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Zwergschulen und Energiebürger

Jasper von Altenbockum

/ 8 Minuten zu lesen

Auf der Suche nach den Gründen, die unsere Freiheit immer mehr einschränken, stoßen die Hüter des reinen Liberalismus gerne auf die Abgaben- und Steuerlast, auf den Sozialstaat oder noch einfacher: auf den Staat an sich, auf die Fesseln des Marktes. Vor zehn Jahren gehörte die Kritik an diesem Bündel freiheitshemmender Faktoren fast schon zum Common Sense; es war die Zeit, als sich nicht einmal die Grünen und die SPD dem marktliberalen Gedankengut entziehen konnten, eine Zeit, als die FDP von einer Zukunft als Volkspartei träumte ("Projekt 18") und die CDU sich auf eine Bierdeckel-Steuer eingeschworen hatte. Sie alle wurden von der Wirklichkeit der "Agenda 2010" eingeholt, die SPD ungleich härter als all jene Parteien, die ihr noch wesentlich radikalere Reformen abverlangt hatten. Schon eine Reform, die aus marktwirtschaftlicher Sicht als Reförmchen kritisiert wurde, hatte die SPD an den Rand des Abgrunds gebracht, links von ihr eine neue Partei entstehen lassen und das Schicksal eines "Basta"-Kanzlers besiegelt.

Zwei Wahlperioden später sind die Parteien sichtlich froh, nicht noch mehr für die Freiheit tun zu müssen. Allenthalben ist von "Auswüchsen" und "Entfesselung" die Rede – auf dem Arbeitsmarkt, auf den Finanzmärkten, neuerdings auch auf den Internetmärkten. Es geht wieder mehr um die Gleichheit – von Arm und Reich, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Ehe, beim Arzt und vor dem Recht. Auch jetzt ist es wie vor zehn Jahren: Keine der Parteien kann sich diesem Pendelschlag in die andere Richtung entziehen, nicht einmal die FDP, die tapfer ihrer Staatsskepsis und ihrem individualistischen Credo gehorcht, sich aber dennoch den "sozialdemokratischen" Themen nicht entziehen kann, die auch CDU und CSU gerne für sich vereinnahmen.

Den Umschwung kann man als Ausdruck jenes unersättlichen Verlangens nach Gleichheit begreifen, das Demokratien innewohnt, zumal dann, wenn sie nach dem Modell des auf Konsens getrimmten Sozialstaats geformt sind. In diesem egalitären Zug der Zeit wirkt die Freiheit nicht wie ein Wert an sich, sondern wie eines von vielen Werkzeugen, das nützlich ist, wenn es zur Reparatur gebraucht wird, aber unnütz herumliegt, wenn der Laden läuft.

Doch sind die letzten Gründe für die Gefährdung der Freiheit wirklich jene Gründe, die staatskritische liberale Denker gerne vorbringen? Waren die Reformen, die im Zeichen von Deregulierung, Privatisierung, Aktivierung und Flexibilisierung betrieben wurden, wirklich immer im Sinne der Freiheit des Einzelnen oder aller? Und sind die Korrekturen, die vorgenommen wurden und noch kommen sollen, wiederum eine neue, rückschrittliche Einschränkung der Freiheit?

Beides darf in Zweifel gezogen werden, wenn man in Rechnung stellt, dass staatlicher Einfluss die individuelle Freiheit zwar einschränken kann im Namen der Gleichheit und des "Zusammenhalts" der Gesellschaft, dass der Staat diese Freiheit aber genauso gut gewährleistet im Namen der Gleichheit – der Gleichheit des Rechts, der Chancen, der Risiken, der Sicherheit. Beides wird im Laufe der Zeit immer wieder korrigiert werden müssen zum Vorteil des einen oder anderen.

