Wie ein erratischer Block behauptet die Sozialdemokratie eine Sonderstellung in der Geschichte der deutschen Parteienlandschaft: Die sich nach dem Ende des Sozialistengesetzes 1890 SPD nennende Massenpartei hat ihre Grundwerte und Grundüberzeugungen seit ihrer Gründung bis in die Gegenwart unverändert beibehalten. Woran lag es, dass trotz aller Niederlagen, Katastrophen und Phasen der Desorientierung in ihrer 150-jährigen Geschichte die SPD den mit ihrem Namen verbundenen Wertehorizont der "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität" bewahren konnte? Welche Rolle spielte ihr Menschenbild in diesem Zusammenhang?
Zwar umfasst das Menschenbild immer nur die soziokulturelle Dimension des "ganzen" Menschen, die mit seiner ersten animalischen, das heißt biologischen Natur nichtdualistisch verzahnt ist. Aber zugleich ist zwischen dem Menschenbild und dem Wertehorizont zu unterscheiden, den man mit ihm assoziiert. Zwar können die Werte einer sozialen Bewegung durch axiomatische Gründe vorgegeben sein. Doch das Menschenbild wird in weitaus höherem Maße von gesellschaftlichen und historischen Kontexten geprägt, innerhalb derer politisches Handeln stattfindet. Daher ist es im sozialdemokratischen Zusammenhang angemessener, nicht von "dem" einen gültigen Menschenbild, sondern von auf veränderte historische Kontexte reagierenden Menschenbildern zu sprechen. Deren aktuelle Bedeutung kann nur dann hinreichend erfasst werden, wenn Klarheit über ihre historische Entwicklung besteht.
Das sozialdemokratische Menschenbild vor 1933 ist ohne seine Verwurzelung in der evolutionären Naturgeschichte nicht zu verstehen. Tatsächlich stieß Charles Darwins Abstammungslehre in der sozialdemokratischen Arbeiterschaft und bei den parteinahen Intellektuellen auf großes Interesse. Aber zugleich war für sie ebenso klar, dass der Mensch nicht nur "Natur" im Sinne seines physiologischen Organismus ist, sondern dass sein eigentliches Leben in einer historisch und gesellschaftlich imprägnierten Sphäre der "Kultur" stattfindet. Nicht zufällig waren die wesentlichen Geburtsstätten der Sozialdemokratie die Arbeiterbildungsvereine.
Ebenso wenig kann überraschen, dass diese nichtdualistische Doppelung die entscheidende Trennungslinie begründete, welche die überwiegende Mehrheit der Sozialdemokratie vom liberalen Rechtsdarwinismus einerseits und vom sozialistischen Linksdarwinismus andererseits trennte. Beide Strömungen versahen die Formel vom "Kampf ums Dasein" zwar mit einer unterschiedlichen Stoßrichtung: Die einen nutzten sie zur Legitimierung des kapitalistischen Konkurrenzprinzips, die anderen zu dessen Delegitimierung, da die Eigentumsverfassung der bürgerlichen Gesellschaft das natürliche Selektionsprinzip im Interesse der Kapitaleigner außer Kraft setze. Doch den Konsens beider Richtungen, die organisch-natürlichen Kategorien der Evolutionstheorie auch auf die Gesellschaft anwenden zu können, lehnte die große Mehrheit der Sozialdemokratie ab. Für die gesellschaftliche Analyse war die von Karl Marx inaugurierte Gesellschaftstheorie zuständig, der nicht mit biologischen, sondern mit nichtgenetisch determinierten sozio-ökonomischen Kategorien argumentierte.
