Die Geschichte organisierter Fanszenen in Deutschland
Zur symbolischen Aufwertung des Selbst mit Hilfe einer Gemeinschaft muss Letztere erst erfunden werden. Im Falle des modernen Fußballs ist die Geschichte der Aufladung von Symbolen und Farben mit Traditionen und Leerformeln, die so weit reichen, dass sich möglichst viele damit identifizieren können, noch sehr jung.
Zwar bedeutete die Professionalisierung des höherklassigen Fußballs historisch eine Öffnung für Spieler und Zuschauer aller sozialer Schichten,
Kurze Protestgeschichte
Mit der Einführung der Bundesliga, der im Laufe ihrer Geschichte fortschreitenden Kommerzialisierung, der damit verbundenen sozialen Aufwertung des Fußballs sowie der regionalen Ausdehnung von Ligenkonstellationen änderten sich vielerorts auch Lokal- und Derbyrivalitäten.
Solche Techniken von Hooligans und anderen, situativ zu Gewalt neigenden "Fans" sind durchaus als indirekte Folge beziehungsweise Nebeneffekt von Professionalisierung und Kommerzialisierung und der damit einhergehenden Disziplinierung von Fankulturen zu betrachten. Die anteilig zwar nur im Promillebereich messbare, aber medial äußerst auffällige Hooligangewalt geriet in der Folge zum Anlass für eine völlige Trennung gegnerischer Fangruppen durch entsprechende bauliche und polizeiliche Maßnahmen, wodurch sich jedoch nicht nur potenzielle Gewalttäter, sondern alle Fußballfans (vor allem bei Auswärtsspielen) in ihrer Bewegungsfreiheit zunehmend eingeschränkt sahen. Insbesondere im Vorfeld der Europameisterschaft 2000 in Belgien und den Niederlanden sowie bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland wurden derlei Maßnahmen von organisierten Fußballfans verstärkt wahrgenommen und vielfach als Sicherheitshysterie kritisiert.
Verschränkt mit der als Gentrifizierung empfundenen Herausdrängung der "einfachen Fans" zugunsten zahlungskräftiger Kundschaft (etwa durch Reduzierung der Stehplätze, Einführung von VIP-Logen, Erhöhung der Ticketpreise), formierten sich ab Anfang der 1990er Jahre kritische Stimmen und Zusammenschlüsse von Einzelfans und Fangruppen.
Wichtige Mittel der Interessenvertretung waren dabei zum Beispiel die eigenen Szenepublikationen, Aktionen mit Bannern, Flugzetteln und Unterschriftenlisten in und um Stadien, Fankongresse, thematisch unterlegte Konzertveranstaltungen, lokale Gremien- und Lobbyarbeit in den Fanszenen sowie gezielte Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Zusammen mit ähnlichen Initiativen aus dem Fanzine- und Fanclubumfeld und sozialpädagogisch orientierten Fanprojekten waren das BAFF und andere lokale Faninitiativen mit ihren Aktionen besonders in den 1990er Jahren in fanmultiplikatorisch und gesellschaftsdiskursiv prägender Hinsicht wichtige Vorreiter für partizipativere und menschenrechtsorientiertere Fankulturen. Ihr zum Teil ironisch-distanzierter, humorvoller Einsatz für ein Self-Empowerment junger Fußballfangruppen passte sich ungewollt in die einsetzende Gentrifizierung des Fußballs ein: Ihr menschenrechtsorientiertes Engagement implizierte auch kulturalisierende Momente, die dem Produkt Fußball in seinem feuilletonisierten Image und damit der Ansprache neuer Zuschauergruppen durchaus zuträglich waren.
Mit ProFans etablierte sich zu Beginn des neuen Jahrtausends eine nächste, eher von den Ultraszenen getragene Protestorganisation, die aus der Kampagne "Pro 15:30" für den Samstag als Kernspieltag und fanfreundliche Anstoßzeiten hervorging. Auch unter dem bundesweiten Dach Unsere Kurve (UK) fanden Zusammenschlüsse von Fanclubs Aufmerksamkeit von Vereinen und Verbänden. Auf europäischer Ebene spielten deutsche Fußballfans und Fanprojekte seit dem Ende der 1990er Jahre zudem eine erhebliche Rolle beim Aufbau des Netzwerks Football Against Racism in Europe (FARE), beim antirassistischen Ultra-Zusammenschluss Alerta sowie bei der Fanvertretung Football Supporters Europe (FSE). Über Lobbyarbeit beim europäischen Fußballverband UEFA und beim Weltverband FIFA wirken sie auf die nationalen Fandiskurse zurück.
Trotz ihrer ausgeprägten Freund-Feind-Einstellungsmuster koordinieren die Ultraszenen auch bundesweite Zusammenschlüsse, etwa für Kampagnen wie "Kein Zwanni für nen Steher" gegen steigende Ticketpreise oder für Demonstrationen wie "Kein Kick ohne Fans. Für den Erhalt der Fankultur" 2010 in Berlin. Nach einer erneuten Hysteriewelle um Gewalt und Pyrotechnik in und um Fußballstadien kulminierten ihre Bemühungen 2012 vorläufig in der Initiative "12:12 – Ohne Stimme keine Stimmung". Auslöser war ein von der Deutschen Fußball Liga (DFL) erarbeitetes, neues Sicherheitskonzept ("Für ein sicheres Stadionerlebnis"), das unter anderem verschärfte Einlasskontrollen vorsah und von vielen Fans als unangemessen kritisiert wurde. Nachdem Dialogversuche gescheitert waren, rief "12:12" die Fans dazu auf, an mehreren Spieltagen bis zur Entscheidung über das Konzept bei allen Bundesligaspielen jeweils die ersten 12 Minuten und 12 Sekunden zu schweigen. Da andere Fangruppen und die eher "Stimmung konsumierenden" Zuschauer sich solidarisch zeigten, führte die Aktion in den meisten Stadien tatsächlich zeitweilig zu gespenstischer Stille. Zwar wurde das Konzept am 12. Dezember dennoch beschlossen, aber mit dem Stimmungsboykott hatten die Fans nicht nur enorme Aufmerksamkeit erzeugt, sondern vielfach auch größeres Verständnis für ihre Anliegen.
Ultras: Ambivalente Szene
Das provokative Aufbegehren der seit den 1990er Jahren aufkommenden Ultraszenen mit Identitätskrücken wie "Tradition" und "Authentizität" kann als eine jugend(sub)kulturelle Reaktion auf abnehmende Identifikationsangebote des höherklassigen Fußballs gedeutet werden. Mit dem zunehmenden Wandel des Stadionpublikums in den 1990er Jahren verschob sich auch die Bedeutung von alteingesessenen Fanclubs beziehungsweise "Kuttenträgern". Während Fanclubs zunehmend an Einfluss in den Fankurven einbüßten, stieg ihre Anzahl und ihr Einfluss gegenüber den Vereinen als verbindlicher, durchaus konsumorientierter Zuschauerstamm.
In ihrer jugendkulturellen Prägung entwickelten Ultras ein kritischeres Verhältnis zum Verein. Sie entdeckten sich als eine identitätscharakteristische Konstante und bildeten sozusagen einen Verein im Verein, nach dem Motto: "Spieler kommen, Trainer gehen – wir bleiben." Im Zentrum stehen seitdem die vielfältigen Formen ihrer organisierten Stimmungserzeugung als Reaktionen auf Stimmungsflauten seit Mitte der 1990er Jahre. Dies verlief stark inspiriert von italienischen Fankurven: Schillernde und stets wechselnde Choreografien mit Fahnen, Bannern, Spruchbändern, Doppelhaltern, vielfältigen Gesängen sowie "Vorsängern" mit Megafon auf dem Zaun als Garant für Gemeinschaftserleben und abrufbereite, durch den Ort vorstrukturierte Emotionalität. Darüber hinaus prägte sich eine Wettbewerbsmentalität in Sachen Stimmung ebenso aus wie eine häufig elitäre Selbstwahrnehmung der eigenen Gruppe.
Ultras empfinden sich inzwischen als Stichwortgeber der Kurven, die zwar nur einen minimalen Teil der Zuschauerschaft ausmachen, aber die Fankurve lautstark mitreißen können: "Ultras", so der Fanforscher Jonas Gabler, "haben einen gewissen Vertretungsanspruch, sie wollen die Fanszene nach außen und nach innen prägen".
Zur Entwicklung eines distinktiven Stils orientieren sie sich am sozialen Handeln und aufrührerischen Habitus anderer Jugend(sub)kulturen. Dieses Identitäts-Patchwork ermöglicht den Einzelnen trotz der Beschwörung von Gemeinschaft weiterhin die Pflege ihrer individuellen Anteile und Positionierungen. Diese fließenden Ausdifferenzierungsprozesse machen Ultragruppen für Jugendliche als Suchbewegung interessant. In ihrer inneren Gruppenvielfalt schaffen sie es, Wünsche nach Zusammenhalt, Nähe, Loyalität, Solidarität und größerem Selbstwertgefühl zu befriedigen.
So haben sich Self-Empowerment und eine proaktive Faninteressenvertretung etabliert, die sich gegen übertriebene Disziplinierung und Einschränkung des "Freiraums Stadion" wehrt. Gleichzeitig wirken Fanorganisationen über Wohltätigkeitsaktionen, gemeinwesenarbeitsähnliches Ehrenamt mit Hilfe zur Selbsthilfe regionalgesellschaftlich: von der Unterstützung bei Hausaufgaben und dem Schreiben von Bewerbungen bis hin zur Unterstützung von gewerkschaftlichen Streiks und sozialen Inklusionsbestrebungen für Asylsuchende. In zahlreichen Fanszenen haben Ultras durch ihr Verhalten antirassistische Gruppenkonsense durchsetzen können und organisieren Aktionen gegen Antisemitismus, Antiziganismus, Nationalismus, (Hetero-)Sexismus und Homophobie.
Durch ihre Fragilität, Momenthaftigkeit im Setting eines stets abrufbaren Klimas "Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" (Wilhelm Heitmeyer) können einzelne Teilgruppen jedoch ebenso leicht ins Rechtsoffene kippen. Erschwert wird der Kampf um die Positionen noch durch den raschen Wechsel von handelnden Personen ("Lautsprecherpersönlichkeiten"), die in drei Jahren nicht mehr unbedingt die gleiche soziale Gruppenposition innehaben müssen: Ultragruppen sind mehrheitlich temporär begrenzte Durchlaufzentren für prägende Phasen ihrer Mitglieder in der Austarierung von intrapersonellen und sozialen Identitäten. Dass man in zahlreichen Gruppen noch weit von antihomophoben und antisexistischen Konsensen entfernt ist und einzelne Gruppenteile immer wieder Akzeptanz für rechtsoffene Positionen äußern können, zeigt die gegenwärtige Entwicklung. Homophobe Sprüche und Banner werden krude, zum Teil unreflektiert, aber auch gezielt als "Humor" getarnt – etwa wenn die rechtsoffene Aachener Ultragruppe "Karlsbande" im März 2013 in Anspielung auf den Namen "Karl-Liebknecht-Stadion" des SV 03 Babelsberg ein großes Blockbanner spannt, auf dem steht: "Euer Karl ist unser Liebesknecht". Dazu verstecken sich viele unter dem zweifelhaften Schutzmantel "Keine Politik im Stadion": So wird menschenrechtsorientiertes Engagement bisweilen als "Parteipolitik" abqualifiziert und werden zivilcouragierte Menschen als "linksorientierte Nestbeschmutzer" beschimpft.
Hegemoniale Männlichkeit und Gewaltförmigkeit bei Ultras
Partizipative Aushandlungen befinden sich im ständigen Balancekampf mit den auffälligen, durchsetzungsfähigen Köpfen der Gruppe und finden häufig auf der Folie hegemonialer Männlichkeit
Umringt von imaginären Hackordnungen und hegemonialer Männlichkeit war und ist es besonders für Frauen schwer, in den fancluborientierten Szenen eigene (Gruppen-)Identitäten zu entfalten. Bis heute müssen sie – wie auch junge Männer – durch die diskursive Schule hegemonial männlich vorgeprägter Fanstrukturen und Hierarchien, um sich zu etablieren. Mit dem Unterschied, dass Frauen meistens Fans auf Bewährung bleiben: Ihr Interesse droht ständig hinterfragt und auf Authentizität überprüft zu werden. Im Gegensatz dazu steht die "patriarchale Dividende" der Männer,
Dennoch fügen sich zahlreiche Frauen heutzutage nicht mehr in die ihnen vielfach zugedachte, potenzielle Opferrolle. In organisierten Fanszenen versuchen sie mit unterschiedlichen Herangehensweisen klassische wie subtile (Hetero-)Sexismen zu enttarnen und Alternativen zu schaffen.
Immer bezeichnender werden dabei territoriale, sozialdarwinistisch geprägte Ausdeutungen gegenüber anderen Fangruppen. Ultras erfahren sich als jugend(sub)kulturell geprägte Gruppen in einer multiplen Druckkonstellation aus "Wir" und "Die": Sie und die Ultras des anderen Vereins, sie und "die Polizei", sie und "die Medien", sie und "der DFB und die DFL", sie und "die Politik", sie und "ihr" anders interessengesteuerter Verein, sie und andere Fans des eigenen Vereins, die den Ultra-Interpretationen von Fantum nicht immer wohlwollend gegenüberstehen.
Ultras haben sich nicht gegründet, um aktiv Gewalt zu suchen, sondern um Stimmung zu organisieren. Ihre Ausprägungen von Gewaltförmigkeit unterscheiden sich erheblich von denen der besonders in den 1980er und 1990er Jahren aktiven Hooligans. Auf das nach außen sehr organisiert, zum Teil uniform wirkende Auftreten von Ultragruppen, ihre expressive, zum Teil brachial wirkende Selbstinszenierung, ihr Aufgreifen überhöhter Freund-Feind-Konstellationen mit Revierdenken und Eroberungsritualen
Ohnmächtig gegenüber der als entfremdend empfundenen Kommerzialisierung des Fußballs entwickelte sich bei vielen Ultras eine Art resistance identity,
Seismografen in der Kurve
All diese Merkmale verdeutlichen: Es ergibt Sinn, Ultras weniger als eine homogene Gruppe, sondern vielmehr als "Temporäre Autonome Zone" zu begreifen.
Ultragruppen können Masken je nach Tagesform und auf die Außensituation reagierend wechseln – zum Teil können das ihre einzelnen Mitglieder als Individuen. Ultras haben gelernt, sich in ihrem Auftreten und Verhalten kreativ zu wandeln; sie können positiv wie negativ verstärkend wie das innere Rädchen eines Kugellagers adäquat auf die Bewegungen des äußeren Rades aus den funktionstragenden Institutionen (Vereine, DFB und DFL, Politik und Polizei) innovativ reagieren und teilweise antizipieren. So gesehen bleibt der Weg organisierter Fanszenen mit den Ultragruppen als seismografische Faktoren auch in Zukunft kurvenreich und wandelbar.