Seit den 1990er Jahren ist es üblich geworden, sich für historisches Unrecht öffentlich zu entschuldigen. Der Papst bat um Entschuldigung für die Inquisition, Bill Clinton für den Sklavenhandel, die Schweiz für die Einlagerung des Nazi-Golds, die Queen für die Unterdrückung der Maoris in Neuseeland, der französische Präsident Jacques Chirac für die Dreyfus-Affäre.
Der hier angedeutete Trend zu politischen Entschuldigungen kann als Ausdruck eines politisch-moralischen Fortschritts verstanden werden. Einige Autoren sehen in ihm den Auftakt zu einer neuen Versöhnungspolitik und die Entstehung einer normativen Ordnung, in der sich Kollektive auch für lange vergangene Taten rechtfertigen müssen.
Vorschnelle Urteile sollten aber vermieden werden. Entscheidend ist, politische Entschuldigungen zu verstehen. Was ist überhaupt Schuld, und welche Formen der Sühne gibt es in der internationalen Politik? Warum sind einige Staaten eher bereit sich zu entschuldigen als andere? Warum wird bei einigen Untaten um Entschuldigung gebeten, bei anderen aber nicht? Und welchen Einfluss haben Entschuldigungen tatsächlich auf den Versöhnungsprozess zwischen ehemals verfeindeten Akteuren?
Es geht bei diesen Fragen, wohlgemerkt, nicht um ein selbstgerechtes Wetteifern um die bessere Versöhnungspolitik und ebenso wenig um den Vergleich von Kriegsverbrechen und das Aufrechnen von Schuld und Entschuldigung. Es geht einzig um den Vergleich historischer Fähigkeit, eigene Untaten – wie ähnlich oder unähnlich auch immer – zu bekennen, Verantwortung zu übernehmen und politisch um Entschuldigung zu bitten.
Politische Schuld und Sühne
Nach wie vor ist Karl Jaspers mit seinem 1946 erschienenen Buch "Die Schuldfrage" eine maßgebliche Instanz, wenn es um die Frage geht, was politische Schuld ist.
So plausibel Jaspers Einteilung zunächst aussieht, so gibt es doch eine Reihe von Problemen. Insbesondere die Reduzierung politischer Schuld auf das Dekret des Siegers und die Verkürzung moralischer Schuld auf das Gefühl von Individuen erscheinen zweifelhaft. Es scheint eine Kategorie zu fehlen, ohne die man den Trend zur Entschuldigungspolitik nicht verstehen kann, nämlich die politisch-moralische Schuld von Kollektiven. Und Jaspers selbst gibt auf diese Kategorie der Schuld einen Hinweis, wenn er am Ende seines Essays von einem "Analogon von Mitschuld" spricht, das alle Deutschen an den Ereignissen des "Dritten Reichs" hätten: "Nicht die Haftung des Staatsangehörigen, sondern die Mitbetroffenheit als zum deutschen geistigen und seelischen Leben gehörender Mensch, der ich mit den anderen gleicher Sprache, gleicher Herkunft, gleichen Schicksals bin, wird hier zum Grund nicht einer greifbaren Schuld, aber eines Analogons von Mitschuld."
Die Instanz, vor der sich dieses Kollektiv zu verantworten hätte, wäre vielleicht mit dem Begriff human consciousness aus dem Völkerrecht zu umschreiben. Es ist mehr als das individuelle moralische Räsonieren, und etwas ganz anderes als das vom Sieger dekretierte Verdikt. Es sind die im Rahmen der Weltöffentlichkeit diskursiv hergestellten ethischen und politischen Grundprinzipien, die normative Ordnung der Welt, wenn man so will. Die angemessene Sühne ist, so meine These, die öffentliche politische Entschuldigung.
Ein zweites Problem bei Jaspers betrifft die Tatsache, dass er die Frage historischer Schuld für Ereignisse, deren Zeitzeuge man nicht selber ist, ausklammert. Angesichts der überwältigenden Problematik der "deutschen Schuldfrage" 1946 ist das verständlich. Für die langfristige Bearbeitung und "Heilung" von historischem Unrecht ist die Frage aber von entscheidender Bedeutung, in welchem Sinne auch die Nachgeborenen von Schuld und Sühne betroffen sind. Jaspers bietet deshalb zwar einen guten Ausgangspunkt für Überlegungen zu Schuld und Sühne, muss aber an wichtigen Punkten ergänzt werden.
In den internationalen Beziehungen haben sich spezielle Formen der Sühne für die unterschiedlichen Formen der Schuld etabliert. Die klassische Form, mit Schuld in der internationalen Politik umzugehen, ist, dem Verlierer eines Kriegs die Verantwortung und die Kosten des Konflikts aufzubürden. Reparationen dienen in diesem Sinne dazu, eine neue Machtkonstellation symbolisch zu festigen und einen einseitigen Ausgleich für erlittenes Unrecht zu erhalten. Eine andere Form der Sühne ist mit den Tribunalen nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg und Tokio eingeführt worden. Sie dienten der De-Kollektivierung von politischer Schuld und der individuellen Verfolgung krimineller Verstöße gegen Recht und humanitäre Grundprinzipien. Dem gleichen Ziel, kriminelle individuelle Schuld insbesondere bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu verfolgen, dient der Internationale Strafgerichtshof, der 2002 seine Arbeit in Den Haag aufnahm. Eine dritte Form der Sühne hat sich zunächst in Lateinamerika, dann in Afrika etabliert, und zwar mit den Wahrheitskommissionen, die nicht täterzentriert, sondern opferzentriert arbeiten und eine Überwindung des Konflikts durch Heilung und Versöhnung zum Ziel haben. Die sich nun abzeichnende Praxis internationaler politischer Entschuldigung scheint eine neue Form der Sühne zu sein, die einer kollektiven politisch-moralischen Schuld entspricht.
Politische Entschuldigungen
Aber gibt es so etwas überhaupt oder handelt es sich um ein Phantom? Die Beantwortung dieser zunächst so einfach erscheinenden Frage hat ungeahnte theoretische, philosophische und theologische Weiterungen, die hier nur angedeutet werden können. Denn um öffentliche politische Entschuldigungen verständlich zu machen, muss nicht nur geklärt werden, was, erstens, Entschuldigungen überhaupt sind, sondern auch, zweitens, ob es kollektive Akteure gibt, die als Subjekte für Entschuldigungshandlungen in Frage kommen. Es stellt sich drittens die Frage, inwiefern es kollektive politisch-moralische Schuld gibt und ob viertens eine solche Schuld auch für Vergangenes besteht, wenn die individuellen Täter längst nicht mehr leben. Darauf aufbauend lässt sich fünftens fragen, ob kollektive Reue denkbar ist, und ob sie sechstens in öffentlicher Form den ehemaligen Opfern als Entschuldigung entgegengebracht werden kann. Schließlich ergibt sich daraus siebtens die Frage, ob die Opfer (individuell oder kollektiv) die Entschuldigung annehmen, sie, achtens, sogar Schuld vergeben können und ob das, neuntens, auch dann möglich ist, wenn sie selber nur die Nachfahren der tatsächlichen Opfer sind.
An jedem einzelnen Punkt dieser Argumentationskette kann man begründeten Einspruch erheben, um zu zeigen, "dass es die Moral nicht gibt", wie es Hermann Lübbe ausdrückte, "die es erlaubte, die Angehörigen eines gegenwärtigen Staatsvolks mit ihren höchst differenten kontingenten Herkunftsgeschichten als verantwortliche Erben von Vätersünden zu identifizieren".
Aber beginnen wir mit der noch relativ einfachen Frage, was eine Entschuldigung überhaupt ist. Eine Entschuldigung ist die Anerkennung einer begangenen Verletzung oder eines Schadens mit dem Eingeständnis der Verantwortung und der Bitte um Vergebung.
Eine geglückte Entschuldigung ist eigentlich erst mit der Vergebung oder zumindest mit der Annahme der Entschuldigung durch das Opfer erreicht.
Was auf individueller Ebene noch relativ einleuchtend ist, wird auf der Ebene sozialer Kollektive problematisch. Gibt es überhaupt kollektive Subjekte, die Verbrechen begehen und anderen kollektiven Subjekten Unrecht zufügen können? Theoretisch ist diese Frage höchst umstritten. Vertreter des methodologischen Individualismus behaupten, dass alle sozialen Phänomene auf die Handlungen individueller Akteure reduziert werden können. Berühmt ist Max Webers Position, es gäbe so etwas wie kollektive Persönlichkeiten, die handeln könnten, gar nicht.
Aber können plurale Subjekte auch Verantwortung haben und, sofern sie dieser nicht gerecht werden, "schuldig" werden?
Überträgt sich aber so eine Verantwortung oder Schuld auch noch auf spätere Generationen? Es kann ja eingewandt werden, dass man auch moralisch kaum für etwas schuldig sein kann, was man nicht selber getan hat, und schon gar nicht, wenn die Tat zu einer Zeit begangen wurde, zu der man noch gar nicht gelebt hat. Die Schuld an einem kollektiven Vergehen wäre dann spätestens mit den letzten Zeitgenossen der Tat vergangen.
