In den sozialphilosophischen und politiktheoretischen Ansätzen der jüngeren Gegenwart spielt der Solidaritätsbegriff keine größere Rolle. Das liegt vor allem daran, dass in der Regel der Gerechtigkeits- und der (Menschen-)Rechtsbegriff dominieren, wenn es darum geht, Fragen nach der normativen Qualität sozialer, politischer und ökonomischer Lebenszusammenhänge zu beantworten. Wo von Gerechtigkeit die Rede ist, da geht es oftmals um moralische Prinzipien, Ansprüche, Rechte und Pflichten, die umzusetzen sind. Ähnliches gilt für die Menschenrechte, die eingeklagt werden können oder gewährleistet werden müssen. Die Dominanz der Rechtskategorie und des Gerechtigkeitsbegriffs lassen den Begriff der Solidarität verblassen, sodass sein Ort im Kontext der Sozialphilosophie und der Politischen Theorie undeutlich geworden ist. Das, wofür sie steht, die freiwillige (nicht zwangsläufig verpflichtende) Bereitschaft, anderen, denen man sich verbunden fühlt und die in Not geraten sind, zu helfen (ohne dass sie ein Recht auf Hilfe hätten), kommt empirisch zwar nach wie vor oft vor und wird entsprechend benannt, aber dieser empirische Gebrauch des Solidaritätsbegriffs bleibt theoretisch gewissermaßen sprachlos.
Dort, wo der Solidaritätsbegriff theoretisch noch reflektiert wird, nimmt er in der Regel einen eher residualen Charakter an und wird oft sogleich problematisiert. Das Versprechen des modernen Wohlfahrtsstaates etwa, materiale Ungleichheiten auszugleichen, um hinreichende Chancengleichheit herzustellen, wird zwar als praktisch-politische Verwirklichung solidarischer Umverteilungsprinzipien gedeutet, aber im gleichen Atemzug artikulieren sich oft genug Zweifel daran, ob man hier überhaupt noch von Solidarität sprechen soll. Zum einen nämlich verpflichtet sich der moderne Sozialstaat in gewisser Weise zu dieser Umverteilung, zum anderen spielen Gefühle wechselseitiger Verbundenheit, die doch in den Augen vieler Kommentatoren zentral für Solidarität sind, unter den anonymisierten Transfersystemen moderner Staaten keine Rolle mehr. Kurt Bayertz folgert bündig: "Ein Rekurs auf den Solidaritätsbegriff ist daher zur Legitimation des Sozialstaates überhaupt nicht erforderlich."
Andererseits nannte Jürgen Habermas Solidarität das "Andere der Gerechtigkeit".
Dieser Problemaufriss würde also bestätigen, dass Haltungen, Einstellungen und Gefühle der Solidarität in der gegenwärtigen Sozialphilosophie und Politischen Theorie, von wenigen Ausnahmen abgesehen,
Andererseits ist in gegenwärtigen politischen Diskussionen durchaus häufig von Solidarität die Rede. Wir seien "solidarisch" mit Flutopfern oder mit der Not hungernder Kinder, wir fragen uns, ob wir im Zuge der europäischen Schuldenkrise mit Griechenland "solidarisch" sein sollen. Wie passt diese Art zu reden zum Schweigen der Philosophie? Verkennen wir als Nichtphilosophen oder als Politiker, was wir tun, wenn wir unser Tun als solidarisch bezeichnen, weil wir in Wirklichkeit nur tun, wozu wir moralisch verpflichtet sind? Verdeckt am Ende die Rede von Solidarität moralische Pflichten, die wir haben, aber nicht erkennen? Gibt es Formen oder Formeln der Solidarität, die wir problematisieren sollten, weil sie Zusammenhänge vertuschen oder Differenzierungen ausblenden, die politisch wichtig sind? Wolfgang Streeck etwa hat unlängst die Wendung von der "Solidarität-als-Strafe" geprägt, um auf erzwungene Unterstützungsleistungen im Kontext der Eurokrise hinzuweisen.
