1941 erschien in den "Annales d’histoire sociale" ein Aufsatz von Lucien Febvre mit dem Titel "Sensibilität und Geschichte: Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen".
Allen, die der Emotionsgeschichte ihre Existenzberechtigung absprachen, hielt er entgegen, sie schrieben ihre Geschichte ohnehin unter Einbeziehung von Emotionen, nur täten sie dies unbewusst und anachronistisch, indem sie nämlich die Emotionskonzepte ihrer eigenen Zeit auf die Vergangenheit übertrugen. Febvre fragte: "Wenn der Historiker uns sagt: ‚Napoleon hatte einen Wutanfall‘, oder aber: ‚Er erlebte einen Moment großer Freude‘ – ist seine Aufgabe damit nicht beendet?"
Febvre ging es ums Ganze: "Wir haben keine Geschichte der Liebe, keine Geschichte des Todes." Das sei fatal, denn "solange sie uns fehlen, wird es Geschichte im emphatischen Sinn nicht geben."
Stationen bis zur heutigen Emotionsgeschichte
Sofern wir wissen, hat niemand vor Febvre ähnlich lautstark eine Geschichte der Emotionen eingefordert. Und doch gab es einige Vorläufer. So veröffentlichte der niederländische Kulturhistoriker und Mediävist Johan Huizinga 1919 unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs sein Werk "Herbst des Mittelalters", in dem die Menschen des Mittelalters als unkontrollierte, emotionale Kinder dargestellt wurden, deren Freude und Wut, Gelächter und Tränen keine Grenzen kannten – bis das Rad der Gefühlskontrolle durch Humanismus, Renaissance und Protestantismus in Gang gesetzt wurde. Bereits vor Huizinga entwickelte der deutsche Philosoph und Historiker Wilhelm Dilthey eine Hermeneutik, die vor wenigen Jahren als veritable "Gefühlsmethode" beschrieben wurde.
Heute leben wir in einer Zeit zunehmender Professionalisierung und Institutionalisierung der Emotionsgeschichte. Werfen wir daher einen Blick auf einige der Stationen, die hierher geführt haben. In den 1970er Jahren spielte die dritte Generation der Annales-Schule und ihr Interesse an Mentalitäten eine wichtige Rolle.
Gewiss müssen all diese Trends im Kontext anderer akademischer Disziplinen sowie sozialer, kultureller, politischer und weiterer Entwicklungen gesehen werden. 1939 zum Beispiel setzte der Soziologe Norbert Elias – unter dem Einfluss des Psychoanalytikers Sigmund Freud – mit seinen Bänden "Über den Prozeß der Zivilisation" eines der einflussreichsten Großnarrative der Moderne als Linearbewegung wachsender Emotionskontrolle in die Welt. Obwohl inzwischen viele sowohl die Linearität als auch die sachliche Richtigkeit seiner Darstellung der Geschichte in Zweifel gezogen haben, bleibt doch der Zeitpunkt, an dem seine Untersuchung einsetzte – das 14. und 15. Jahrhundert – unangefochten.
Ursachen des aktuellen Booms
Die Geschichte des Emotionen-Booms, den wir heute erleben, ist indes das Produkt einer anderen Konjunktur; sie datiert von der Jahrtausendwende. In den Lebenswissenschaften,
All diese Strömungen wurden durch die Ereignisse vom 11. September 2001 verstärkt. "9/11" wurde als Realitätsschock erlebt (und erwies sich in dem Sinne als Katalysator par excellence). Beobachter suchten nach den Motiven der Terroristen und wurden bei fanatischen Emotionen fündig, für deren Verständnis die analytischen Instrumente des Poststrukturalismus nicht mehr ausreichend schienen. Gleichzeitig wandte man sich vom ironischen Duktus ab, in dem postmoderne Geschichte geschrieben worden war; für kurze Zeit war "Ironoklasmus" die Regel – man bedenke auch, wie schwer es ist, ironisch über Gefühle zu schreiben. Was in den USA und andernorts folgte, war eine Politik der Angst, versinnbildlicht in einem Interview von Michael Chertoff, George W. Bushs Minister für Innere Sicherheit, in dem er von einem gut feeling sprach – "einem sicheren Bauchgefühl" –, dass Terroristen schon bald neue Anschläge planten.
