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Guter Neid, schlechter Neid? Von der "Neidkultur" zu Kulturen des Neides | Emotionen und Politik | bpb.de

Emotionen und Politik Editorial Zur Rolle von Emotionen in der Demokratie Vergangene Gefühle. Emotionen als historische Quellen Gegenwart des Unbehagens. Gefühle und Globalisierung Angstunternehmer. Zur Karriere eines amerikanischen Rollenmodels Zur Emotionalisierung durch Kriegsdarstellungen in den Medien Von der "Neidkultur" zu Kulturen des Neides

Guter Neid, schlechter Neid? Von der "Neidkultur" zu Kulturen des Neides

Christian von Scheve Thomas Stodulka Julia Schmidt

/ 15 Minuten zu lesen

Neid wird immer wieder zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses um Gerechtigkeit und wohlfahrtsstaatliche Politik. In parlamentarischen Debatten, parteipolitischen Auseinandersetzungen, im Wahlkampf sowie in der entsprechenden Medienberichterstattung landet Neid als sozial unerwünschtes und vermeintlich auf Ungerechtigkeiten hinweisendes Gefühl regelmäßig auf der Agenda. Besonders in Deutschland, so kann man den Eindruck gewinnen, spielt Neid stets eine prominente Rolle, wenn es darum geht, soziale Gerechtigkeit einzufordern. Die Ankündigung bestimmter fiskalpolitischer Maßnahmen wird dann als Durchsetzung einer "Neidsteuer" gebrandmarkt, Deutschland zur "Neidgesellschaft" erklärt, der "Sozialneid" als etwas "typisch Deutsches" etikettiert und überhaupt die "deutsche Neidkultur" als "Plage" gegeißelt. Gern wird in diesem Zusammenhang der Vergleich mit den USA gezogen, wo wirtschaftlicher Erfolg bedenkenlos öffentlich zur Schau gestellt werden könne, wohingegen man in Deutschland stets Acht geben müsse, dadurch nicht den Neid seiner Mitmenschen auf sich zu ziehen. Dabei zeigt der Blick über den Atlantik, dass zum Beispiel auch ein Mitt Romney (der republikanische Herausforderer des US-Präsidenten Barack Obama bei der Präsidentschaftswahl 2012) den Neid als niederes Motiv ins Feld führt, um sozialpolitische Positionen von Widersachern zu diskreditieren.

In diesem Beitrag möchten wir erörtern, welcher Status Begriffen wie "Neidkultur" und "Neidgesellschaft" im Kontext sozialpolitischer Auseinandersetzungen und vor dem Hintergrund einer kulturellen beziehungsweise kulturvergleichenden Emotionsforschung zugeschrieben werden kann. Dabei gehen wir auf die individuellen und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen von Neid ein und diskutieren die Konsequenzen der Verwendung des Neidbegriffs in diesen Debatten.

Was ist Neid, und wie entsteht er?

Initialzünder des Neid-Erlebens ist stets der soziale Vergleich, genauer: der unvorteilhafte Aufwärtsvergleich. Neid entsteht, wenn jemand anderes über Eigenschaften, Fähigkeiten oder Besitztümer verfügt, die man selbst gerne hätte, aber nicht erlangen kann. Obgleich nicht unumstritten, geht das Erleben von Neid oft einher mit Gefühlen von Unterlegenheit, Ärger und Frustration. Ein weiteres und vielfach diskutiertes Element des Neides ist die Missgunst, also der Wunsch, der andere möge das Begehrte verlieren oder anderweitig leiden. Dieser Wunsch resultiert zumeist – aber keineswegs immer – aus der Überzeugung, das Begehrte sei deshalb unerreichbar, weil eben der andere es besitzt. Vielfach wird die These vertreten, dass Neid ohne die Komponente der Missgunst kein Neid im eigentlichen Sinne sei: Lediglich das zu begehren, was andere haben, ohne aber gleichzeitig den Wunsch zu verspüren, der andere möge das Begehrte verlieren oder habe es nicht verdient, entspräche vielmehr dem Charakter des Wetteifers als dem des Neides. Etymologische Untersuchungen weisen dagegen auf einen bis ins ältere Neuhochdeutsche hinein durchaus positiv konnotierten Neidbegriff im Sinne des "Eifers" hin. Diese Facetten des Neides spiegeln sich auch in der Tatsache wider, dass einige Sprachen über einen Neidbegriff verfügen, der beide Konnotationen umfassen kann, zum Beispiel das Englische (envy) oder Spanische (envidia). Andere Sprachen wiederum verfügen über distinkte Begriffe, um diese (und weitere) Spielarten des Neides zu benennen, neben dem Deutschen etwa das Niederländische (benijden, afgunst) und Polnische (zazdrosc, zawisc).

Die beiden Facetten des Neides zeigen sich nicht nur in Berichten des subjektiven Gefühlserlebens und sprachlichen Benennungen, sondern auch in zwei konträren Handlungstendenzen, die mit Neid einhergehen: Zum einen wettbewerbsorientiertes Handeln, das auf der Motivation beruht, das Begehrte durch eigene Anstrengungen ebenfalls zu erreichen, ohne es dem anderen abspenstig zu machen; zum anderen ein destruktives und konflikthaftes Handeln, das ganz im Sinne der Missgunst vor allem darauf abzielt, Güter oder Besitz des anderen zu zerstören, auch wenn man dadurch das Begehrte selbst nicht erlangt.

Für ein weit verbreitetes Verständnis von Neid als ein Gefühl, das immer auch destruktive Elemente und Motive der Missgunst enthält, spricht schlicht die soziale Normierung und moralische Konnotierung dieses Gefühls. Nicht umsonst gilt Neid in christlich-katholischen Lehren als eine der sieben Todsünden. Der Neid ist in den meisten westlichen Gesellschaften eine zutiefst tabuisierte und stigmatisierte Emotion, und kaum jemand würde sich öffentlich dazu bekennen, neidisch auf jemand anderes zu sein. Es ist kaum denkbar, auf der Grundlage von Neid für eigene Ansprüche oder gar subjektiv empfundene Rechte zu argumentieren – nimmt das Neidempfinden solchen Forderungen doch von Vornherein den Legitimationsanspruch. Neid ist wie kaum eine andere Emotion so weitgehend sozial normiert und kulturell reguliert, dass er nicht nur in der sozialen Interaktion zurückgehalten wird, sondern auch sich selbst gegenüber in aller Regel uneingestanden bleibt.

Ungeachtet dieser Fragen zum Neid-Erleben ist weiterhin bemerkenswert, dass nicht jeder unvorteilhafte Vergleich mit anderen im Erleben von Neid mündet. In der Literatur finden sich mindestens zwei "Randbedingungen", die weithin als Voraussetzung für das Neid-Erleben gelten. Die erste ist die soziale Nähe: Wir beneiden jemanden, der uns sozial oder persönlich nahesteht, etwa die Nachbarin um ihr neues Auto oder die Schwester um das Weihnachtsgeschenk, das man selbst schon immer haben wollte. Wir "Normalsterblichen" beneiden hingegen kaum den spanischen Startenor Placido Domingo um seine Stimme oder den russischen Oligarchen Roman Abramowitsch um seine Luxusyachten. Als zweite Bedingung gilt die subjektive Relevanz, das heißt die persönliche Bedeutung, die Eigenschaften, Fähigkeiten oder Besitztümer anderer für mich haben. Fährt die Nachbarin eine neue Luxuskarosse, ich aber gestalte mein Leben ökologiebewusst und bin überzeugte Fahrradfahrerin, so lässt mich dieser Vergleich vermutlich kalt. Gönnt ein Freund sich jedoch mehrmals im Jahr eine Fernreise und auch ich bin reiselustig, kann mir solche Reisen aber nicht leisten, dann ist zumindest der Grundstein für Neid gelegt.

Eine weitere Randbedingung sind aber ohne Zweifel auch die kulturellen Deutungsmuster, die jeden sozialen Vergleich rahmen und Auskunft darüber geben, welche Güter, Leistungen und Eigenschaften überhaupt als erstrebenswert erachtet werden. Nicht zuletzt schlagen sich solche Deutungsmuster auch in der Bewertung des Neides selbst und in entsprechenden sozialen Normen nieder, die das Erleben und den Ausdruck von Neid – wie auch von anderen Emotionen – regulieren.

Neid und soziale Ungleichheit

Wenn wir Neid in erster Linie als Resultat eines sozialen Vergleichs verstehen, so können wir ihn in einem größeren und allgemeineren Zusammenhang "sozialkomparativer Orientierungen" verorten, wie es der Politikwissenschaftler Frank Nullmeier eindrucksvoll getan hat, auf dessen Ausführungen wir uns im Weiteren beziehen werden. Aus dieser Perspektive lassen sich vor allem die für den Neid konstitutiven Facetten des Sozialen sowie deren kulturelle Deutungsmuster rekonstruieren. Der dem Neid zu Grunde liegende soziale Vergleich bedeutet nämlich zunächst lediglich, dass sich Akteure miteinander vergleichen; er lässt jedoch offen, anhand welcher Kriterien Vergleiche angestellt werden, die für das Neidempfinden bedeutsam sind. Auch wenn man als Rahmenbedingung unterstellt, dass soziale Vergleiche, um Neid auszulösen, auf Dimensionen beruhen müssen, die für den Einzelnen subjektiv relevant sind, bleibt hier doch ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, die kulturellen und gesellschaftlichen Ursachen des Neides weiter zu spezifizieren. Dem Bruder das größere Stück Pizza zu neiden offenbart andere Facetten von Sozialität als der Neid auf die Kollegin, die zur Abteilungsleiterin befördert wurde.

Um mit Jean-Jacques Rousseau zu argumentieren, sind es einerseits die "natürlichen Unterschiede" zwischen den Menschen – Talente, Begabungen, körperliche Fähigkeiten –, die im Zusammenspiel mit entsprechenden kulturellen Praktiken Rang, Status und Anerkennung repräsentieren und damit das wechselseitige Ein-, Wert- und Abschätzen befördern. Andererseits sind es die Konsequenzen der Arbeitsteilung als epochaler Wendepunkt im menschlichen Zusammenleben, die neue Ungleichheiten hervorbringen und die "natürlichen" dramatisch verstärken. Vor allem Eigentum und Besitz produzieren – gerade im Zusammenspiel mit Staatlichkeit – weithin sichtbare Unterschiede zwischen den Menschen, die zum Gegenstand des sozialen Vergleichs und damit potenziell zum Auslöser von Neid werden.

Dass materielle Unterschiede zwischen den Menschen aber nicht per se Auslöser des Empfindens von Neid sind, hat Alexis de Tocqueville bereits im 19. Jahrhundert in seinen Schriften "Über die Demokratie in Amerika" dargelegt. Darin beschreibt er anschaulich, wie das politische Streben nach Gleichheit unter den Menschen, das sich vor allem in der Abschaffung ständischer Grenzen wie etwa denen zwischen Adel und einfachem Bürgertum äußert, neue und vorher nicht gekannte Sensibilitäten in der Wahrnehmung anderer schafft. Durch die politisch motivierte Gleichheit, wie sie kennzeichnend für Demokratien ist, fallen die unüberwindbaren Hürden und Barrieren ständischer Systeme. Diese Gleichheit erweckt bei den Menschen den Eindruck, dass prinzipiell alle alles erreichen können. Eine solche politisch verankerte Gleichheit dehnt folglich den Möglichkeitsraum des sozialen Vergleichs ins nahezu Unendliche und fördert damit – so Tocquevilles These – den Neid. Der Neid entstehe vor allem deshalb, weil Demokratien dazu neigten, das Verlangen nach Gleichheit zu entfachen – indem sie es rechtlich und institutionell abgesichert in Aussicht stellten –, es aber nicht stillen könnten, weil ihnen keine entsprechenden Verteilungsprinzipien inhärent seien.

Tocquevilles Analysen führen uns also zwei gesellschaftliche Seiten des Neides vor Augen: zum einen eine kulturelle Seite, die sich aus solchen Wünschen, Vorstellungen, Ideen und Begriffen speist, die sich auf das Verhältnis der Menschen zueinander – auf ihre relative soziale Position – beziehen; zum anderen eine sozialstrukturelle und institutionelle Seite, die sich auf die ungleiche Verteilung von begehrten Ressourcen und auf die rechtlichen Rahmenbedingungen des Miteinanders bezieht. Dort wo Rousseau den gesellschaftlichen Ursprung der Kriterien des sozialen Vergleichs und der kulturellen Praktiken des Ein- und Wertschätzens näherbringt, gibt Tocqueville Einblicke in die Frage, mit wem wir uns in einer Gesellschaft vergleichen. Welche Güter oder Eigenschaften man begehrt, die, sofern sie jemand anderes besitzt und sie für einen selbst unerreichbar bleiben, Neid auslösen, ist somit immer eine Frage der gesellschaftlichen Umstände und der Praktiken des Wertschätzens. Gleiches gilt für die Frage, gegenüber welchen Personen in welchen sozialen Positionen man diese Vergleiche überhaupt anstellt. Somit verwundert es auch nicht, dass die Rolle von Gerechtigkeitsvorstellungen im Neidempfinden in der Forschung vielfach diskutiert wird. Uneinigkeit herrscht vor allem darüber, ob Gerechtigkeitserwägungen überhaupt ein notwendiges Element des Neid-Erlebens sind.

Als problematisch wird in diesem Zusammenhang besonders die Unterscheidung des Ressentiments vom Neid angesehen. Vor allem der Soziologe Max Scheler verwies mit seiner Interpretation von Friedrich Nietzsche auf Neid als einen Bestandteil des Ressentiments, das im Gegensatz zum Neid jedoch dauerhafter, ungerichteter und mit einem allgemeinen Empfinden von Unterlegenheit und Benachteiligung verbunden sei. Vor allem aber basiert das Ressentiment bei vielen Autorinnen und Autoren per Definition auf der Einschätzung einer Situation als ungerecht im Sinne eines moralisch-normativen Standards und als weitgehend außerhalb der eigenen Kontrolle liegend. Dementgegen wird oftmals argumentiert, dass Neid keine in diesem Sinne moralische Emotion sei, weil er nicht (notwendigerweise) auf der Verletzung weithin akzeptierter moralischer Normen beruht, sondern vielmehr auf der subjektiven Einschätzung, etwas, das man eigentlich verdient, nicht erlangen zu können. So ist auch John Rawls – trotz der herausgehobenen Stellung des Neides in seiner Gerechtigkeitstheorie – dahin gehend interpretiert worden, dass der Neid im Gegensatz zum Ressentiment relativ losgelöst von allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen existiert und gerade dann zutage tritt, wenn ein unvorteilhafter sozialer Vergleich sich nicht mit Gerechtigkeitsmaßstäben, sondern lediglich mit persönlichem Begehren und der Wahrnehmung, das Begehrte zu verdienen, bemessen lässt.

Wie man auch immer die Rolle von Gerechtigkeitsvorstellungen im Neid interpretieren mag, als subjektive Anmaßung des "Verdientseins" oder normativ abgesicherten Anspruch auf das Begehrte, so verdeutlicht diese Diskussion in jedem Fall eine weitere Dimension der gesellschaftlichen beziehungsweise kulturellen Konstitution des Neidens. Ob wir meinen, das Begehrte zu verdienen, ob wir der Ansicht sind, es stünde uns aus moralischen Gründen zu, oder ob wir die ungleiche Verteilung begehrenswerter Güter oder Eigenschaften schlicht als durch Gott oder andere unhinterfragbare Instanzen gegeben betrachten, hängt maßgeblich von der symbolischen Ordnung einer Gesellschaft, von ihrem Glaubens- und Wertegerüst ab. Dieses Gerüst bestimmt zudem die Bedeutung und den Wert des Neides an sich.

"Neidkulturen" im Vergleich

Kulturvergleichende Forschung, insbesondere in einer kulturanthropologisch-ethnologischen Tradition, verfolgt oftmals zwei grundlegende Ziele. Zum einen möchte sie der eigenen Gesellschaft durch die Beschreibung anderer kultureller Kontexte den Spiegel vorhalten. Die Relativität und somit Veränderbarkeit der eigenen subjektiven Erfahrung und – im Kontext der Emotionsforschung – emotionalen Deutungen und Bewertungen von gesellschaftlicher Ordnung kann häufig erst durch das Nachvollziehen und Verstehen anderer, zunächst fremder symbolischer Ordnungen, Glaubens- und Wertegerüste besser verstanden werden. Zum anderen hilft eine kulturvergleichende Perspektive auch dabei, Erkenntnisse über fundamentale soziale Prozesse und Mechanismen zu erlangen. Zudem trägt der Kulturvergleich auch dazu bei, die eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse pragmatisch und mit Blick auf politische Entscheidungen in einem anderen Licht zu betrachten.

Was die Erforschung des Neides angeht, kann die kulturvergleichende Betrachtung einen Beitrag dazu leisten, das Gerüst von Deutungsmustern, die sowohl die von Rousseau fokussierte soziale Ungleichheit als auch Tocquevilles Gleichheits-Paradox flankieren, zu rekonstruieren und somit auch das Erleben von Neid in diesen Kontexten besser zu verstehen. Insofern stellt die kulturvergleichende Analyse der emotionalen Bewertung eines subjektiv als nachteilig empfundenen Aufwärtsvergleichs unter anderem folgende Fragen voran: Was macht begehrte Güter oder Eigenschaften überhaupt so begehrenswert? Warum werden sie von bestimmten Personen begehrt und von anderen nicht? Welche Glaubens- und Wertesysteme einer Gesellschaft – auch jenseits staatlicher Organisationsprinzipien – rahmen den sozialen Vergleich? Die Zusammenhänge zwischen Neid-Erleben, Sozialstruktur, herrschenden Machtverhältnissen und kulturspezifischen Norm- und Wertesystemen möchten wir kurz an einem Beispiel aus Java, dem politisch-ökonomischen Zentrum des indonesischen Archipels, verdeutlichen, um sie dann theoretisch zu untermauern und mit hiesigen Debatten um eine "typisch deutsche" Neidkultur zu verknüpfen.

Die javanische Gesellschaft gilt hinsichtlich ihrer sozialen Schichtung als ausgeprägt hierarchisch organisiert. In der ethnologischen Forschung wird die soziale Organisation Javas hinsichtlich der sozialen Mobilität zwar als deutlich offener als etwa das hinduistische Kastensystem Indiens beschrieben, im Vergleich zu den meisten europäischen Gesellschaften gilt es jedoch als geschlossener und undurchlässiger. Auch wenn die javanische Gesellschaft den globalen Dynamiken von ausgeprägter Arbeitsmigration und veränderten Strategien des Lohnerwerbs sowie weiteren Modernisierungstendenzen ausgesetzt ist, basiert der soziale Status einer Person nach wie vor primär auf den Kriterien der sozialen Herkunft und dem Beherrschen der daran eng gekoppelten javanischen Etikette (budi pekerti, "gutes Benehmen"). Diese gilt als kulturelles Ideal und gesellschaftliche wie zwischenmenschliche Manifestierung des lokalen Glaubens- und Wertegerüstes (cara Jawa), das nicht nur die soziale Interaktion regelt, sondern letztlich der Bewahrung des gesellschaftlich-strukturellen Status quo dient.

Neben der Aufrichtigkeit, der Folgsamkeit, der Vermeidung von Scham hervorrufendem Verhalten, dem Erhalt der sozialen Harmonie, dem Vermeiden von Konflikten, der aufrichtigen Akzeptanz von Widrigkeiten, der Bedeutung kollektiver Anstrengungen und der Ächtung von Egoismus wird im Rahmen dieser Etikette besonders betont, dass der Erfolg anderer nicht beneidet werden darf, da ein erfolgreiches Leben letztendlich nur durch harte Arbeit und göttlichen Beistand erreicht werden könne. Die Existenz und Allgegenwärtigkeit dieses Ideals lässt jedoch nur bedingt Rückschlüsse auf das tatsächliche subjektive Erleben von Emotionen zu. Die Empfindung von Neid, der in Java als iri, sirik (Neid), gelegentlich auch als dengki (hasserfüllter Neid) bezeichnet wird, ist auch Javanerinnen und Javanern nicht fremd. Er wird jedoch – ähnlich wie in der deutschen Gesellschaft – in den meisten Fällen weder zum Ausdruck gebracht noch sich selbst gegenüber eingestanden.

Im Vergleich mit der Bedeutung des Neides in der deutschen Gesellschaft und den ungleichheits- und demokratietheoretischen Diagnosen Rousseaus und Tocquevilles fällt zweierlei auf. Erstens ist es ein integraler Bestandteil des Werte- und Normengerüsts des javanischen budi pekerti, das Wohl der Gemeinschaft über den Erfolg des Einzelnen zu stellen. Neben der Vermeidung des Neides spielt dies sowohl in der frühen Sozialisation als auch in der formalen schulischen Bildung von Jugendlichen eine zentrale Rolle. Dieser ausgeprägte Fokus auf die Gemeinschaft deutete der Anthropologe George M. Foster als Strategie, die eigene Furcht zu bewältigen, dem Neid anderer ausgesetzt zu sein. So ist es in der javanischen Gesellschaft üblich, die öffentliche Zurschaustellung der (gehobenen) sozialen Herkunft und wirtschaftlichen Potenz tunlichst zu vermeiden. Gleiches gilt für erworbene materielle Güter und berufliche Kompetenzen. Die Pflicht zu "Kompensationsleistungen" des eigenen Erfolgs gegenüber der Gemeinschaft wird bereits in der frühen Sozialisation verankert und äußert sich etwa in der Beteiligung an gemeinschaftlichen Aktivitäten und materiellen oder monetären Zuwendungen auf familiärer, nachbarschaftlicher oder kollegialer Ebene.

Zweitens zeigt sich an der javanischen Gesellschaft deutlich, auf welche Weise kulturelle Deutungsmuster und Wertungen des Neides selbst das Erleben dieses Gefühls jenseits von politischer Organisationsform und sozialer Ungleichheit bedingen. Trotz Demokratisierung und Modernisierung ist eine weithin als legitim erachtete, starre Schichtung der javanischen Gesellschaft zu beobachten, die dazu führt, dass vermutlich weite Teile der Bevölkerung das Kriterium der "sozialen Nähe" als Vergleichsmoment nicht erfüllen. Bestimmte soziale Positionen bleiben auch unter demokratischen Verhältnissen für viele unerreichbar, ohne dass dieser Umstand grundsätzlich und notwendigerweise als illegitim oder inkompatibel mit der politischen Ordnung betrachtet würde.

Kulturen des Neides statt "Neidkultur"

Für die vielfältigen sozialpolitischen Neiddebatten im deutschen Kontext und die immer wieder artikulierte "typisch deutsche Neidkultur" lassen sich aus diesen Betrachtungen einige weiterführende Überlegungen anstellen. Vor allem lohnt es sich, die Verhältnisse zwischen den sozialstrukturellen, auf sozialen Ungleichheiten basierenden Komponenten des Neides einerseits und seiner kulturellen Bedeutung und Normierung andererseits näher zu beleuchten. Legt man die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung als Maßstab an und konstatiert zunehmende soziale Ungleichheiten etwa in den Bereichen Bildung, Einkommen und Vermögen, so ist zu fragen, in welchem Umfang eine Gesellschaft Möglichkeiten für den Einzelnen bereitstellt, bestimmte Güter und Auszeichnungen überhaupt erreichen zu können. Der Soziologe Sighard Neckel hat diese Frage mit Blick auf den Neid unter dem Stichwort der "Leistungsgerechtigkeit" ausführlich diskutiert.

Darüber hinaus ist zu fragen, welche Konsequenzen der weithin akzeptierte Imperativ der Vergleichbarkeit und der vermeintlich objektiven Messbarkeit – etwa von schulischen oder universitären Leistungen, von beruflichem Können, oder auch von sozialen und emotionalen Fähigkeiten – für das Erleben von Neid mit sich bringt. Wo beispielsweise Bildung und Erziehung in weiten Teilen auf eine Individualisierung und Kommodifizierung von Kompetenzen in Form von Zusatzausbildungen und Zertifikaten abzielen, was den Jugendlichen in einer durch Wettbewerb geprägten Gesellschaft Vorteile sichern soll, eröffnen sich stetig neue Möglichkeiten des sozialen Vergleichs. Aufgrund der kulturellen und normativen Legitimierung – ja gerade Erwünschtheit – solcher Differenzen entfällt zumeist die Deutung von unvorteilhaften Vergleichen unter Bezugnahme auf allgemein gültige Gerechtigkeitsnormen. Stattdessen wird der Deutung von persönlicher Unzulänglichkeit und damit dem Neid-Erleben Vorschub geleistet.

Diese Inflation der Kriterien des Vergleichs wird in der Gegenwartsgesellschaft flankiert von den zunehmenden Möglichkeiten des Vergleichs, und zwar nicht nur im Sinne Tocquevilles, sondern vor allem auch mit Blick auf mediale Darstellungen vermeintlich realer und alltäglicher Erfolge und Misserfolge im Panoptikum einer scripted reality (zum Beispiel TV-Sendungen, die vorgeben, die Realität zu zeigen, aber inszeniert sind). Darüber hinaus liegt ein Wesensmerkmal der immer stärker verbreiteten sozialen Medien darin, das Selbst auf allen denkbaren Ebenen vergleichbar zu machen, mit der Konsequenz, dass Nutzerinnen und Nutzer den Neid als eine der dominanten Emotionen während ihrer Social-media-Aktivitäten schildern.

