Gerechtigkeit – Nur wenige Begriffe entwickeln eine solche Verheißungskraft bei den Bürgerinnen und Bürgern, sind als programmatische Monstranz oder polemischer Vorwurf politisch so wirkmächtig und damit auch gefährlich – und sind doch bei Lichte betrachtet zugleich so schwer zu fassen, so unklar in ihrer Aussagekraft. Man muss nicht die "berühmte" Herabwürdigung des Begriffs der "sozialen Gerechtigkeit" durch Friedrich August von Hayek als "Wieselwort" heranziehen, um eine merkwürdige Mischung aus Wohlempfinden und Abscheu bei diesem Begriff zu empfinden.
Warum ist zudem der Wert der Gerechtigkeit ein scheinbar lohnendes Thema für die Wahlplakate in einer Zeit, in der es Deutschland nach wie vor – gegen den europäischen Trend – wirtschaftlich vergleichsweise gut geht? Umfragen zeigen, dass bei vielen Menschen die Unsicherheit über die Zukunft trotz Zufriedenheit über die konjunkturelle Situation wächst. Renate Köcher hat das den "entspannten Fatalismus" genannt.
Stabile Ambivalenz ist zugleich das richtige Stichwort, wenn es um die Einschätzungen in Sachen Gerechtigkeit geht: Während mehr als zwei Drittel der Deutschen der Auffassung ist, dass die soziale Gerechtigkeit eher abgenommen hat, beurteilen die gleichen Menschen Deutschland im internationalen Vergleich als sehr gerechtes Land.
Der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger hat den Begriff des "Verfassungspatriotismus" geprägt.
Politische Steuerung, das hat übrigens alle Bundesregierungen vereint, folgte über Jahrzehnte dem Muster, mehr oder weniger konsequent auf die Zuwendung finanzieller Mittel zu setzen. Schon im Laufe der 1990er Jahre hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Verteilung sozialstaatlicher Wohltaten eine hemmende Wirkung hat, die den notwendigen Wettbewerb zurückdrängt. Die Tatsache, dass in den späten 1960er und 1970er Jahren der Begriff der sozialen Gerechtigkeit vor allem als Umverteilung von Vermögen und Einkommen begriffen wurde, hatte Auswirkungen, die sich nicht zuletzt auf dem deutschen Arbeitsmarkt niederschlugen und seine Dynamik und Aufnahmefähigkeit in den Jahren nach der Wiedervereinigung bremsten.
Die notwendigen Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur nach der deutschen Wiedervereinigung sowie die ansteigende Arbeitslosigkeit belastete in den 1990er Jahren die öffentlichen Haushalte derartig, dass kaum noch finanzielle Spielräume für sozialstaatliche Segnungen blieben. Der Sozialstaat deutscher Prägung sei kein Modell mehr, schrieb 1998 der "Spiegel", er sei zum Monstrum geworden, das an seiner eigenen Größe zu ersticken drohe.
Mit der Finanzkrise seit 2008 veränderte sich der Blick auf die Gerechtigkeit noch einmal deutlich. Die "schwäbische Hausfrau" scheint kein Mythos zu sein. Offensichtlich besitzen die Bürgerinnen und Bürger inzwischen so etwas wie einen ordnungspolitischen Instinkt, wie die geradezu aufregenden Befunde einer Studie aus dem Jahr 2012 andeuten:
Dieses ordnungspolitische Bewusstsein wirkt sich auch auf die Einschätzung der verschiedenen Ausprägungen der Gerechtigkeit aus: "Die große Mehrheit der Bürger hat einen umfassenden, anspruchsvollen Gerechtigkeitsbegriff, der Chancen- und Leistungsgerechtigkeit genauso umfasst, wie Familien- und Generationengerechtigkeit sowie Verteilungsgerechtigkeit."
Der Gerechtigkeitsbegriff, vor allem aber die ordnungspolitischen Einschätzungen müssten die Menschen eigentlich in erster Linie mit der Christdemokratie verbinden, die in ihrer Programmatik an vielen Stellen diesem Bild entspricht. Warum aber ist das augenscheinlich nicht der Fall? Zunächst steht auch für die CDU fest: Mit der sozialen Gerechtigkeit werden Wahlen gewonnen und Wahlen verloren. Keine Partei kann es sich leisten, diesen Begriff – im wahrsten Sinne des Wortes – links liegen zu lassen und nicht wenigstens an einer Stelle des eigenen Programms anzusprechen. Und doch gehen die Parteien sehr unterschiedlich mit ihm um. Sie tun dies in dem Wissen, dass die Wählerinnen und Wähler die Kompetenzzuweisungen an die Parteien beinahe schon traditionsbewusst – und nicht immer mit den Inhalten verbunden – vornehmen.
Gerade weil die Kenntnisse über Politik deutlich zurückgehen und viele Menschen der Politik distanziert gegenüberstehen, nehmen die relativ fest gefügten Images eine wichtige Rolle ein. So wie bei einem Menschen, den man aus weiter Ferne betrachtet, weniger die Details des Gesichts, sondern eben die äußeren Formen erkennbar sind, überhöhen diese Images einzelne Merkmale. Soziale Gerechtigkeit wird, mit Ausnahme der CSU in Bayern, als Kompetenz immer bei der SPD verortet. Es kann bei Wahlen als ehernes Gesetz betrachtet werden: Wenn die CDU bei einer Landtagswahl bei der Kompetenz der sozialen Gerechtigkeit vergleichsweise gut abschneidet, aber Schwächen bei der Wirtschaftskompetenz zeigt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Wahl verloren geht, recht hoch. Bei der SPD ist es exakt umgekehrt.
