Wann wird Religionskritik zum Instrument zur Ausgrenzung, Diffamierung oder gar Hetze gegenüber Angehörigen einer Religionsgemeinschaft? Sowohl das Recht auf freie Meinungsäußerung, die der Religionskritik zugrunde liegt, als auch die Religionsfreiheit und der Schutz vor Ausgrenzung und Diffamierung von Religionsgemeinschaften begründen sich in der unveräußerlichen Würde des Menschen, die sich aus unterschiedlichen normativen Quellen speist und im Grundgesetz festgeschrieben ist. Es geht hierbei um den Schutz der Religionsgemeinschaft als ein Kollektiv von Individuen und nicht den Schutz der Religion als abstraktes Konzept. Ob und inwiefern diese beiden zumindest diskursiv voneinander abgrenzbar sind, ist eine weitere Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt. Allein die damit verbundene Begriffsdiskussion unter Berücksichtigung der Bedingungen einer sich zunehmend ausdifferenzierenden "postmodernen" Gesellschaft würde weit mehr Raum erfordern. Daher ist Ausgangspunkt folgender Überlegungen das Spannungsverhältnis zwischen konstruktiver Religionskritik und Schutz vor Diffamierung. Konstruktiv meint in dem Zusammenhang eine Form der Kritik, die durch die Hinterfragung religiöser Lehren, Praxen und Institutionen zum Abbau von Diskriminierungsmechanismen beiträgt. Offenbart hat sich dieses Spannungsverhältnis in jüngerer Zeit unter anderem im Zusammenhang mit der "Islam-Debatte".
In einer unüberschaubaren Menge an Debattenbeiträgen wird "der Islam" dabei einer kritischen Überprüfung unterzogen. Konkrete Fragestellungen lauten etwa: Sind Demokratie und Islam kompatibel? Hat der Islam ein Gewaltproblem? Sind Geschlechtergerechtigkeit und Islam miteinander vereinbar? Wenn damit die Frage intendiert wird, ob eine Religion – in dem Fall "der Islam" – aus der Perspektive der freiheitlichen demokratischen Grundordnung problematische, kritikwürdige Aspekte aufweist, ist sie als solche eine zunächst legitime und aus Sicht eines progressiven Menschen- und Gesellschaftsbildes wichtige Frage. Die Problematik der darauf fußenden Debatte besteht jedoch darin, dass regelmäßig eine essenzialisierende Betrachtungsweise über "den Islam" eingenommen wird, bei der es nicht um historisch, gesellschaftlich, politisch und religiös kontextualisierte Einzelaspekte geht, sondern um "den Islam". Doch wie viel Raum für eine differenzierte Auseinandersetzung lässt eine Kritik, die in apodiktischer Weise die kategorische Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie postuliert? Nicht selten werden dekontextualisierte Thesen vorgetragen, welche diese Unvereinbarkeit anhand beispielsweise der Geschlechterfrage oder der Strafempfehlungen "der Scharia" behaupten, die sie dem Gedanken des Gleichheitsgrundsatzes oder der Religonsfreiheit das Grundgesetzes gegenüberstellen.
Auch wird im Rahmen einer solch essenzialisierenden Religionskritik selten die Demokratiekompatibilität oder Geschlechtergerechtigkeit von Offenbarungsreligionen an sich – unter Einbezug beispielsweise des Christentums und Judentums – einem kritischen Blick unterzogen. Der selektive Blick auf "den Islam" unterschlägt, dass ähnliche Problemlagen auch in anderen Religionen bestehen, und stellt "den Islam" als die "fremde" und "andere" Religion heraus. Dabei ließe sich durchaus fragen, mit welcher Legitimation Frauen in katholischen Kirchen von religiösen Ämtern ausgeschlossen werden – nicht, um vom konkreten Missstand abzulenken, sondern um mögliche Problemursachen patriarchalischer Verhältnisse umfassend erkennen zu können. So bleibt aber etwa die Perspektive von feministischen Zugängen, die es in allen Weltreligionen gibt, unberücksichtigt. Kritik, die in dieser Frage den Blick ausschließlich auf den Islam richtet und patriarchale Strukturen in anderen Religionen oder nicht-religiösen Systemen außen vor lässt, setzt sich zumindest dem Verdacht aus, dass es dabei nicht um das Problem (die Stellung der Frau in der Gesellschaft) an sich geht, sondern um den Ausschluss einer bestimmten religiösen Gruppe.
Bei der im Sommer 2012 geführten Debatte um die rituelle Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen ging es um die Abwägung zwischen dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes einerseits und dem Elternrecht auf (religiöse) Erziehung andererseits. Damit lag hier eine Kritik an einer konkreten Praxis vor, die sachlich adressiert, eine berechtigte Überprüfung ihrer Notwendigkeit und Berechtigung erfordert hat – wenn auch von "außen" herangetragen. In Teilen bot die Debatte aber auch ein Beispiel dafür, wie leicht Religionskritik bewusst oder unbewusst als Instrument zur Ausgrenzung und Diffamierung gesellschaftlicher Minderheiten dienen kann.
Die Schwierigkeit besteht nämlich darin, dass es sich hierbei um ein diskursives Feld handelt, bei dem komplexe Sachverhalte verhandelt werden, die intersubjektiv unterschiedlich bewertet werden. Die Strukturiertheit des diskursiven Feldes nach politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Machtbeziehungen und -mechanismen spielt daher eine wesentliche Rolle. Die Machtasymmetrie wird in Teilen der Beschneidungsdebatte deutlich, wenn Debattenteilnehmer aus einer gesellschaftlich dominanten Mehrheitsposition heraus die rechtssichere Durchführung der Beschneidung als "Blankoscheck für religiös motivierte Kindesmisshandlungen"
In ihren Überlegungen darüber, was Kritik ist und worin ihr besonderes Potenzial besteht, kommt die Philosophin Judith Butler in Anlehnung an Michel Foucault zu dem Schluss, dass "die Hauptaufgabe der Kritik nicht darin (besteht) zu bewerten, ob ihre Gegenstände (…) gut oder schlecht, hoch oder niedrig geschätzt sind; vielmehr soll die Kritik das System der Bewertung selbst herausarbeiten. Welches Verhältnis besteht zwischen Wissen und Macht, sodass sich unsere epistemologischen Gewissheiten als Unterstützung einer Strukturierungsweise der Welt herausstellen, die alternative Möglichkeiten des Ordnens verwirft. (…) Inwieweit jedoch ist diese Gewissheit von Formen des Wissens begleitet, eben um die Möglichkeit eines anderen Denkens auszuschließen?"
Bei der Bewertung der Frage, ob eine bestimmte Religionskritik konstruktiv wirken oder als Herrschaftstechnik zur Ausgrenzung von Minderheiten führen kann, kommt es auf den Kontext der formulierten Kritik an: