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Solidarität als Ideologie

Martin Hartmann

/ 15 Minuten zu lesen

In den sozialphilosophischen und politiktheoretischen Ansätzen der jüngeren Gegenwart spielt der Solidaritätsbegriff keine größere Rolle. Das liegt vor allem daran, dass in der Regel der Gerechtigkeits- und der (Menschen-)Rechtsbegriff dominieren, wenn es darum geht, Fragen nach der normativen Qualität sozialer, politischer und ökonomischer Lebenszusammenhänge zu beantworten. Wo von Gerechtigkeit die Rede ist, da geht es oftmals um moralische Prinzipien, Ansprüche, Rechte und Pflichten, die umzusetzen sind. Ähnliches gilt für die Menschenrechte, die eingeklagt werden können oder gewährleistet werden müssen. Die Dominanz der Rechtskategorie und des Gerechtigkeitsbegriffs lassen den Begriff der Solidarität verblassen, sodass sein Ort im Kontext der Sozialphilosophie und der Politischen Theorie undeutlich geworden ist. Das, wofür sie steht, die freiwillige (nicht zwangsläufig verpflichtende) Bereitschaft, anderen, denen man sich verbunden fühlt und die in Not geraten sind, zu helfen (ohne dass sie ein Recht auf Hilfe hätten), kommt empirisch zwar nach wie vor oft vor und wird entsprechend benannt, aber dieser empirische Gebrauch des Solidaritätsbegriffs bleibt theoretisch gewissermaßen sprachlos.

Dort, wo der Solidaritätsbegriff theoretisch noch reflektiert wird, nimmt er in der Regel einen eher residualen Charakter an und wird oft sogleich problematisiert. Das Versprechen des modernen Wohlfahrtsstaates etwa, materiale Ungleichheiten auszugleichen, um hinreichende Chancengleichheit herzustellen, wird zwar als praktisch-politische Verwirklichung solidarischer Umverteilungsprinzipien gedeutet, aber im gleichen Atemzug artikulieren sich oft genug Zweifel daran, ob man hier überhaupt noch von Solidarität sprechen soll. Zum einen nämlich verpflichtet sich der moderne Sozialstaat in gewisser Weise zu dieser Umverteilung, zum anderen spielen Gefühle wechselseitiger Verbundenheit, die doch in den Augen vieler Kommentatoren zentral für Solidarität sind, unter den anonymisierten Transfersystemen moderner Staaten keine Rolle mehr. Kurt Bayertz folgert bündig: "Ein Rekurs auf den Solidaritätsbegriff ist daher zur Legitimation des Sozialstaates überhaupt nicht erforderlich." Mehr noch: Appelle an freiwillige Solidaritätsleistungen würden verdrängt durch Gerechtigkeitsargumente, die weniger auf Freiwilligkeit und mehr auf Pflichten und Rechte setzen.

Andererseits nannte Jürgen Habermas Solidarität das "Andere der Gerechtigkeit". Diese Formel zielt auf den Schutz der sozialen Gemeinschaften, die jeder braucht, um ein gutes Leben zu führen; während Gerechtigkeit nach Jürgen Habermas eher auf die einzelne Person zielt, auf ihre Würde und den ihr gebührenden Respekt, zielt Solidarität auf einzelne Personen als "Genossen" eines "gemeinsamen Lebenszusammenhangs" und bricht damit die "individualistische Vereinseitigung" moderner Gerechtigkeitskonzeptionen. In dem Maße allerdings, in dem Solidarität bei Habermas das Andere der Gerechtigkeit ist, verliert sie in gewisser Weise ihren spezifischen Charakter und bleibt auch moralpsychologisch eher blass; sie ergänzt die Gerechtigkeit nur in dem Maße, in dem nun der gleichgewichtige Respekt und Schutz intersubjektiver Lebensformen (aber welcher genau?) neben den von Gerechtigkeitsprinzipien schon immer geforderten gleichgewichtigen Respekt des einzelnen Subjekts gestellt wird. Nicht ohne Grund hat man deswegen von einer "Engführung von Solidarität und Gleichheit" gesprochen und beklagt, dass die eigentümlichen Leistungen der Solidarität auch bei Habermas keinen angemessenen Raum finden.

Dieser Problemaufriss würde also bestätigen, dass Haltungen, Einstellungen und Gefühle der Solidarität in der gegenwärtigen Sozialphilosophie und Politischen Theorie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keinen Ort haben. Freilich muss man darin kein Problem sehen. Wenn sich der Bereich dessen, was moralisch gefordert werden kann und was als Recht geschützt werden muss, ausgeweitet hat, etwa, weil wir erkannt haben, wie sehr wir (der Westen, die westlichen Eliten, wir alle) in das Leiden oder die Armut ferner Menschen involviert sind, dann scheint Solidarität, moralphilosophisch gesprochen, ein viel zu schwaches Korrektiv gegen die von uns zu verantwortenden Ungerechtigkeiten zu sein. Wir müssen hier die härtere Währung von möglichst zu juridifizierenden moralischen Rechten und Pflichten heranziehen, um die zu schützen, die in Not sind. Am Rande der Moral mag immer noch Platz für Solidarität sein (die viel zitierten supererogatorischen Pflichten), aber dieser Platz ist aus guten Gründen schlicht enger geworden, scheint er doch ganz unseren willkürlichen Zuneigungen und Gemeinschaftsgefühlen ausgeliefert zu sein.

Andererseits ist in gegenwärtigen politischen Diskussionen durchaus häufig von Solidarität die Rede. Wir seien "solidarisch" mit Flutopfern oder mit der Not hungernder Kinder, wir fragen uns, ob wir im Zuge der europäischen Schuldenkrise mit Griechenland "solidarisch" sein sollen. Wie passt diese Art zu reden zum Schweigen der Philosophie? Verkennen wir als Nichtphilosophen oder als Politiker, was wir tun, wenn wir unser Tun als solidarisch bezeichnen, weil wir in Wirklichkeit nur tun, wozu wir moralisch verpflichtet sind? Verdeckt am Ende die Rede von Solidarität moralische Pflichten, die wir haben, aber nicht erkennen? Gibt es Formen oder Formeln der Solidarität, die wir problematisieren sollten, weil sie Zusammenhänge vertuschen oder Differenzierungen ausblenden, die politisch wichtig sind? Wolfgang Streeck etwa hat unlängst die Wendung von der "Solidarität-als-Strafe" geprägt, um auf erzwungene Unterstützungsleistungen im Kontext der Eurokrise hinzuweisen. Wenn es aber pervertierte Formen der Solidarität gibt, wird es hilfreich sein, nicht-pervertierte Formen zu kennen, um genauer benennen zu können, was falsch ist an der zur Zeit gängigen Rede von Solidarität.

Die Philosophie kann zweifellos nicht so tun, als gäbe es die eine, richtige Definition des Begriffs. Besonders politische Begriffe und Wörter sind Teil einer realen Sprachpraxis, in der es um Macht und Einflussnahme, um Definitionshoheit und den Kampf um Deutungsmonopole geht. Von wem und in welchem Kontext ein Begriff geäußert wird, entscheidet also darüber, was gemeint sein kann und was nicht, was getan werden kann und was nicht. Unter demokratischen Verhältnissen gibt es zudem oft genug Auseinandersetzungen darüber, welche Verwendungen eines Begriffs plausibel oder demokratisch legitim sind, und es sollte klar sein, dass diese Auseinandersetzungen falsch verstanden werden, wenn man sie bloß als linguistisch oder akademisch tituliert. In der handlungsentlasteten Atmosphäre universitärer Seminare mag man einigermaßen herrschaftsfrei über die Geschichte und Bedeutung politischer Begriffe diskutieren, in der realen Politik geht das nicht. Im Folgenden sollen deshalb zwei reale Verwendungen des Solidaritätsbegriffs untersucht werden, die modellhaft als kontraktualistisches Pflichtenmodell der Solidarität und als neoliberale Solidarität bezeichnet werden. Diese ist eine Ad-hoc-Unterscheidung und erhebt keinen größeren Systematisierungsanspruch.

Solidarität und die Eurokrise

Als sich das slowakische Parlament im Sommer 2010 weigerte, an den Hilfskrediten der Euro-Staaten für Griechenland teilzunehmen, reagierte EU-Währungskommissar Olli Rehn ungewohnt scharf. Das slowakische Votum "widerspreche dem solidarischen Geist, mit dem sich alle Euro-Staaten – auch die Slowakei – im Mai zu den Hilfen für Athen entschlossen hätten". Die Slowakei wiederum hat ihre Haltung ebenfalls unter Berufung auf das Solidaritätsprinzip gerechtfertigt, wenn auch negativ. Hintergrund ist die Tatsache, dass das Pro-Kopf-Einkommen in der Slowakei weit unter jenem Griechenlands liegt. Vom damaligen Finanzminister Ivan Mikloš stammt in diesem Zusammenhang folgende Aussage: "Eine Solidarität der Armen mit den Reichen, der Verantwortungsvollen mit den Verantwortungslosen, der Steuerzahler mit den Bankbesitzern und -managern ist keine wahre Solidarität." Während Rehn offenbar davon ausgeht, dass Solidarität unabhängig von ökonomischen Differenzen zwischen Geber und Nehmer eingeklagt werden kann, solange die Forderung nach Unterstützung Ergebnis eines "Entschlusses" und somit scheinbar freiwillig ist, unternimmt Mikloš gleichsam eine Interpretation des Begriffs und folgert, dass Solidarität nur von den Starken, Reichen oder "Verantwortungsvollen" geleistet werden kann und das auch nur unter bestimmten Bedingungen. Untergründig liegt seiner Argumentation die Annahme zugrunde, dass selbstverschuldetes Unglück keine Solidarität verdient – zweifellos eine massive begriffliche Vorentscheidung, mit der Mikloš nicht allein steht.

Was sich hier abzeichnet, ist ein Konflikt der Solidaritätsverständnisse, der die Entscheidungen der EU zum Umgang mit der Eurokrise bis heute mal mehr, mal weniger deutlich durchzieht. Als unlängst das Bundesverfassungsgericht finanzpolitische Entscheidungen der Europäischen Zentralbank (EZB) verhandelte, hat sich in der Berichterstattung der Konflikt zwischen den Befürwortern von Staatsanleihekäufen durch die EZB und den Gegnern einer solchen Finanzpolitik ebenfalls als ein Konflikt um Solidaritätsverständnisse dargestellt. Während die einen davon ausgehen, dass die starken Glieder einer Gemeinschaft die schwachen Glieder unterstützen müssen, weil sie ihre Position der Stärke in vielen Fällen nur mithilfe der anderen erreichen können, setzen die anderen stärker auf die Eigenverantwortung der Schuldenstaaten. Eine "verordnete Umverteilung" entspreche nicht der Idee der Solidarität: "Hinter all dem Streit der Juristen und Ökonomen steht am Ende die eine große Frage: Wie viel Solidarität wollen die Staaten Europas untereinander üben? Haften alle für alle – oder jeder für sich? Jene, die für Haftungsübernahme plädieren, führen an, dass Deutschland schließlich vom Euro profitiert habe. Meint Solidarität nicht, dass man ein wenig von diesem Vorteil an die Partner zurückgibt? Dass der Starke für den Schwachen einsteht? (…) Die anderen sagen, dass Solidarität Freiwilligkeit voraussetzt – dass also eine verordnete Umverteilung eben gerade nicht der Idee der Solidarität entspricht."

Diese Beispiele verdeutlichen, wie sehr die Rede von Solidarität gegenwärtig politisch aufgeladen ist. Zwei Modelle von Solidarität scheinen aufeinander zu prallen: Folgt man dem einen, werden solidarische Hilfsleistungen als Pflicht begriffen, folgt man dem anderen, wird die Freiwilligkeit dieser Leistungen betont, gleichzeitig aber werden Bedingungen spezifiziert, unter denen Solidarität überhaupt erst geleistet werden soll.

Wenn Rehn den "solidarischen Geist" beschwört, der die Mitglieder der EU vorgeblich getragen hat, als sie die Hilfen für Griechenland beschlossen, vermischen sich zwei Elemente, die für den Solidaritätsbegriff häufig einschlägig sind; zum einen appelliert Rehn an eine Art europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl, das gegenseitige Opferbereitschaften mit sich bringt; zum anderen könnte der Hinweis auf offizielle Beschlüsse eine Form von Vertragstreue einklagen, die auf der Annahme basiert, dass die EU als politisches Gesamtgebilde für alle Beteiligten Vorteile mit sich bringt, sodass Verluste und Gewinne sich entweder die Waage halten oder langfristig zur Gewinnseite tendieren. Mit Mitteln wie dem Europäischen Strukturfonds hat die EU bekanntermaßen eine Art Finanzausgleich geschaffen, als dessen "Geist" häufig das Solidaritätsprinzip bezeichnet wird, das hier eine verrechtlichte Form gewonnen hat. Der "Preis", der für die Mitgliedschaft in der EU zu entrichten ist, besteht nach diesem kollektiven, vertragsförmigen und pflichtenorientierten Modell in der Bereitschaft, Mitgliedern, die strukturell benachteiligt sind, zu helfen – und genau diesen Preis klagt Rehn vehement ein. Solidarität beruht damit in letzter Instanz auf einem vertragsförmig artikulierten Gemeinschaftsgefühl, durch das ein "Wir" spezifiziert wird, das die Basis gegenseitiger Hilfeleistungen ist. Ich nenne dieses Modell das der Solidarität als kontraktualistische Pflicht.

Das andere Modell unterscheidet sich vor allem durch zwei Elemente davon. Einerseits wird wiederholt die Freiwilligkeit der solidarischen Leistungen betont; andererseits werden diese Leistungen an Bedingungen geknüpft. So wies die damalige slowakische Ministerpräsidentin Iveta Radičová im Zusammenhang mit Rehns Kritik darauf hin, dass die Slowakei ihren eigenen Finanzhaushalt ohne Solidarleistungen konsolidieren musste. Radičová weiter: "Wie sollte ich also unseren Bürgern erklären, dass wir nun denen helfen sollen, die nicht bereit sind, selbst etwas zu tun?" Fügt man diesem Zitat noch die Ausführungen des damaligen slowakischen Finanzministers hinzu, wonach eine Solidarität der Armen mit den Reichen keine Solidarität sei, kommt allerdings die Frage auf, inwieweit wir es hier überhaupt mit einem Modell der Solidarität zu tun haben. Offenkundig geht es zunächst um die Zurückweisung von Solidaritätszumutungen. Aus dieser Zurückweisung ergibt sich aber indirekt ein positives Bild der Solidarität, das genauer auf die genannten Bedingungen eingeht. Nur die Starken können und sollen solidarisch sein; nur denjenigen Schwachen soll geholfen werden, die nicht selbst schuld sind an ihrer Notlage. Der reine Fall der Solidarität tritt folglich nur dann ein, wenn eine Partei ohne eigene Schuld in Not gerät und eine andere Partei über die Mittel verfügt, die Notlage zu lindern. Eine Pflicht zur Solidarität widerspreche der Rede von Freiwilligkeit. Ein Recht auf Solidarität scheint ebenfalls nicht gegeben zu sein. Solidarität wird zur willkürlich gewährten Wohltat. Ich nenne dieses Modell das neoliberale Solidaritätsmodell. Sein Status als Modell von Solidarität ist eher wackelig, da es sich nicht unerheblich aus der Kritik an anderen Solidaritätsmodellen speist.

Beide Modelle im Vergleich

Drei Parallelen lassen sich zwischen den Modellen identifizieren. Erstens: In beiden werden solidarische Hilfsleistungen an Bedingungen geknüpft: Während das kontraktualistische Pflichtenmodell Solidarität an zukünftige Haushaltskonsolidierungen bindet, konzentriert sich das neoliberale Modell auf vergangene Leistungsindizes und gewährt Solidarität nur dann, wenn Notlagen schuldlos erlitten wurden. In beiden Fällen handelt es sich also eindeutig um bedingte Solidarität. Im Modell Rehn verbinden die leistungspflichtigen Parteien mit ihrer solidarischen Hilfe Verhaltensauflagen, welche die Empfängerseite dazu anhalten, sich die Solidarität gewissermaßen zukünftig zu verdienen, indem strenge Austeritätsforderungen selbst gegen lokalen Widerstand durch- und umgesetzt werden. In ähnlicher Weise haben moderne Wohlfahrtsstaaten immer wieder versucht, ihre verrechtlichten sozialen Unterstützungsleistungen auf das Prinzip der Solidarität zu beziehen und gleichzeitig disziplinierende Maßnahmen mit den Solidaritätsleistungen verbunden. Im Modell Slowakei wird Solidarität nur denen gewährt, die ihre finanzpolitischen "Hausaufgaben" schon gemacht haben oder aber ohne eigenes Zutun in eine Notlage geraten. Eine Implikation dieser Position ist, dass Solidarität nur dann nötig wird (allerdings keinesfalls als Pflicht begriffen wird), wenn sich eine Partei nicht aus eigener Kraft aus ihrer unverschuldeten Not befreien kann. Unbedingten Vorrang hat die Eigenverantwortung.

Zweitens: Wie Rehns Kritik an der slowakischen Haltung verdeutlicht, spielt Freiwilligkeit durchaus eine Rolle im kontraktualistischen Modell. Explizit wird auf den Entschluss angespielt, der den Unterstützungsleistungen zugrunde liegt. Die Pflichten, die eingefordert werden, sind nicht bloß von außen auferlegt, sie entspringen einer kollektiven Vereinbarung und gewinnen nur von hier aus ihre bindende Kraft. Schließlich werden in beiden Modellen als Akteure der Solidarität Nationalstaaten benannt, sodass die Bevölkerungen dieser Nationalstaaten einer Gesamthaftung unterliegen. Der internationale Solidaritätsdiskurs tendiert zu einer "Reformulierung von Schuldenpolitik in nationalistischen Begriffen mit hohem demagogischen Potenzial". Es sieht so aus, als wären "die" Griechen, "die" Spanier oder "die" Portugiesen schuld an ihrer Misere, ohne dass es weiterer Binnendifferenzierungen bedürfte, um zu klären, wer genau von den alten finanzpolitischen Arrangements besonders profitiert hat und wer nicht.

Diese Parallelen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass gemäß dem neoliberalen Modell keine Hilfe für Griechenland gewährt werden sollte. Weil Solidarität das Vermögen eines Landes, sich selbst durch eigene Anstrengungen aus der Krise zu befreien, vorgeblich schmälert, gerät sie in den Verdacht, ein kontraproduktives Instrument internationaler Politik zu sein. Eine weitere gewichtige Differenz zwischen den Modellen bezieht sich auf den Faktor der emotionalen oder identitären Verbundenheit. Dieser Faktor ist für alle Solidaritätsmodelle maßgeblich, denn er ist es letztlich, der in der Lage ist, einen solidaritätsspezifischen Pflichtbegriff zu etablieren, der jenseits von Moral und Mildtätigkeit liegt.

Ihre wesentliche motivationale Bindungskraft gewinnt Solidarität aus geteilten Werthorizonten, die es erlauben, dass einer für den anderen in Notlagen einsteht. Im neoliberalen Solidaritätsmodell kommt dieser Faktor nicht vor, sodass auch von dieser Seite erneut der Eindruck entsteht, das Modell begreife Solidarität als bloße, willkürlich gewährte Mildtätigkeit und verletzte damit wesentliche semantische Kriterien des Solidaritätsbegriffs. Anders das kontraktualistische Modell: Es verbindet auf eigentümliche Weise eine Rhetorik gemeinsamer Werte mit Elementen eines handlungsrationalen Eigeninteresses und versucht aus beiden Quellen Solidarität als Pflicht (jenseits strenger Moralkriterien) zu etablieren. Für den Fall, dass das Kriterium des Eigeninteresses nicht ausreicht, um Solidaritätsleistungen zu gewährleisten (siehe Slowakei), wird der Verweis auf gemeinsame Werte gleichsam als Ausfallbürgschaft herangezogen, als letzter Trumpf, der an ein "Wir" appelliert, das eine kollektive Verantwortung eines jeden für jeden etablieren soll.