Die unbeirrte Zuweisung des "Gerechtigkeitsimages" an die SPD treibt dabei gelegentlich interessante Blüten: Die Leistungsgerechtigkeit, die nicht gerade im Zentrum der sozialdemokratischen Programmatik steht und im aktuellen Regierungsprogramm der CDU neben der "Generationengerechtigkeit" als einzige Teilgerechtigkeit einen prominenten Platz einnimmt, wird von den Bürgerinnen und Bürgern mit deutlicher Mehrheit der SPD zugewiesen, wie eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung zeigt.
Der politische Umgang mit der Gerechtigkeit wird noch dadurch erschwert, dass dieses Thema stark in der Gefahr steht, bei Meinungsumfragen verzerrt dargestellt zu werden. Denn es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen der allgemeinen Frage nach Gerechtigkeit, bei der sozial erwünschte Antworten zu Buche schlagen können oder die persönliche Betroffenheit ausgeblendet wird, und der Frage nach der persönlichen Situation, bei der die Menschen direkt betroffen sind. Ein Beispiel dafür ist die Frage nach dem Spitzensteuersatz, welche die Meinungsforschungsinstitute TNS Emnid im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und TNS Infratest kürzlich gestellt haben.
Diese Tatsache ist für die Beurteilung wichtig, ob es tatsächlich die vielfach in den Medien und der Politik deklamierte "Gerechtigkeitslücke" gibt. Staat und Politik tun gut daran, in Bezug auf die Gerechtigkeit nicht aufstachelnd, sondern moderierend zu wirken. Denn je moralischer die Interpretation des Begriffs der Gerechtigkeit unterlegt ist, desto größer ist die Gefahr, dass in einem schleichenden Prozess jede Form der Verschiedenheit zunehmend als Ungerechtigkeit interpretiert wird.
Verteilungsgerechtigkeit darf die Leistungsgerechtigkeit nicht überragen, denn in einem freiheitlichen Staatswesen darf nicht verlernt werden, Ungleichheit als einen Ansporn zu bewerten, um mit mehr Leistung aufzusteigen und ein höheres Niveau von Bildung, Einkommen zu erreichen. Wenn das Gefühl besteht, dass sich Anstrengung nicht lohnt, wächst die Gefahr, dass der Wille zur Freiheit erlahmt. Verantwortliche und verantwortete Freiheit und Gerechtigkeit müssen von Politik und Gesellschaft gemeinsam immer wieder in eine Balance gebracht werden. Dabei hilft, dass Leistung für die Menschen wieder zu einer Kategorie wird. "Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen als derjenige, der weniger leistet", sagen 77 Prozent der Deutschen.
Zweifelhafte "Armutsdefinitionen" und Studien, die ein vermeintliches Schrumpfen der Mittelschicht als Gewissheit verkaufen, aber an deren Indikatoren und Methodik Zweifel angebracht sind, schüren allerdings den politischen Vorwurf einer Gerechtigkeitslücke und widersprechen der Tatsache, dass eine Verschlechterung der Einkommens- und Vermögensverteilung gegenwärtig ebenso wenig zu beobachten ist wie das angebliche Massenphänomen der Armut.
Wenn die Bürgerinnen und Bürger die Chancengerechtigkeit als wichtigste Dimension einstufen, dann richtet sich der Blick besonders auf die Lebensperspektiven von Kindern und Jugendlichen. Hier besteht in Sachen "Gerechtigkeit" vielleicht der höchste und politisch vordringlichste Handlungsbedarf.
Man mag die Methodik der OECD kritisch sehen, aber es muss ernst genommen werden, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus sozial schwächerem Umfeld durch Bildung am gesellschaftlichen Wohlstand teilnehmen können, in Deutschland deutlich geringer ausgeprägt ist als in anderen OECD-Staaten. Eine Schlüsselstellung kommt der frühkindlichen Bildung zu, die weit überwiegend – und durchaus mit Hingabe – in den Elternhäusern geleistet wird, aber dazu führt, dass die Kinder mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schullaufbahn eintreten. Übertriebenen Leistungsdruck will niemand rechtfertigen, aber wer die Bemühungen um einen international wettbewerbsfähigen Bildungsstandard als "Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse" diskreditiert, der verkennt, dass die Voraussetzung für eine eigenverantwortliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben immer und vor allem gute Bildung ist.
Kardinal Reinhard Marx, der "Sozialbischof", bringt es auf den Punkt und betont, dass die ganze Gerechtigkeitsdiskussion fehlgeht, wenn sie nicht die Chancen der Jüngsten in unserer Gesellschaft beherzt in den Blick nimmt: "Die Kinder (…) sind die Achillesferse unserer Gesellschaft. Wenn wir ihnen keine lebenswerte Zukunft zugestehen und ermöglichen, ist auch unser Leben gefährdet. Dann aber werden wir uns selbst als freie Menschen nicht gerecht und geben das Streben nach Gerechtigkeit auf. Eine Gesellschaft kann nicht lebensfähig sein ohne Freiheit und Gerechtigkeit."