken, wenn Nachhaltigkeit als regulative Leitidee und politischer Grundwert das zukünftige politische Handeln bestimmen soll. Damit Nachhaltigkeit nicht nur ein wohlfeiles Lippenbekenntnis bleibt, müssen jetzt ökonomische, finanzielle, ökologische, technische und soziale Weichenstellungen erfolgen, die den nachfolgenden Generationen Handlungsspielräume für das eigene Handeln ermöglichen. Dazu muss die Politik nicht nur ehrgeizige Ziele, etwa in der Klimapolitik, formulieren, sondern auch mit ihrer Umsetzung Ernst machen. Solange althergebrachte ökonomische Imperative immer wieder über ökologische Erfordernisse triumphieren, werden wir tiefer in den Strudel von Krisen mit globaler Auswirkung schlittern. Effizienzsteigerungen durch technische Innovation und gezielte Wachstumsbremsen in Bereichen, in denen Ressourcen und Energie vergeudet werden, müssen sich nicht ausschließen.
Gleichzeitig kann die Gesellschaft die Probleme nicht nur an die Politik delegieren. Sie muss im Rahmen ihrer Alltagsgewohnheiten bereit sein, einen eigenen Beitrag zur nachhaltigen Umsteuerung zu leisten. Harald Welzer hat mit seinem Buch "Selbst denken" Möglichkeiten aufgezeigt, wie durch andere Wertorientierungen und Verhaltensweisen, die von einer Avantgarde auf allen gesellschaftlichen Ebenen vertreten und vorgelebt werden, auch auf der Ebene der Zivilgesellschaft ein Beitrag zu einer "nachhaltigen Moderne" geleistet werden kann.