Zwischen Sozialkonstruktivismus und Universalismus
In der Tat durchzieht das Gegensatzpaar Sozialkonstruktivismus versus Universalismus die gesamte Emotionsforschung seit dem 19. Jahrhundert: Sind Emotionen historisch konstruiert, kulturell bedingt, anti-essenzialistisch, anti-deterministisch, kulturrelativistisch – oder sind sie pankulturell, hard-wired, unveränderbar, artenübergreifend, physiologisch, essenziell? Und bergen sie ein biologisches Substrat? Diese Binäropposition hat selbst eine lange Geschichte und ist Teil eines weiterreichenden Gegensatzes, nämlich von Natur versus Kultur; dieser wiederum existiert seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, als es in einem zunehmend säkularen Zeitalter nötig wurde, die Welt an etwas festzumachen, das als "harte Natur" angesehen werden konnte. So wünschenswert es wäre, diese Binarität hinter sich zu lassen und zu einer ganzheitlichen Position zu gelangen, so klar sollte man fairerweise sagen, dass sich eine geisteswissenschaftliche Disziplin wie die Geschichte vornehmlich für kulturelle und zeitliche Spezifik interessiert – statt für Universalien, also dem, was Menschen zu allen Zeiten und überall eint.
Und tatsächlich weisen Emotionen im zeitlichen Längsschnitt jede Menge Wandel und Spezifik auf. Da sind zum einen die "verlorenen" Emotionen, das heißt jene, die nicht mehr existieren, etwa die Todsünde acedia (Trägheit, Antriebslosigkeit). Moderne Menschen mögen sich träge fühlen; dennoch würden sie diesen Zustand wohl kaum mit den Symptomen der acedia in Verbindung bringen, von denen im Mittelalter Mönche befallen wurden: Fieber, Gliederschmerzen und eine besondere Betmüdigkeit. Auch würden sie die Wurzeln dieses misslichen Zustands sicher nicht bei Dämonen oder dem Teufel suchen.
Ansatz I: Emotionologie
Ein großer Teil der Emotionsgeschichte widmet sich der Untersuchung von Gefühlsnormen und deren zeitlichem Wandel. Am prominentesten ist hier der Ansatz der "Emotionologie" von Peter und Carol Stearns. Die Stearns sprachen sich dafür aus, in erster Linie die Regeln, die den Ausdruck von Emotionen in einer Gesellschaft oder ihren sozialen Untergruppen steuern, zu analysieren. Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Armeen, aber auch Ehen und Familien waren hier von besonderer Bedeutung. Historische Veränderungen konnten leicht nachgewiesen werden: Im Zuge der antiautoritären Trends der 1960er Jahre etwa wandelte sich der hierarchische Respekt vor Älteren hin zu egalitären, auf Liebe beruhenden Beziehungen – und während des Vietnamkriegs führten Militärreformen in den USA zu einem offeneren Umgang mit soldatischer Angst.
In den Augen der Stearns bilden Emotion und Emotionologie zweierlei, wenngleich voneinander abhängige analytische Einheiten. Die Beziehung zwischen Emotion und Emotionologie unterlag stets Verhandlungen und Veränderungen. Wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Wutausbruch während eines Ehekonflikts gesellschaftlich akzeptiert war, musste das später nicht mehr unbedingt der Fall sein. Verspürte ein historischer Akteur aber bei einem Ehekrach weiterhin Wut, führte die Diskrepanz zwischen Emotion und Emotionologie zu einem Schuldgefühl – dem die historische Forschung unter anderem in Tagebüchern auf die Spur kommt.
Außerdem verändern sich im Lauf der Zeit die Ziele von Emotionen. Joanna Bourke zum Beispiel untersuchte die Veränderung von Angstobjekten: Wovor hatten die Menschen zu welcher Zeit Angst? So wurden viele Europäer und Nordamerikaner in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg von einer kollektiven Panik davor erfasst, lebendig begraben zu werden. Zuhauf gab es Särge mit Schläuchen für eine Sauerstoffversorgung, und Menschen legten in ihrem Testament fest, man solle ihnen nach dem Tod die Kehle durchschneiden. Mit dem Ausbruch des Weltkriegs hörte diese Panik schlagartig auf.
Ansatz II: Emotionale Gemeinschaften
Jenseits der Emotionologie hat sich das Konzept der emotionalen Gemeinschaften als äußerst erfolgreich erwiesen; die Mediävistin Barbara Rosenwein sieht darin "genau die gleichen wie soziale Gemeinschaften – Familien, Wohnviertel, Parlamente, Zünfte, Kloster, Kirchengemeinden. Nur sucht die Forscherin, die sie untersucht, vornehmlich nach Gefühlssystemen, nämlich: was diese Gemeinschaften (und die Individuen in ihnen) als wertvoll oder schädlich für sich definieren und beurteilen; ihre Einschätzungen der Gefühle anderer; die Natur der zwischenmenschlichen affektiven Bindungen, die sie anerkennen; und die Modi des Gefühlsausdrucks, die sie erwarten, fordern, tolerieren und missbilligen."
Emotionale Gemeinschaften sind meist auch soziale Gemeinschaften mit direktem, physischem Kontakt; obwohl auch in sogenannten textuellen Gemeinschaften Menschen über ein Medium und ohne direkte menschliche Beziehungen im Austausch stehen können. In diesem Zusammenhang verwies Rosenwein auf die mnemonischen Techniken des Mittelalters, mit denen Texte nicht nur auswendig gelernt, sondern "verkörpert" und zu einem Teil des Selbst gemacht wurden. Mönche des Mittelalters kommunizierten häufig mit Texten in ähnlicher Weise wie mit Freunden.
Das Konzept emotionaler Gemeinschaften gehört zu den attraktivsten Herangehensweisen hinsichtlich emotionaler Vergemeinschaftung: Es vermeidet die Individualitätsfalle der Psychohistorie, der der Sprung vom Individuum zum Kollektiv nie gelang, und eine Großaggregierung à la Elias, dessen Suche nach dem emotionalen Ton einer ganzen Epoche letztlich nur sehr grobkörnige Bilder lieferte. Und es wiederholt nicht den Stearns’schen Irrtum, anzunehmen, aus Ratgeberliteratur gefilterte emotionale Normen seien per se tatsächlich welche. Wenn es ein Problem mit den emotionalen Gemeinschaften gibt, dann eines, das alle Vergemeinschaftungstheorien betrifft: fehlende Offenheit. Sind die Grenzen emotionaler Gemeinschaften nicht vielmehr so porös, dass diese Grenzen (und folglich die emotionalen Gemeinschaften) zerfließen?
Ansatz III: Konzept der Emotives und emotionales Regime
Andere einflussreiche konzeptionelle Instrumente wurden vom Historiker William Reddy vorgelegt. Unzufrieden mit dem, was man das "poststrukturalistische Dilemma" nennen könnte (der Verlust einer Warte, von der aus sich in einem relativistischen Universum ethisch-politische Urteile treffen lassen), entwickelte Reddy 1997 das Konzept der emotives, um zu zeigen, wie eine emotional codierte Äußerung sich auf ein subjektiv erlebtes Gefühl auswirkt.
Reddy überführte das Gegensatzpaar Universalismus versus Sozialkonstruktivismus in John L. Austins Sprechakttheorie, indem er "konstative" Äußerungen (welche die Welt beschreiben – wie: "Dieser Tisch ist weiß") dem Universalismus und "performative" Äußerungen (welche die Welt ändern können – wie: "Ja, ich will" vor dem Traualtar) dem Sozialkonstruktivismus zuordnete. Wenn ich zum Beispiel sage: "Ich bin glücklich", dann setze ich einen ergebnisoffenen Erkundungsprozess im Gehirn in Gang, der, unter anderem, ein Glücksgefühl steigern und zugleich andere bestehende Gefühle dämpfen kann. Dieser Prozess kann allerdings auch mit anderen, gleichzeitig vorhandenen Gefühlen in Konflikt geraten und auf diese Weise das Glücksgefühl mindern. Reddy führt diese Feedback-Funktion gefühlscodierter Äußerungen auf Erkenntnisse der Kognitionspsychologie und der Neurowissenschaft zurück. Das Konzept des emotive ermöglicht nichts weniger als die Überwindung von Oberflächendiskursen hin zu Aussagen über tatsächliche Erfahrungen.
Ein weiterer Schlüsselbegriff in Reddys Instrumentarium ist der des "emotionalen Regimes", den er wie folgt definiert: "das Bündel normativer Emotionen und offizieller Rituale, Zeremonien und emotives, die diese ausdrücken und einschärfen; die notwendige Untermauerung eines jeden politisch stabilen Systems".
Im Bereich der Emotionsgeschichte stellt Reddys Theoriebildung den bisher kühnsten Ansatz dar. Kritiker seiner Schriften wenden sich vor allem gegen das, was man als "linguistischen Imperialismus" des Konzepts der emotives bezeichnen könnte, das heißt dagegen, nonverbalen Verhaltensweisen (wie Lächeln oder Weinen) die Besonderheit verbaler Äußerungen aufzuzwingen.
Ansatz IV: Emotionale Praktiken
Das jüngste konzeptionelle Angebot der "emotionalen Praktiken" stammt von der Ethnohistorikerin Monique Scheer. Sie geht von der Verkörperung des menschlichen Wissens (embodied cognition) und der Theorie des erweiterten Geistes (Extended Mind Theory, EMT) aus und schlägt vor, das Gros der philosophischen und experimentalpsychologischen Ansätze – die Emotionen entweder im Körper oder im Geist anzusiedeln – hinter sich zu lassen. Beide, die embodied cognition wie auch die EMT, nehmen an, dass Emotionen in beiden (ohnehin nicht voneinander zu trennenden) Sphären gleichzeitig verortet sind.
Doch es sind vor allem Pierre Bourdieus Praxis-Theorie und sein Konzept des "Habitus", auf die Scheer ihren Ansatz stützt. Sie unterstreicht, "dass der Körper kein statisches, zeitloses und universelles Fundament ist, das ahistorische emotionale Erregung produziert, sondern selbst sozial eingebettet, lernfähig, geschult, formbar – also historisch ist".
Scheers emotionale Praktiken werfen auch ein anderes Licht darauf, wie Emotionshistoriker mit Quellen umgehen: "Wie wissen wir, was die Menschen ‚wirklich‘ fühlten, wenn sie es für sich behielten und keine historischen Aufzeichnungen darüber hinterließen? (…) Was, wenn Soldaten an der Front keine Anzeichen von Furcht, Opfer gesellschaftlicher Diskriminierung keine Wut oder Täter keine Reue zeigen? Müssen wir annehmen, dass die Quellen Unredlichkeit oder Leugnung dokumentieren? Es ist natürlich notwendig, hinter den Ausdruck der Ich-Form zu blicken und ein breites Spektrum an Quellen mit Beobachtungen aus vielen verschiedenen Perspektiven heranzuziehen, um zu prüfen, ob die erwartete Emotion in allen fehlt. Explizite Leugnungen oder Verbote bestimmter Gefühle können als emotives, als Indiz dafür betrachtet werden, dass das Gefühl zum vorhandenen Repertoire gehört. Emotionen als Praktiken zu verstehen bedeutet aber auch, den praktischen Gebrauch von Emotionen in einer sozialen Umgebung einzubeziehen (…). Wenn es keinen entsprechenden Grund gibt, eine Emotion zu kommunizieren oder auszuleben oder sich davor zu hüten, dann sollte sie als abwesend betrachtet werden."
Ausblicke
Wie kann die Zukunft der Emotionsgeschichte aussehen? Es ist möglich, dass die Emotionsgeschichte weiterhin ein separates Teilgebiet unter dem Dach der Geschichtswissenschaft bleiben wird; denkbar ist aber auch, dass die Emotion zu einer weiteren "nützlichen Kategorie der historischen Analyse" (Joan Scott) wird – ganz so wie die Kategorien Geschlecht, Ethnizität und Klasse. Es folgen nun einige spekulative Ausblicke auf Felder, in denen weitere Forschungen stattfinden könnten – sowohl innerhalb der Emotionsgeschichte als auch in anderen etablierten Bereichen der Historiografie.
Erstens ist vorstellbar, dass sich die Begriffsgeschichte der Emotionen weiterentwickelt. In diesem Sinne verfolgen Historiker die sich im Laufe der Zeit verändernde Semantik von Emotionstermini, zum Beispiel durch die Untersuchung von Lexika und Enzyklopädien.
Zweitens: Angesichts der Bedeutung der Psychologie für die Rede über Emotionen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der Wissenschaftsgeschichte eine enorme Bedeutung zukommen. Dabei wird es nicht allein darum gehen, auf welchen Wegen Psychologen Ideen über Emotionen entwickelten und wie diese ihren Weg in die Gesellschaft fanden, sondern auch um die Laborpraxis und deren Auswirkungen auf das Gefühlsdenken.
Drittens: Insbesondere im modernen Zeitalter spielen Medien bei der Entstehung und Ausprägung von Emotionen eine Schlüsselrolle.
Viertens: Wirtschaftsgeschichte und die Geschichte der Arbeit können gleichermaßen von einer Emotionsperspektive gewinnen. In der Tat entziehen sich Börsenzusammenbrüche wie der im Jahre 1929 Rational-choice-Erklärungsansätzen – und der moderne Arbeitsplatz lässt sich kaum vorstellen ohne die Spezialwissenschaft der Arbeitspsychologie, die um Emotionen kreist.
Fünftens bilden Oral History und Emotionen ein äußerst fruchtbares Forschungsgebiet. Oral History wirft etwa die Frage nach einem emotionalen Gedächtnis auf.
Was die Quellen einer zukünftigen Emotionsgeschichte angeht, so ist sicher: Mangeln wird es an ihnen nicht. Diese Quellen werden nicht nur sogenannte Ego-Dokumente und explizit normative wie Ratgeberliteratur umfassen, sondern nahezu alle textlichen, auditiven, visuellen, audiovisuellen und anderen Spuren, denen Historiker nachgehen. Sogar das Verhalten der Historiker selbst wird zur wichtigen Quelle der Emotionsgeschichte. In welcher Stimmung trifft der Historiker, die Historikerin auf Dokumente? Welches sind die sensorisch-emotionalen Dimensionen der Quellenarbeit? In welcher Weise wird man geschult, seine Emotionen zu neutralisieren, um das Ideal der "Objektivität" und "Distanziertheit" aufrechtzuerhalten? Bei der Beantwortung solcher Fragen kann die Emotionsgeschichte Anregungen von der Anthropologie erhalten, die in Sachen Selbstreflexivität Maßstäbe gesetzt hat.
Schließen möchte ich mit einem warnenden Hinweis, in welche Richtung sich die Emotionsgeschichte nicht entwickeln sollte. Ich hoffe, die Geschichtswissenschaft wird nicht wie viele andere Geistes- und Sozialwissenschaften vorschnelle Anleihen bei den Neurowissenschaften machen. Diese Gefahr besteht – und es gibt bereits einige Beispiele für das Eindringen affektiver Neurowissenschaft in die Geschichtswissenschaft.
Lebenswissenschaftler selbst kostet es keine schlaflosen Nächte, wenn sich eine ihrer Erkenntnisse als ungültig erweist – sie leben unter dem Damoklesschwert der Replizierbarkeit (ein Experiment muss bei Wiederholung unter denselben Bedingungen zu denselben Ergebnissen führen) und mit einer beschleunigten Zeitlichkeit, in der Wahrheiten sich rasch ändern und das institutionelle Gedächtnis extrem kurz ist. Es sind vielmehr die Historiker, die in Schwierigkeiten geraten, wenn sie ihre Forschungen auf "ewige" und "universelle" Wahrheiten der Lebenswissenschaften gründen, die sich später als falsch herausstellen. Im Übrigen ist das Wort "falsch" hier durchaus zutreffend, denn es ist wichtig, im Auge zu behalten, dass eine andere Erkenntnistheorie als die von "richtig/falsch" in den Lebenswissenschaften undenkbar ist; ein poststrukturalistisches Laisser-faire ist hier fehl am Platz. Das erkenntnistheoretische Terrain, das man betritt, wenn man bei den Neurowissenschaften borgt, besteht aus einer eisernen Binarität von wahr und falsch. Wenn die Emotionsgeschichte sich daraus fernhält – oder aber dieses Terrain nur ausgerüstet mit ausgezeichneten Navigationsinstrumenten und einem kenntnisreichen, skeptischen Blick auf seine Abgründe und Fallen betritt –, könnte ihre Zukunft ertragreich sein.