Wenn nun aber dieser Appell an das "Wir" "einstweilen nicht hinreichend motivationskräftig" ist, dann nimmt er leicht repressive Züge an und wird auch demokratietheoretisch dubios, weil einzelne nationale Bevölkerungen ihre Bereitschaft zur Übernahme solidarischer Pflichten nicht aus freiwilliger Zustimmung zu unterstellten Werthorizonten ableiten können. Entscheidend für meine Überlegungen ist aber, dass die Kategorie der gemeinsamen Werte oder Interessen ohnehin dazu tendiert, wichtige kategoriale Binnendifferenzierungen zu überdecken. Auf diesen Punkt ist ja schon hingewiesen worden: So wie der Begriff der Solidarität momentan im europäischen Kontext Anwendung findet, hat er in verschiedenen Hinsichten eine überinkludierende Neigung und verzichtet etwa darauf, innerhalb von nationalen Populationen mehr oder weniger verantwortliche Akteure zu unterscheiden: "Interne Klassen- und Herrschaftsverhältnisse bleiben außer Acht."

Der Schuldendiskurs wird nationalisiert mit Effekten in mindestens zwei Richtungen. Einerseits wird Verantwortung holistisch und unter Differenzierungsverzicht ganzen Nationen zugesprochen, andererseits werden faktisch längst vorhandene politische, soziale und ökonomische Interdependenzen einzelner Staaten rhetorisch ausgesetzt, als hätten die einen mit der Lage der anderen nichts zu tun. Zwar scheint das kontraktualistische Modell Platz zu haben für Anwendungen des Reziprozitätsprinzips ("Heute bin ich in der Position der Stärke, morgen aber könnte ich auf die Hilfe der anderen angewiesen sein"), aber dieses Prinzip ist nicht identisch mit einem Eingeständnis eigener Schuld oder Mitverantwortung an der Lage der anderen. Selbst gemäß neoliberaler Logik müsste ein solches Eingeständnis ohnehin eher eine moralische Verpflichtung zur Nothilfe mit sich bringen, doch von einer solchen starken Form der Verpflichtung will man am Ende nichts wissen. Sowohl das kontraktualistische als auch das neoliberale Modell, das hier ja ähnliche Tendenzen aufweist, lenken insofern von der Mittäterschaft einzelner privilegierter Akteursgruppen auf Seiten der "starken" Staaten ab und kaschieren diese Zusammenhänge gerade unter rhetorischer Zuhilfenahme des Solidaritätsprinzips.

Damit aber gewinnt das Solidaritätsprinzip eine ideologische Schlagseite. Der gegenwärtig vorherrschende politische Appell an Solidarität schlachtet die positiven normativen Konnotationen des Solidaritätsbegriff unter Berufung auf ein durch Werte integriertes "Wir" aus, ohne jedoch zuzugestehen, dass die Werte, um die es hier vorgeblich geht – sagen wir: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit – im neoliberalen Regime der vergangenen Jahrzehnte kaum hinreichend umgesetzt worden sind. Vieles deutet darauf hin, dass die im Namen von Solidarität vorangetriebene europäische Austeritätspolitik ein marktkonformes Europa schaffen soll, von dem vor allem diejenigen profitieren werden, die für die Krise von 2008 mitverantwortlich sind. Das spricht nicht gegen Solidarität, es spricht auch nicht gegen Hilfen für Griechenland oder andere Schuldenländer. Es spricht aber dafür, sich die politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen, unter denen Solidarität geleistet werden soll, noch einmal genau anzuschauen.