Es ist bemerkenswert, dass diese Argumentation insbesondere von denen vorgebracht wird, die gleichzeitig behaupten, dass es sehr wohl möglich sei, für die eigene Nation Stolz zu empfinden. Man soll also stolz sein auf die Nation, aber für sie keine Schuld empfinden können. Allerdings scheint das Eine nicht ohne das Andere zu haben zu sein. Das gilt auch für Kritiker der Nationalstolz-These, die argumentieren, man könne nicht stolz auf die Nation sein, weil man selber gar nichts dazu beigetragen hat, worauf man stolz sein könne. Dies äußern zumeist diejenigen, die eine kollektive Schuld für die Vergangenheit sehr wohl für möglich halten. Beide Argumentationen sind meines Erachtens gleichermaßen kurzschlüssig. Wenn die Möglichkeit kollektiven (beispielsweise nationalen) Stolzes anerkannt wird, dann muss auch die Möglichkeit kollektiver (nationaler) Schuld und Reue akzeptiert werden. Denn in dem Maße, in dem man sich als Mitglied eines Kollektivs versteht, ist man auch Teilhaber beider Dinge: seiner Leistungen und seiner Untaten, seiner Größe und seiner Schuld, auch wenn diese aus Zeiten herrühren, in denen man noch nicht gelebt hat.
Nun ist die Frage, ob diese kollektive Schuld auch kollektiv bereut werden kann, und, wenn ja, wie diese Reue aussehen soll. Man kann sich kollektive Reue sehr unterschiedlich vorstellen.
Wie aber lässt sich kollektive Reue als Entschuldigung öffentlich kommunizieren? Mitglieds-Reue ist offenbar nur als individuelle oder persönliche Entschuldigung für die Taten der Gruppe denkbar. Auch ein Nachgeborener kann sich deshalb noch für die Taten der Gruppe persönlich entschuldigen. Wirklich kollektive Reue als Gruppen-Reue muss dagegen von der ganzen Gruppe vermittelt beziehungsweise durch einen offiziellen Repräsentanten überbracht werden. Dies ist der Grund, warum politische Gruppen-Reue die öffentliche Entschuldigung eines Präsidenten oder einer Präsidentin erfordert (oder einer anderen hohen Persönlichkeit) und zwar nicht in einem persönlichen Bekenntnis, sondern in offizieller Mission und Repräsentanz für die gesamte Gruppe. Erst dann lässt sich von einer internationalen politischen Entschuldigung sprechen.
Die Frage, ob solche Entschuldigungen auch angenommen werden können und politische Schuld vergeben werden kann, wirft noch einmal andere Fragen auf, denen hier nicht nachgegangen werden soll.
Entschuldigung und Versöhnung
Unter welchen Bedingungen tragen Entschuldigungen zur Versöhnung bei? Nicht jede Entschuldigung ist erfolgreich. Manch unvollständig gegebene oder rechtfertigende Entschuldigung führt zum Gegenteil ihrer Absicht und zu neuem Misstrauen. Offenbar gibt es "Kriterien guter Entschuldigung", deren Beachtung zwar keine Garantie für Versöhnung bietet, aber die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Reue als aufrichtig anerkannt, die Bitte um Vergebung angenommen und ein neues Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann.
Japan und Deutschland spielen in der Debatte um politische Entschuldigungen eine zentrale Rolle. Sie gelten, wie etwa in Ian Burumas Buch "Erbschaft der Schuld",
Und doch trifft zu, dass die Versöhnung Deutschlands mit den Opfern des Zweiten Weltkriegs weiter fortgeschritten ist als die zwischen Japan und den einstmals besetzten Ländern in Asien. Die Entschuldigungen deutscher Politiker zeigen eine zunehmende Aufrichtigkeit des Schuldbekenntnisses und wachsende Vorbehaltlosigkeit der Bitte um Vergebung. Während Konrad Adenauer im September 1951 noch deutlich rechtfertigende Töne anschlug und behauptete, "die große Mehrheit des deutschen Volkes" habe die Verbrechen verabscheut, und Richard von Weizsäcker 1985 zwar eine historische Verantwortung vor der Geschichte, aber die Unmöglichkeit kollektiver Schuld betonte, bat Johannes Rau im Jahr 2000 in Jerusalem "um Vergebung für das, was Deutsche getan haben, für mich und meine Generation, um unserer Kinder und Kindeskinder willen, deren Zukunft ich an der Seite der Kinder Israels sehen möchte". Trotz der deutlichen Unterschiede war jede dieser Reden nicht nur ein angemessener Ausdruck des jeweils zu der Zeit geforderten Bedauerns, sondern auch ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Bereitschaft, sich zur Verantwortung für die Vergangenheit zu bekennen.
In Japan ist die Entwicklung widersprüchlicher und geht mit heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen einher. In den Dokumenten, die das Kriegsende im Pazifik besiegelten, ist von Aggression oder Kriegsschuld nicht die Rede. Erst in der gemeinsamen japanisch-chinesischen Erklärung von 1972 bekannte sich Japan dazu, "dass es dem chinesischen Volk durch den Krieg großen Schaden zugefügt" habe. Aber die sogenannte Schulbuchaffäre 1982 und ein missglückter Versuch von Ministerpräsident Yasuhiro Nakasone (1982–1987), einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu setzen, machten die Zeit der japanischen Besetzung zu einem diplomatischen Streitthema. Erst nach dem Tode Kaisers Hirohito 1989 konnten zaghafte Versuche unternommen werden, die historische Verantwortung Japans anzuerkennen. Als 1994 mit Tomiichi Murayama ein Sozialdemokrat Premierminister (bis 1996) wurde, waren die Hoffnungen groß. Aber langwierige Verhandlungen mit dem konservativen Koalitionspartner LDP verwässerten die geplante Erklärung so sehr, dass sie eher als Rechtfertigung denn als Entschuldigung wahrgenommen wurde. Die internationale Empörung konnte Murayama nur durch eine persönliche Erklärung zum 50. Jahrestag der Kapitulation auffangen, in der er seine "tiefe Reue" und "Entschuldigung" gegenüber den Kriegsgegnern von einst ausdrückte. Insbesondere der zweite Ausdruck ging weit über das bislang übliche Vokabular hinaus und wurde von Beobachtern als "historischer Durchbruch" bewertet.
Die Entschuldigungen Japans sind bislang regelmäßig hinter den Erwartungen der Opfer und der internationalen Gemeinschaft zurück geblieben. Zudem wurden sie häufig von konträren Äußerungen aus Regierungskreisen relativiert und konterkariert. Damit litt ihre Glaubwürdigkeit und so auch ihre Effektivität. Deshalb bleibt die historische Schuld Japans auf der internationalen Agenda und kann in Konfliktfällen mit China, wie denen um die Sengaku/Diaoyu- beziehungsweise Takeshima/Dokdo-Inseln, von Hardlinern auf beiden Seiten jeder Zeit zur Agitation der Gesellschaft und zur Verschärfung diplomatischer Krisen genutzt werden.
Fazit
Bei politischen Entschuldigungen zählt jedes Wort. Sorgsam vorgebrachte Entschuldigungen können Versöhnungsprozesse befördern und Misstrauen überwinden. Unaufrichtige oder unvollständige Entschuldigungen können dagegen Konflikte verschärfen und neues Misstrauen erzeugen. Die Beispiele Deutschland und Japan, aber auch andere Fälle zeigen, dass bestimmte Kriterien erfüllt sein müssen, damit Entschuldigungen als glaubwürdig wahrgenommen werden und zur Versöhnung beitragen. Zunächst muss ein Schaden oder eine Normverletzung festgestellt und anerkannt werden. Viele Versöhnungsprozesse scheitern schon daran, dass die ehemaligen Gegner das Leiden der Gegenseite nicht anerkennen oder kleinreden. Zweitens und drittens muss eine Verursachung anerkannt und eine politische Verantwortung übernommen werden. Häufig wird zwar ein Schaden eingeräumt, aber die eigene Verantwortung geleugnet. Viertens muss eine Bitte um Vergebung erfolgen, und das auch auf die Gefahr hin, dass dieser Bitte nicht entsprochen werden kann. Manch politische Entschuldigungen werden in langwierigen diplomatischen Verhandlungen formuliert. Die symbolische Kraft und der emotionale Wert einer Entschuldigung geht in diesem Prozess häufig verloren. Fünftens ist ein Versprechen notwendig, dass sich die Untaten nicht wiederholen werden. Solche Versprechen können auch implizit, etwa in Form der gemeinsamen Verantwortung für die zukünftigen Beziehungen, formuliert werden. Sechstens sind schließlich Wiedergutmachungen nötig, seien sie symbolischer oder materieller Natur.
Diese Liste ist keineswegs erschöpfend und, wie gesagt, keine Garantie für gelingende Versöhnung. Auch die politischen Rahmenbedingungen wie der Status desjenigen, der die Entschuldigung ausspricht, der Ort der Entschuldigung, der Stand der Beziehungen und die Bereitschaft des Opfers, auf die Entschuldigung einzugehen, spielen eine Rolle. Festzuhalten aber bleibt, dass trotz ihres umstrittenen theoretischen Status kollektive politische Entschuldigungen ein wichtiger Bestandteil politischer Versöhnungsprozesse sein können.