Die wirkliche Herausforderung der Freiheit, das offenbart der (ansonsten recht unauffällige) Wahlkampf von 2013 wesentlich deutlicher als die Wahlkämpfe von 2002, 2005 oder 2009, liegt tiefer als nur im allenfalls literarisch anspruchsvollen Lamento über die "Knebel des Sozialstaats" auf der einen oder über die "marktkonforme Demokratie" auf der anderen Seite. Die wirkliche Herausforderung ist der Widerstreit zwischen Dezentralisierung und Zentralisierung, zwischen Rückkehr in die Provinz und beschleunigter Globalisierung, zwischen Überschaubarkeit und anonymer Macht.

Rolle des demografischen Wandels

Die Demografie spielt dabei eine Schlüsselrolle. Es gibt kaum ein politisches Thema, das nicht auf die "demografische Krise" zurückzuführen wäre oder zumindest auf einer ihrer Schockwellen beruhte. Selbst die "Agenda 2010" war nicht ein Programm allein zur Renaissance der Eigenverantwortung oder zur Entlastung der Sozialkassen – bei sinkender Geburtenrate, alternder Gesellschaft und absehbarer Unterversorgung des Arbeitsmarkts kann es sich der Staat nicht leisten, sich mit einem Heer von Langzeitarbeitslosen einzurichten. Unter dem Stichwort Fachkräftemangel konkurrieren sie mittlerweile mit eingewanderten Qualifizierten, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt durch die "Blue Card" erleichtert wird.

Auch die wenig später etablierte "Schuldenbremse" – so unrealistisch ihre Einhaltung vielleicht auch sein mag – hat ihre starke demografische Schlagseite. Die Schulden der geburtenstarken Jahrgänge lassen sich nicht ohne Legitimationsprobleme einfach auf die geburtenschwachen Jahrgänge abladen. Die werden ohnehin genug Probleme haben, die Sozialkassen zu finanzieren – siehe "Rente mit 67", siehe Pflegereformen, siehe Gesundheitsreformen.

Doch die Herausforderung besteht nicht nur in der demografisch durcheinander gewirbelten Sozialverfassung, deren Einzelteile die Wahlprogramme durchziehen (Bildung, Schule, Familie, Beruf, Kinderbetreuung, Wohnen, Infrastruktur bis hin zum Breitband-Zugang). Sie besteht in zwei diametral entgegengesetzten Bewegungen. Da ist zum einen der Drang zur Dezentralisierung, der aber politisch nur sehr selektiv gefördert wird. Und da ist zum anderen der Hang zur Zentralisierung, der ähnlich der Gleichheit im modernen Verwaltungsstaat eine Art gesetzmäßige Sogwirkung auszuüben scheint.

Jene Bewegung, die auf europäischer Ebene gerne auch unter dem Schlagwort "Subsidiarität" gehegt und gepflegt, aber selten praktiziert wird, entspricht der Freiheitsliebe. Denn Dezentralisierung bedeutet Rückverlagerung von Verantwortung, Selbstverwaltung und im Idealfall bürgerschaftliche Eigenregie, mithin also eine Stärkung der Freiheit der "Zivilgesellschaft" dort, wo sie sich selbst und ohne Eingriffe des Staates regulieren kann oder muss. Die andere Bewegung hingegen, die zunehmende Stärkung der "Zentrale", auf welcher Verwaltungsebene auch immer, entspricht der Egalisierung regionaler oder vertikaler Ordnungen, und nirgends wird die freiheitsberaubende Kraft durch Nivellierung partikularer Verbindungen oder Institutionen deutlicher wie hier.

Dezentralisierung und zentralistische Gegentendenz

Zur Bewältigung der "demografischen Krise", zur Rettung dünn besiedelter Ortschaften, zur Widerbelebung des "ländlichen Raums" und zur Aktivierung des Bürgers wird immer wieder die Kraft der Dezentralisierung beschworen. Das leuchtet sofort ein: Nur wo die Bürger in ihrem Ort selbst bestimmen und verwalten können, werden sie Verantwortung übernehmen wollen (oder müssen), um ihren Ort zu erhalten. Stichworte dafür sind: Zwergschulen, Tante-Emma-Läden, Nahverkehr, Landärzte, lokale Stromerzeugung, schnelles Internet. Als eine letzte Keimzelle solcher Mikrostrukturen gilt das Vereinsleben, das zuallerletzt stirbt.

Doch zu nahezu jedem dieser Stichworte lässt sich schon längst eine zentralistische Gegentendenz feststellen. Besonders deutlich ist das in der Schulpolitik, die zwar alle Parteien unter den Schutz der "Bildungsrepublik" stellen, die aber in den dafür zuständigen Ländern, Kreisen und Kommunen eindeutig Konzentrationsbemühungen unterworfen wird. Zwergschulen werden nicht etwa eröffnet, sondern systematisch geschlossen – nicht etwa trotz, sondern wegen der demografischen Entwicklung. So können Kosten gespart werden. Schulen werden deshalb zusammengelegt und lange Anfahrtswege der Schüler in Kauf genommen.

Die Schulen sind nur ein Abbild der Verwaltungsorganisation, ein Thema, das die Öffentlichkeit (sprich: die Journalisten) nur wenig interessiert, das aber Wirkungen hat bis hinein in die Ortsverbände der Parteien, die Ortsbeiräte, die Gemeinderäte und die Selbstverwaltung der Kommunen. Denn es spielt sich in Gegenden sinkender Bevölkerungszahlen eine ähnliche Konzentration ab wie durch die westdeutsche Gebietsreform in den 1970er Jahren.

In Mecklenburg-Vorpommern entstand durch die Zusammenlegung mehrerer Kreise ein Landkreis, der größer ist als das Saarland. Allerdings hat der Landrat dort nicht annährend so viel Gestaltungsfreiheit (und Kapazitäten) wie die Ministerpräsidentin des Saarlands – und schon sie dürfte über mangelnde Möglichkeiten klagen, das Land wirklich zu gestalten. Da die kleinen Gemeinden mangels Kapazitäten ihre Aufgaben wiederum an den Kreis delegieren müssen, vollzieht sich das krasse Gegenteil von Dezentralisierung – was entschieden wird, entzieht sich den Bürgern vor Ort.

Den Dörfern und Gemeinden in den "entleerten" Gegenden geht es auf diese Weise ähnlich wie den Orten, die durch die Gebietsreform "eingemeindet" wurden: In Zeiten spendabler Stadtkassen und ausgabenfreudiger "Samtgemeinden" hatten sie keinen Grund zur Klage – sie wurden ja gut "versorgt"; doch gerade in Zeiten, in denen sie aktiv werden müssten, weil gespart wird, merken sie, dass sie gar nicht erst gefragt werden und der Ortsbeirat sehen muss, wie er die Orientierung über die Entscheidungswege des Gemeinderats behält. Das untergräbt das Gefühl von politischer Mitsprachemöglichkeit mehr, als dass es das Verantwortungsgefühl wieder heranzieht, das im Zeichen kommunaler Sozialverwaltung, in die sich die Selbstverwaltung verwandelt hat, allmählich versickert ist.

Aus der Not wird zwar auch so eine Tugend gemacht – durch Sparen soll der Bevölkerungsschwund wettgemacht werden. Doch es ist ein Sparen auf Kosten der örtlichen Eigeninitiative. Wie schwierig eine solche Rückverlagerung ist, wenn sich erst einmal überregionale und zentralisierte Verfahren über Jahrzehnte durchgesetzt haben, zeigte im Zuge der "Agenda 2010" die Debatte über die Arbeitsvermittlung, die in sogenannten Optionsgemeinden kommunalisiert werden sollte – gegen starke zentralistische Beharrung.

Die Städte und Ballungsgebiete hingegen, deren Luft bekanntlich frei macht, erleben mit einer Zunahme ihrer Attraktivität auch eine Zunahme an Aufgaben und Lasten. Zwar haben die meisten Kommunen Jahre finanzieller Erholung hinter sich. Doch wird – trotz raffinierter gesetzlicher Vorrichtungen – ihre Selbstverwaltung weiterhin als verlängerte Werkbank der Sozialpolitik des Bundes oder gar der Vereinten Nationen missbraucht. Das Ergebnis sind nicht größere, sondern langsam schrumpfende Gestaltungsspielräume.

Beispiel Energiewende

Wie leicht es wiederum in die andere Richtung gehen kann, zeigt die Energiewende. Auf mehreren Wegen findet hier eine Dezentralisierung und Stärkung der Selbstverwaltung statt – durchaus im Sinne einer Revitalisierung der "Provinz". Das ist geradezu Teil des Programms der Energiewende, soweit sie sich auch gegen die "Macht der Konzerne" richtet. Unter dem Schlagwort "Rekommunalisierung" werden die Stromversorgung und die Netzwirtschaft von (wiederhergestellten) Stadtwerken oder örtlichen Genossenschaften übernommen. Der "Energiebürger" beteiligt sich an lokalen oder regionalen Gesellschaften zur Produktion oder Verteilung von Strom, weil er davon profitiert oder weil er es politisch so will.

Das rechnet sich allerdings nur, weil sowohl Herstellung wie auch Einspeisung und Verteilung der erneuerbaren Energie privilegiert sind – ohne dieses materielle und politische Privileg unterbliebe wahrscheinlich auch das kommunale oder genossenschaftliche Engagement.

Allenfalls Interessen, aber keine Entscheidungsbefugnisse werden durch ein anderes Modell "gekauft" – durch die Bürgerbeteiligung beim Ausbau der überregionalen Höchstspannungsnetze. Auch diese Folge der Energiewende ist eine pfiffige Verlagerung von Verantwortungsgefühl "nach unten". Weder ist damit aber eine Dezentralisierung politischer oder Verwaltungsmacht verbunden, noch werden Mitsprache, Selbstverwaltung oder Freiheitsrechte gestärkt.

Die Dividende ist vielmehr der Ablass des Staates und der Energiewende-Gesellschaft für schnellere und zentralere Verwaltungsakte im Sinne des Gemeinwesens – bis hin zu Enteignungen. Was damit gemeint ist, wird sofort klar, wenn es garantierte Dividenden auf atomare Endlager-Anleihen geben würde. Weder der "Energiebürger" noch der "Netzbürger" sind also wirklich die Produkte von mehr Freiheit und mehr Eigenverantwortung.

Die Energiewende hat noch aus einem anderen Grund einen Januskopf. Ohne die Triebkraft des Föderalismus wären ihre Ziele wohl nicht so schnell übertroffen worden. Die Länder haben die nationale Energiewende in 16 Energiewenden übersetzt und damit das ganze Projekt in ungeahnter Weise beschleunigt. Anstatt dass dieser Übereifer als Stärke des Föderalismus begriffen würde, sind gerade die Freiheiten, die sich die Länder genommen haben, ein Grund, warum nach einem zentralistischen "Masterplan" gerufen wird, um die Energiewende zu steuern oder gar zu "retten".

Grund dafür sind Ungleichgewichte in der Verteilung von Vor- und Nachteilen zwischen den Ländern, die sich aus der Subventionierung der erneuerbaren Energien ergeben. Liegt die Rettung also wieder in der Bündelung, in der Nivellierung, in der Zentralisierung?

Die Energiewende wird nicht umsonst als versteckter Länderfinanzausgleich bezeichnet. Man könnte sie also, da es vom Geschick jedes Landes abhängt, wie viel es aus der Energiewende "herausholt", als eines der Anreizsysteme verstehen, die in der Finanzverfassung des Grundgesetzes vermisst werden. Dazu ist die Energiewende in der politischen Diskussion aber nie herangezogen worden. Auch hier gilt: Zwar wird unter Stichworten wie Bürgernähe und neuerdings Entschleunigung die befreiende Kraft der Dezentralisierung und die heilsame Rückkehr zur überschaubaren und "authentischen" Umgebung beschworen, doch der Kampf um Effektivität endet meist dann doch in der Flucht in den Zentralismus. In Deutschland bleibt nur der Föderalismus als Barriere – weshalb er immer wieder gerne geschmäht wird.

Dr. phil., geb. 1962; Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), verantwortlich für Innenpolitik, Hellerhofstraße 2–4, 60357 Frankfurt/M. E-Mail Link: j.altenbockum@faz.de