Das neoliberale Solidaritätsmodell, sofern es denn überhaupt eines ist, hat ja auf eigentümliche Weise Recht, wenn es auf Fragen nach der Genese der Notlage und nach den vermeintlichen Effekten der Abhilfe insistiert. Sein Fehler liegt in der Kollektivierung der beteiligten Akteure und im Übersehen realer Verflechtungen, die auch Nationen längst viel weniger "eigen" sein lassen als der Begriff "Eigenverantwortung" suggeriert. Dem kontraktualistischen Modell ist entgegenzuhalten: Wird Solidarität unter unfairen Ausgangsbedingungen eingeklagt, unter denen beispielsweise Gewinne privatisiert, Verluste aber sozialisiert werden, pervertiert sie sich geradezu in ihr Gegenteil. Anstatt nämlich als Mittel des Kampfes um Gerechtigkeit herangezogen zu werden, muss sie von denen, die zwangssolidarisiert werden, als ungerechte "Strafe" empfunden werden.

Denn das ist eine Bedeutung von Solidarität, die bislang noch gar nicht angesprochen wurde: Wo Prinzipien der Gerechtigkeit oder Fairness nicht umgesetzt sind, bedarf es laut Kurt Bayertz einer Solidarität mit den Benachteiligten, um sie entweder in den Genuss dieser Prinzipien kommen zu lassen oder aber in die Lage zu versetzen, sich eigenständig an der Formulierung dieser Prinzipien zu beteiligen. Insofern ist sie vielleicht tatsächlich "das Andere" der Gerechtigkeit. Aber nicht so sehr in dem Sinne, in dem sie immer schon als Teil der Gerechtigkeit begriffen wird, als in dem Sinne, in dem sie eine praktische Voraussetzung dafür ist, dass Gerechtigkeit überhaupt ist. Auf welcher Gemeinsamkeit beruht diese Solidarität? Vielleicht auf einer, die performativ zwar angerufen, praktisch aber erst hergestellt werden muss. Sie gewinnt damit etwas Bedingungsloses, das sie gegenwärtig nicht hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Kurt Bayertz, Begriff und Problem der Solidarität, in: ders. (Hrsg.), Solidarität, Frankfurt/M. 1998, S. 39f.

  2. Vgl. Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991, S. 70f.

  3. Vgl. ebd.

  4. Vgl. Andreas Wildt, Solidarität als Strukturbegriff politisch-sozialer Gerechtigkeit, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, 48 (2007), S. 46.

  5. Vgl. Hauke Brunkhorst, Solidarität unter Fremden, Frankfurt/M. 1997.

  6. Vgl. Thomas Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, Berlin–New York 2011.

  7. Vgl. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit, Frankfurt/M. 2013, S. 138.

  8. Vgl. Raymond Geuss, Was ist ein politisches Urteil?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 55 (2007), S. 345–359.

  9. Zit. nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 12.8.2010.

  10. Zit. nach: ebd.

  11. FAZ vom 11.6.2013.

  12. Vgl. Christian Calliess, Das europäische Solidaritätsprinzip und die Krise des Euro, in: Berliner Online-Beiträge zum Europarecht, 1 (2011), S. 1–63.

  13. Zit. nach: FAZ (Anm. 9).

  14. Bayertz (Anm. 1, S. 38) weist darauf hin, dass der Solidaritätsbegriff im einflussreichen französischen Kontext "ausdrücklich als Gegenbegriff zu ‚Barmherzigkeit‘ und ‚Mildtätigkeit‘" eingeführt wurde.

  15. Vgl. Claus Offe, Pflichten versus Kosten: Typen und Kontexte der Solidarität, in: Jens Beckert et al. (Hrsg.), Transnationale Solidarität, Frankfurt/M. 2004, S. 42f.

  16. W. Streeck (Anm. 7), S. 133f.

  17. Vgl. C. Calliess (Anm. 12), S. 17f.

  18. C. Offe (Anm. 15), S. 49.

  19. W. Streeck (Anm. 7), S. 134.

  20. Vgl. Lutz Wingert, Die marktkonforme Demokratie, in: Mittelweg 36, (2013) 1, S. 53–67.

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Dr. phil., geb. 1968; Professor am Philosophischen Seminar der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, Universität Luzern, Frohburgstrasse 3, Postfach 44 66, CH-6002 Luzern/Schweiz. E-Mail Link: martin.hartmann@unilu.ch