Die Philosophie kann zweifellos nicht so tun, als gäbe es die eine, richtige Definition des Begriffs. Besonders politische Begriffe und Wörter sind Teil einer realen Sprachpraxis, in der es um Macht und Einflussnahme, um Definitionshoheit und den Kampf um Deutungsmonopole geht. Von wem und in welchem Kontext ein Begriff geäußert wird, entscheidet also darüber, was gemeint sein kann und was nicht, was getan werden kann und was nicht.
Solidarität und die Eurokrise
Als sich das slowakische Parlament im Sommer 2010 weigerte, an den Hilfskrediten der Euro-Staaten für Griechenland teilzunehmen, reagierte EU-Währungskommissar Olli Rehn ungewohnt scharf. Das slowakische Votum "widerspreche dem solidarischen Geist, mit dem sich alle Euro-Staaten – auch die Slowakei – im Mai zu den Hilfen für Athen entschlossen hätten".
Was sich hier abzeichnet, ist ein Konflikt der Solidaritätsverständnisse, der die Entscheidungen der EU zum Umgang mit der Eurokrise bis heute mal mehr, mal weniger deutlich durchzieht. Als unlängst das Bundesverfassungsgericht finanzpolitische Entscheidungen der Europäischen Zentralbank (EZB) verhandelte, hat sich in der Berichterstattung der Konflikt zwischen den Befürwortern von Staatsanleihekäufen durch die EZB und den Gegnern einer solchen Finanzpolitik ebenfalls als ein Konflikt um Solidaritätsverständnisse dargestellt. Während die einen davon ausgehen, dass die starken Glieder einer Gemeinschaft die schwachen Glieder unterstützen müssen, weil sie ihre Position der Stärke in vielen Fällen nur mithilfe der anderen erreichen können, setzen die anderen stärker auf die Eigenverantwortung der Schuldenstaaten. Eine "verordnete Umverteilung" entspreche nicht der Idee der Solidarität: "Hinter all dem Streit der Juristen und Ökonomen steht am Ende die eine große Frage: Wie viel Solidarität wollen die Staaten Europas untereinander üben? Haften alle für alle – oder jeder für sich? Jene, die für Haftungsübernahme plädieren, führen an, dass Deutschland schließlich vom Euro profitiert habe. Meint Solidarität nicht, dass man ein wenig von diesem Vorteil an die Partner zurückgibt? Dass der Starke für den Schwachen einsteht? (…) Die anderen sagen, dass Solidarität Freiwilligkeit voraussetzt – dass also eine verordnete Umverteilung eben gerade nicht der Idee der Solidarität entspricht."
Diese Beispiele verdeutlichen, wie sehr die Rede von Solidarität gegenwärtig politisch aufgeladen ist. Zwei Modelle von Solidarität scheinen aufeinander zu prallen: Folgt man dem einen, werden solidarische Hilfsleistungen als Pflicht begriffen, folgt man dem anderen, wird die Freiwilligkeit dieser Leistungen betont, gleichzeitig aber werden Bedingungen spezifiziert, unter denen Solidarität überhaupt erst geleistet werden soll.
Wenn Rehn den "solidarischen Geist" beschwört, der die Mitglieder der EU vorgeblich getragen hat, als sie die Hilfen für Griechenland beschlossen, vermischen sich zwei Elemente, die für den Solidaritätsbegriff häufig einschlägig sind; zum einen appelliert Rehn an eine Art europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl, das gegenseitige Opferbereitschaften mit sich bringt; zum anderen könnte der Hinweis auf offizielle Beschlüsse eine Form von Vertragstreue einklagen, die auf der Annahme basiert, dass die EU als politisches Gesamtgebilde für alle Beteiligten Vorteile mit sich bringt, sodass Verluste und Gewinne sich entweder die Waage halten oder langfristig zur Gewinnseite tendieren. Mit Mitteln wie dem Europäischen Strukturfonds hat die EU bekanntermaßen eine Art Finanzausgleich geschaffen, als dessen "Geist" häufig das Solidaritätsprinzip bezeichnet wird, das hier eine verrechtlichte Form gewonnen hat.
Das andere Modell unterscheidet sich vor allem durch zwei Elemente davon. Einerseits wird wiederholt die Freiwilligkeit der solidarischen Leistungen betont; andererseits werden diese Leistungen an Bedingungen geknüpft. So wies die damalige slowakische Ministerpräsidentin Iveta Radičová im Zusammenhang mit Rehns Kritik darauf hin, dass die Slowakei ihren eigenen Finanzhaushalt ohne Solidarleistungen konsolidieren musste. Radičová weiter: "Wie sollte ich also unseren Bürgern erklären, dass wir nun denen helfen sollen, die nicht bereit sind, selbst etwas zu tun?"
Beide Modelle im Vergleich
Drei Parallelen lassen sich zwischen den Modellen identifizieren. Erstens: In beiden werden solidarische Hilfsleistungen an Bedingungen geknüpft: Während das kontraktualistische Pflichtenmodell Solidarität an zukünftige Haushaltskonsolidierungen bindet, konzentriert sich das neoliberale Modell auf vergangene Leistungsindizes und gewährt Solidarität nur dann, wenn Notlagen schuldlos erlitten wurden. In beiden Fällen handelt es sich also eindeutig um bedingte Solidarität. Im Modell Rehn verbinden die leistungspflichtigen Parteien mit ihrer solidarischen Hilfe Verhaltensauflagen, welche die Empfängerseite dazu anhalten, sich die Solidarität gewissermaßen zukünftig zu verdienen, indem strenge Austeritätsforderungen selbst gegen lokalen Widerstand durch- und umgesetzt werden.
Zweitens: Wie Rehns Kritik an der slowakischen Haltung verdeutlicht, spielt Freiwilligkeit durchaus eine Rolle im kontraktualistischen Modell. Explizit wird auf den Entschluss angespielt, der den Unterstützungsleistungen zugrunde liegt. Die Pflichten, die eingefordert werden, sind nicht bloß von außen auferlegt, sie entspringen einer kollektiven Vereinbarung und gewinnen nur von hier aus ihre bindende Kraft. Schließlich werden in beiden Modellen als Akteure der Solidarität Nationalstaaten benannt, sodass die Bevölkerungen dieser Nationalstaaten einer Gesamthaftung unterliegen. Der internationale Solidaritätsdiskurs tendiert zu einer "Reformulierung von Schuldenpolitik in nationalistischen Begriffen mit hohem demagogischen Potenzial".
Diese Parallelen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass gemäß dem neoliberalen Modell keine Hilfe für Griechenland gewährt werden sollte. Weil Solidarität das Vermögen eines Landes, sich selbst durch eigene Anstrengungen aus der Krise zu befreien, vorgeblich schmälert, gerät sie in den Verdacht, ein kontraproduktives Instrument internationaler Politik zu sein. Eine weitere gewichtige Differenz zwischen den Modellen bezieht sich auf den Faktor der emotionalen oder identitären Verbundenheit. Dieser Faktor ist für alle Solidaritätsmodelle maßgeblich, denn er ist es letztlich, der in der Lage ist, einen solidaritätsspezifischen Pflichtbegriff zu etablieren, der jenseits von Moral und Mildtätigkeit liegt.
Ihre wesentliche motivationale Bindungskraft gewinnt Solidarität aus geteilten Werthorizonten, die es erlauben, dass einer für den anderen in Notlagen einsteht. Im neoliberalen Solidaritätsmodell kommt dieser Faktor nicht vor, sodass auch von dieser Seite erneut der Eindruck entsteht, das Modell begreife Solidarität als bloße, willkürlich gewährte Mildtätigkeit und verletzte damit wesentliche semantische Kriterien des Solidaritätsbegriffs. Anders das kontraktualistische Modell: Es verbindet auf eigentümliche Weise eine Rhetorik gemeinsamer Werte mit Elementen eines handlungsrationalen Eigeninteresses und versucht aus beiden Quellen Solidarität als Pflicht (jenseits strenger Moralkriterien) zu etablieren. Für den Fall, dass das Kriterium des Eigeninteresses nicht ausreicht, um Solidaritätsleistungen zu gewährleisten (siehe Slowakei), wird der Verweis auf gemeinsame Werte gleichsam als Ausfallbürgschaft herangezogen, als letzter Trumpf, der an ein "Wir" appelliert, das eine kollektive Verantwortung eines jeden für jeden etablieren soll.
Wenn nun aber dieser Appell an das "Wir" "einstweilen nicht hinreichend motivationskräftig"
Der Schuldendiskurs wird nationalisiert mit Effekten in mindestens zwei Richtungen. Einerseits wird Verantwortung holistisch und unter Differenzierungsverzicht ganzen Nationen zugesprochen, andererseits werden faktisch längst vorhandene politische, soziale und ökonomische Interdependenzen einzelner Staaten rhetorisch ausgesetzt, als hätten die einen mit der Lage der anderen nichts zu tun. Zwar scheint das kontraktualistische Modell Platz zu haben für Anwendungen des Reziprozitätsprinzips ("Heute bin ich in der Position der Stärke, morgen aber könnte ich auf die Hilfe der anderen angewiesen sein"), aber dieses Prinzip ist nicht identisch mit einem Eingeständnis eigener Schuld oder Mitverantwortung an der Lage der anderen. Selbst gemäß neoliberaler Logik müsste ein solches Eingeständnis ohnehin eher eine moralische Verpflichtung zur Nothilfe mit sich bringen, doch von einer solchen starken Form der Verpflichtung will man am Ende nichts wissen. Sowohl das kontraktualistische als auch das neoliberale Modell, das hier ja ähnliche Tendenzen aufweist, lenken insofern von der Mittäterschaft einzelner privilegierter Akteursgruppen auf Seiten der "starken" Staaten ab und kaschieren diese Zusammenhänge gerade unter rhetorischer Zuhilfenahme des Solidaritätsprinzips.
Damit aber gewinnt das Solidaritätsprinzip eine ideologische Schlagseite. Der gegenwärtig vorherrschende politische Appell an Solidarität schlachtet die positiven normativen Konnotationen des Solidaritätsbegriff unter Berufung auf ein durch Werte integriertes "Wir" aus, ohne jedoch zuzugestehen, dass die Werte, um die es hier vorgeblich geht – sagen wir: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit – im neoliberalen Regime der vergangenen Jahrzehnte kaum hinreichend umgesetzt worden sind. Vieles deutet darauf hin, dass die im Namen von Solidarität vorangetriebene europäische Austeritätspolitik ein marktkonformes
Das neoliberale Solidaritätsmodell, sofern es denn überhaupt eines ist, hat ja auf eigentümliche Weise Recht, wenn es auf Fragen nach der Genese der Notlage und nach den vermeintlichen Effekten der Abhilfe insistiert. Sein Fehler liegt in der Kollektivierung der beteiligten Akteure und im Übersehen realer Verflechtungen, die auch Nationen längst viel weniger "eigen" sein lassen als der Begriff "Eigenverantwortung" suggeriert. Dem kontraktualistischen Modell ist entgegenzuhalten: Wird Solidarität unter unfairen Ausgangsbedingungen eingeklagt, unter denen beispielsweise Gewinne privatisiert, Verluste aber sozialisiert werden, pervertiert sie sich geradezu in ihr Gegenteil. Anstatt nämlich als Mittel des Kampfes um Gerechtigkeit herangezogen zu werden, muss sie von denen, die zwangssolidarisiert werden, als ungerechte "Strafe" empfunden werden.
Denn das ist eine Bedeutung von Solidarität, die bislang noch gar nicht angesprochen wurde: Wo Prinzipien der Gerechtigkeit oder Fairness nicht umgesetzt sind, bedarf es laut Kurt Bayertz einer Solidarität mit den Benachteiligten, um sie entweder in den Genuss dieser Prinzipien kommen zu lassen oder aber in die Lage zu versetzen, sich eigenständig an der Formulierung dieser Prinzipien zu beteiligen. Insofern ist sie vielleicht tatsächlich "das Andere" der Gerechtigkeit. Aber nicht so sehr in dem Sinne, in dem sie immer schon als Teil der Gerechtigkeit begriffen wird, als in dem Sinne, in dem sie eine praktische Voraussetzung dafür ist, dass Gerechtigkeit überhaupt ist. Auf welcher Gemeinsamkeit beruht diese Solidarität? Vielleicht auf einer, die performativ zwar angerufen, praktisch aber erst hergestellt werden muss. Sie gewinnt damit etwas Bedingungsloses, das sie gegenwärtig nicht hat.