Freiheit, Gleichheit und "Brüderlichkeit" (Solidarität) sind seit der Französischen Revolution die großen politischen Leitideen der Moderne. Als Grundwerte wirken sie bis heute sinnstiftend und geben Orientierung dafür, wie gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden, aber auch wohin und wie sich eine Gesellschaft weiterentwickelt. Ausgangspunkt politischen Denkens und Handelns ist die unveräußerliche Würde und Autonomie des Menschen.
Eine allgemeingültige Definition politischer Grundwerte gibt es indes nicht. Ihre Bedeutung ändert sich nach Zeit und Ort. Der zwischen Demokratinnen und Demokraten herrschende prinzipielle Konsens heißt noch nicht, dass daraus auch dieselben Konsequenzen gezogen würden. Teilweise diametral entgegengesetzte Ansichten darüber, was Hindernisse für die Verwirklichung dieser Leitideen und mögliche Ursachen gesellschaftlicher Missstände sind, bestimmen die politischen Prioritäten. Eine Konfliktlinie ist dabei die Frage, was Rahmenbedingungen einer gerechten, solidarischen und sicheren Gesellschaft sind, in der alle Menschen sich frei entfalten können. Sie spitzt sich zu bei der Bewertung des Zusammenspiels von strukturellen Einflüssen und individuellen Verantwortlichkeiten: Gelten erstere als wesentlich, steht "der Staat" stärker in der Pflicht; gelten letztere als bestimmend, kommen eher Ideen eines "schlanken Staates" zum Tragen.
Diese Konfliktlinie durchzieht die Debatten über die Umsetzung von politischen Grundwerten und verläuft teils quer zu Parteigrenzen und -programmen. Die Essays dieser Ausgabe verdeutlichen, wie unterschiedlich Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität, Sicherheit und Nachhaltigkeit interpretiert werden, aber auch, wie divers Erklärungen für Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Unfreiheit, unsolidarisches Verhalten, Unsicherheit und kurzsichtige Ressourcenverwendung sind. Das Aushandeln von und Verhandeln über diese Grundwerte bietet auch Anregungen für den demokratischen Streit um die "richtige Balance". Diesen gilt es, offen auszutragen.