Andererseits sensibilisierte der Rekurs auf die Evolution seiner biologischen Verwurzelung das sozialdemokratische Bild des Menschen nicht nur für die altruistischen, sondern auch für die aggressiven Seiten seiner Natur. Nur die Demokratie schafft institutionelle Voraussetzungen für kommunikative Strukturen, die als Korrektive aggressiven Verhaltens wirken können, sodass die individuelle Freiheit und, mit dieser verbunden, die universalistische Gleichheit der Lebenschancen rechtlichen Schutz genießen und eine verlässliche Möglichkeit auf Verwirklichung haben. Die sozialdemokratische Entscheidung für die Demokratie vor 1914 und in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen schuf zugleich die entscheidende Distanz zu den elitären Menschenbildern des Faschismus und des Kommunismus, welche die liberalen Grund- und Menschenrechte zerstörten. Beider Konzeptionen eines "Neuen Menschen" konfrontierte sie das demokratische Postulat der sozialstaatlich verbürgten Existenzsicherung und der Bildungschancen für alle, um die Einzelnen zu ihrer Autonomie und Würde zu verhelfen.
Zwar öffnete sich in der SPD wie auch in anderen sozialdemokratischen Parteien Europas eine linke sozialdarwinistische Strömung gegenüber dem weltweiten Diskurs über Rassenhygiene und Eugenik. Aber sie konnte zu keinem Zeitpunkt eine nennenswerte Akzeptanz erlangen. Alle sozialdemokratischen Parteiprogramme erteilten rassistischen Orientierungen sowie kolonialistischen und imperialistischen Begehrlichkeiten ebenso eine Absage wie rassehygienischen und eugenischen Programmen. Stattdessen dominierten Forderungen nach dem allgemeinen Wahlrecht und einer Sozial- und Bildungspolitik, die allen zugutekommen sollte. Nicht einer natürlichen Ungleichheit aufgrund genetischer Faktoren wurde das Wort geredet, sondern der universalistischen Forderung nach gleichen Rechten und Pflichten der Staatsbürger. Das Gothaer Programm (1875) hob die Bedeutung der Arbeit und nicht der genetischen Substanz als "Quelle allen Reichtums und aller Kultur" hervor. Es komme darauf an, so das Erfurter Programm (1891), "jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung" abzuschaffen, "ob sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse (richtet)".
Was die Sozialdemokratie bei der Erkenntnis des evolutionär gegebenen Aggressionspotenzials nicht voraussah, war die Ungeheuerlichkeit der Ermordung von sechs Millionen Juden im industriellen Maßstab. Zu ausschließlich analysierte sie den deutschen Faschismus als ein primär sozioökonomisches Phänomen. Eine aggressive Verselbstständigung rassistischer Ideologie, welche auf direktem Weg in den Holocaust führt, hielt sie für unmöglich.
Katastrophe des Holocaust
Die Erfahrung der Fragilität der menschlichen Vernunft hatte offenbar für die exilierten Sozialdemokraten eine so traumatische Wirkung, dass es von möglichen Ausnahmen abgesehen erst nach der Rückkehr aus dem Exil ab 1945 zu einer erneuten Diskussion ihres Menschenbildes kam. Waren angesichts der Katastrophe des Holocaust die aufklärerischen Horizonte, von denen das sozialdemokratische Menschenbild bisher gelebt hatte, zu halten? Welche Modifikationen waren nach einer kritischen Selbstreflexion des Vernunftpotenzials an dem bisher gültigen Menschenbild mit seiner optimistischen Ausrichtung vorzunehmen, wenn es seine Überzeugungskraft nicht einbüßen wollte? Diese Diskussion wurde nicht durch Parteitagsbeschlüsse gesteuert. Ohne auf eine einheitliche Parteimeinung zurückgreifen zu können, meldeten sich einzelne Mandatsträger und der Sozialdemokratie nahestehende Intellektuelle zu Wort. Es gelang ihnen, mit ihren Argumenten auch erheblich auf die öffentliche Meinung einzuwirken.
Tatsächlich gab es Diskussionsbeiträge, die wieder bruchlos an den Gedanken der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft vor 1933 anknüpfen wollten. Doch dieser Trend wurde überlagert von der Debatte über die Kollektivschuld der Deutschen im Hinblick auf den systematischen Massenmord an den Juden im "Dritten Reich". So ging Kurt Schumacher einerseits vom Wissen der Deutschen um die Verbrechen der Nazis aus: In dem Maße, wie sie diese Ungeheuerlichkeiten zuließen, depravierten sie zu einem demokratiefremden und von den Werten der "Kulturmenschheit" abweichenden Volk. Andererseits kritisierte er – ähnlich wie Willy Brandt – die Kollektivschuldthese, ohne dass ihm der Widerspruch in seiner Argumentation bewusst geworden wäre. Man forderte Selbstprüfung, Scham und Reue als Voraussetzung für die moralische Gesundung des deutschen Volkes und deklarierte den Erziehungsanspruch der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung.
Diese Debatte hatte gravierende Auswirkungen auf das sozialdemokratische Menschenbild. Eine zeitgemäße Programmatik sei nur möglich, wenn der optimistische Humanismus der Bebelschen Sozialdemokratie im Lichte der Erfahrungen der terroristischen Diktatur des "Dritten Reiches" und der Verbrechen im Zweiten Weltkrieg korrigiert werde. Der Mensch verfüge zwar über ein erhebliches Vernunftpotenzial, aber wenn dieses nicht durch geeignete Institutionen gestützt wird, könne er unter das Niveau von Tieren fallen.
Im Vergleich zu der Zeit vor 1933 veränderte sich das Gleichgewicht zwischen dem aggressiven und dem vernünftig altruistischen Potenzial des Menschen zugunsten des Ersteren. Diese Einsicht führte zu zwei weiteren Modifikationen. Einerseits verlor der weltgeschichtlich ausgelegte Fortschrittsglaube der alten Sozialdemokratie seine Überzeugungskraft. Er war nicht mit der Tatsache vereinbar, dass es in einem der kulturell und wissenschaftlich fortgeschrittensten Länder der Welt im Faschismus zu einer Barbarei kommen konnte, wie man sie noch nie erlebt hatte. Andererseits hatte der Stalinismus den Fortschrittsgedanken zur Rechtfertigung seiner totalitären Diktatur und ihrer millionenfachen Opfer delegitimiert.
Wenn man außerdem mit der menschlichen Aggressivität als einem dauerhaften Erbe seiner Evolution rechnen muss, ist der Vision eines "Neuen Menschen" der Boden entzogen. Die bereits in der Zwischenkriegszeit erkennbare sozialdemokratische Skepsis gegenüber einer solchen hybriden Selbstermächtigung vertiefte sich. Für die Sozialdemokratie war der Mensch nicht ein von außen zu formierendes Objekt, wie Waldemar von Knoeringen betonte. Vielmehr kam es für sie darauf an, Bedingungen zu schaffen, unter denen "der Mensch und die Menschlichkeit überleben" (Willy Brandt). Dazu bedurfte es zweierlei: einerseits der Rückbesinnung und Erneuerung des axiomatischen Wertehorizontes, der, wie es im Godesberger Programm (1959) heißt, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu "Grundwerte(n) des sozialistischen Wollens" erhebt; andererseits aber auch der Fundierung in einem realistischen Menschenbild. Bei aller Kreativität in der Schaffung einer unsere Zivilisation prägenden Welt der Artefakte bleibt der Mensch ein abgründiges Wesen, das zu Massenmord und zur Zerstörung seiner natürlichen Lebensbedingungen fähig ist.
Dieser Erkenntnis trägt das Berliner Programm (1989) Rechnung, wenn es die conditio humana wie folgt beschreibt: "Der Mensch, weder zum Guten noch zum Bösen festgelegt, ist lernfähig und vernunftfähig. Daher ist Demokratie möglich. Er ist fehlbar, kann irren und in die Unmenschlichkeit zurückfallen. Darum ist Demokratie nötig. Weil der Mensch offen ist und verschiedene Möglichkeiten in sich trägt, kommt es darauf an, in welchen Verhältnissen er lebt. Eine neue und bessere Ordnung, der Würde des Menschen verpflichtet, ist daher möglich und nötig zugleich."
Sozialdemokratisches Menschenbild heute
Die durch die Auschwitz-Erfahrung erfolgte Prägung, wie sie im Berliner Programm ihren Niederschlag gefunden hat, ist unverändert verbindlich. Das Hamburger Programm (2007) übernimmt es ohne Modifikationen genauso wie den auf das Godesberger Programm zurückgehenden Wertekonsens der "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität". Aber diese Kontinuität kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zu wichtigen Nuancierungen der normativen Grundlagen des sozialdemokratischen Menschenbildes gekommen ist.
Als bedeutende Innovation ist der Begründungspluralismus des sozialdemokratischen Wertekanons zu nennen. Das christliche Menschenbild ist axiomatisch auf die theologische Dimension seiner Wertorientierung festgelegt: Der Mensch als das Ebenbild Gottes unterscheidet sich von diesem dadurch, dass er mit dem Stigma der Erbsünde leben muss. Demgegenüber betont die neuere sozialdemokratische Diskussion in Übereinstimmung mit dem Godesberger Programm die plurale Begründung ihres Wertehorizontes: Er hat jüdische, christliche, humanistische, aufklärerische und marxistische Wurzeln.
Aus diesem Begründungspluralismus folgt zwar die konsensuale Ablehnung eines säkularen und religiösen Fundamentalismus ebenso wie die ausschließende Funktion einer "deutschen Leitkultur". Doch stehen sich in der Frage der biotechnologischen Eingriffe in den menschlichen Körper (wie in der Abtreibungsfrage) christliche und säkularisierte Positionen kontrovers gegenüber. Dagegen tritt mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme die Auseinandersetzung mit dem "Neuen Menschen" kommunistischer Provenienz in den Hintergrund.
An seiner Stelle ist ab Ende der 1990er Jahre ein anderer Gegner auf der politischen Agenda erschienen: der homo oeconomicus des Neoliberalismus. Dessen Hegemonie entfaltete sich zu einer Zeit, als die rot-grüne Koalition 1998 die Regierungsverantwortung übernommen hatte. Ihre angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die ihr zuzuordnende Steuergesetzgebung und Reformen des Arbeitsmarktes zeigen unübersehbar Einflüsse des neoliberalen Menschenbildes.
Doch unterdessen sind Tendenzen erkennbar, die deutlich von der partiellen Übereinstimmung der sozialdemokratischen "Modernisierer" mit dem homo oeconomicus abrücken und dessen Unvereinbarkeit mit dem historisch gewachsenen Menschenbild und dem mit ihm verbundenen Wertehorizont betonen. Einem Freiheitskonzept, das nutzenmaximierende Egoisten im Rahmen marktkonformen Verhaltens und eines deregulierten Staates ohne Rücksicht auf die Interessen der Gesamtgesellschaft zu realisieren sucht, wird die alte sozialdemokratische Maxime entgegengesetzt, dass Freiheit und Gleichheit eine Einheit darstellen, die mit einem universalistisch verstandenen Konzept der "sozialen Gerechtigkeit" konvergieren.
Aber Konfliktlinien in dem mit dem Menschenbild verbundenen Wertehorizont sind nicht nur zwischen den politischen Lagern und in der innerparteilichen Diskussion zu erkennen. Gravierend ist auch das drohende Scheitern seiner Akzeptanz in relevanten Teilen der sozialdemokratischen Wählerklientel. In ihrem Umkreis begünstigen Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildung, unsichere Arbeitsplätze und lebensweltliche Perspektivlosigkeit populistisch-autoritäre Anspruchshaltungen. Sie reichen von Forderungen nach einer Beendigung der Einwanderungspolitik über Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit bis hin zur Abwertung von Langzeitarbeitslosen und der Diskriminierung von Körperbehinderten: Tendenzen, die an den Grundlagen der Demokratie rütteln.
Wie es scheint, stehen die sozialdemokratischen Menschenbilder vor einer neuen Herausforderung. An Erfahrungen, sie zu bewältigen, fehlt es der SPD aufgrund ihrer 150-jährigen Geschichte nicht.