Ganz abgesehen von den vielfach debattierten sozialpolitischen Maßnahmen stehen solchen Entwicklungen erstaunlich wenige Bestrebungen gegenüber, die Konsequenzen der Gleichzeitigkeit von zunehmender Ungleichheit und Vergleichbarkeit auch kulturell zu rahmen. Weder existieren, wie im Beispiel der javanischen Kultur, Verhaltensnormen und Korrektive, die das Wohl und den Erfolg der Gemeinschaft über den des Einzelnen stellen, noch Erwartungen und Anforderungen an Beneidete, auch nur symbolische Kompensationsangebote an die Masse der Übrigen und Übriggebliebenen zu machen. Stattdessen stehen die Debatten um die deutsche "Neidgesellschaft" und den "Sozialneid" unter umgekehrten Vorzeichen, indem das Erleben von Neid grundsätzlich pathologisiert und als auf niederen Motiven beruhend diskreditiert wird. Solange jedoch weithin geltende Gerechtigkeitsnormen und -vorstellungen bestehende Ungleichheiten legitimieren, wird darauf kaum mit Ressentiments, sondern mit Neid und dem Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit reagiert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Andrea Seibel, "Sozialneid ist typisch deutsch". Der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder über Leistungsgesellschaft und Uli Hoeneß, in: Die Welt vom 27.4.2013, online: Externer Link: http://www.welt.de/print/die_welt/wirtschaft/article115660192 (4.7.2013).

  2. Zum Beispiel von Ludwig Georg Braun, dem damaligen Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages: "Die deutsche Neidkultur ist eine Plage", in: Die Welt vom 3.1.2003, online: Externer Link: http://www.welt.de/print-welt/article323244 (4.7.2013).

  3. Vgl. The Politics of Envy, in: The Economist vom 12.1.2012, online: Externer Link: http://www.economist.com/blogs/freeexchange/2012/01/inequality (4.7.2013).

  4. Vgl. Nicole Schippers, Die Funktionen des Neides. Eine soziologische Studie, Marburg 2012.

  5. Vgl. Niels van de Ven/Marcel Zeelenberg/Rik Pieters, Leveling Up and Down. The Experiences of Benign and Malicious Envy, in: Emotion, 9 (2009) 3, S. 419–429.

  6. Vgl. Richard H. Smith/Sung Hee Kim, Comprehending Envy, in: Psychological Bulletin, 133 (2007) 1, S. 46–64; N. van de Ven et al. (Anm. 5).

  7. Vgl. R.H. Smith/S. H. Kim (Anm. 6).

  8. Vgl. Frank Nullmeier, Politische Theorie des Sozialstaats, Frankfurt/M.–New York 2000.

  9. Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité, Kritische Ausgabe des integralen Textes, editiert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn 19933 (1755).

  10. Vgl. F. Nullmeier (Anm. 8).

  11. Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. 1. + 2. Band, Stuttgart 1962 (1830/1845).

  12. Vgl. F. Nullmeier (Anm. 8).

  13. Vgl. Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, hrsg. von Manfred S. Frings, Frankfurt/M. 1978 (1912).

  14. Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1979.

  15. Vgl. Colin Wayne Leach, Envy, Inferiority and Injustice. Three Bases of Anger About Inequality, in: Richard H. Smith (ed.), Envy. Theory and Research, Oxford 2008.

  16. Vgl. George M. Foster, The Anatomy of Envy. A Study in Symbolic Behavior, in: Current Anthropology, 13 (1972) 2, S. 165–186.

  17. Vgl. Sighard Neckel, Blanker Neid, blinde Wut? Sozialstruktur und kollektive Gefühle, in: Leviathan, 27 (1999) 2, S. 145–165.

  18. Vgl. Hanna Krasnova et al., Envy on Facebook. A Hidden Threat to Users’ Life Satisfaction? Vortrag, 11th International Conference on Wirtschaftsinformatik, Leipzig 27. 2.–1.3.2013.

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Dr. rer. pol., geb. 1973; Juniorprofessor für Soziologie am Institut für Soziologie und am Cluster "Languages of Emotion", Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. E-Mail Link: scheve@zedat.fu-berlin.de

Dr. des. phil., geb. 1976; Postdoc am Institut für Ethnologie und am Cluster "Languages of Emotion" (s.o.). E-Mail Link: thomas.stodulka@fu-berlin.de

M.A. Ethnologie, geb. 1982; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Cluster "Languages of Emotion" (s.o.). E-Mail Link: schmidt.julia@fu-berlin.de