In historischer Perspektive ist das Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, zwischen Staat und Kirche, eine Abfolge von enger Bindung und strikter Trennung, von gedeihlichem Miteinander und erbittertem Gegeneinander, von Respektierung des jeweils anderen Bereichs und spiegelbildlich von Übergriffen in denselben. In einem verschlungenen historischen Prozess hat die deutsche Rechtsordnung einen befriedenden Weg gefunden, der bei einer prinzipiellen Trennung beider Größen eine Vielzahl von Mechanismen der Zusammenarbeit vorsieht. Wie jedes Recht, sieht sich auch das Staatskirchenrecht Anfragen nach der fortbestehenden Sachgerechtigkeit – mehr noch: der Legitimation – der einmal gefundenen Lösungen ausgesetzt.
Das Staatskirchenrecht
Nur unwesentlich jünger sind die für weite Teile des Bundesgebiets maßgebenden konkordanten Rechtsnormen. Auch hier stammen die meisten der geltenden Verträge noch aus der Weimarer Zeit.
Systematisch gesehen beruht das deutsche Staatskirchenrecht also auf einer doppelten Grundlage. Charakteristisch ist seine Zweispurigkeit von dem einseitig vom Staat gesetzten Recht (Verfassung, Gesetz) auf der einen und dem zwischen Staat und Kirche einvernehmlich gesetzten Recht (Staatskirchenvertrag, Konkordat) auf der anderen Seite. Bei beiden Strängen ist zusätzlich die föderative Ordnung Deutschlands in Rechnung zu stellen; sowohl das staatliche Recht wie das Konkordatsrecht ist teils Bundes- und teils Landesrecht.
Staatskirchenrechtliches System des Grundgesetzes.
Das deutsche Staatskirchenrecht ruht gewissermaßen auf zwei Säulen: die grundrechtliche Verbürgung der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und die Garantie institutioneller Rechtspositionen (Art. 140 GG). Zur Architektur des grundgesetzlichen Staatskirchenrechts gehören auch die Garantie des Religionsunterrichts (Art. 7 Abs. 2 und 3 GG) sowie das Verbot der Bevorzugung sowie Benachteiligung aus religiösen und weltanschaulichen Gründen (Art. 3 Abs. 3 GG). An der Spitze der durch Art. 140 GG inkorporierten Normen der WRV steht das Verbot der Staatskirche (Art. 137 Abs. 1). Damit wird der Staat als ausschließlich säkular verstanden, woran auch der Gottesbezug, die nominatio Dei, in der grundgesetzlichen Präambel nichts ändert. Entsprach diese Bestimmung noch lang gehegter liberaler Erwartung, ist die Kirche nicht konsequent in den privaten Raum verwiesen: Der Rechtsstatus der Kirche als Körperschaft des Öffentlichen Rechts bleibt nicht nur aufrechterhalten (Art. 137 Abs. 5 WRV), vielmehr können auch andere Religionsgemeinschaften diesen Status erlangen (Art. 137 Abs. 5 WRV). Mit dem Körperschaftsstatus sind weitere Rechtspositionen verbunden, von denen die bedeutendste der Kirchensteuereinzug unter Benutzung der bürgerlichen Steuerlisten ist (Art. 137 Abs. 6 WRV).
Trotz allem zählt die Kirche nicht zum Staat: Jede Religionsgemeinschaft – nicht nur diejenige mit öffentlich-rechtlichem Status – genießt das Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich ihrer eigenen Angelegenheiten (Art. 137 Abs. 3 WRV). Bemerkenswert ist, dass der Staat der Kirche – wie jeder Religionsgemeinschaft – in Gestalt der Anstaltsseelsorge Zugang zu seinen Einrichtungen gewährleistet, neben dem Institut des Religionsunterrichts (Art. 7 Abs. 3 GG) betrifft dies die Streitkräfte sowie Krankenhäuser und Strafanstalten (Art. 141 WRV).
Konkordatsrechtliche Regelungen.
Für das deutsche Staatskirchenrecht ist ferner ein dichtes, mittlerweile nahezu flächendeckendes Geflecht von Staatskirchenverträgen typisch.
Bildet man aus den bestehenden Staatskirchenverträgen die Summe, lassen sich insgesamt sechs typische Vertragsinhalte unterscheiden. Erstens werden die vom Staat in seiner Verfassung bereits einseitig verankerten Gewährleistungen wiederholt und verstärkt (Religionsfreiheit, kirchliches Selbstbestimmungsrecht, Garantie des kirchlichen Eigentums, Sonn- und Feiertagsschutz). Ein zweites Bündel gestaltet den Status kirchlicher Institutionen als Körperschaft des Öffentlichen Rechts und die aus ihm im Einzelnen fließenden rechtlichen Positionen näher aus (Kirchensteuer, Gebührenbefreiungen, Rechts-, Amts- und Vollstreckungshilfe). Einen dritten Bereich bilden die Bestimmungen zur Ermöglichung kirchlichen Wirkens in der Öffentlichkeit wie etwa in allgemeinen kirchlichen Bildungseinrichtungen, im Rundfunkwesen sowie durch Sammlungen. Von eminenter praktischer Bedeutung ist viertens der Komplex der sogenannten res mixtae, also jener Angelegenheiten, die sowohl staatliche wie kirchliche Belange berühren. "Klassische" Materien sind hier die theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten, der weite Bereich der schulischen Erziehung (vor allem der Religionsunterricht) und die Anstaltsseelsorge sowie das Melde-, Denkmalschutz- und Friedhofsrecht. Weiter zählen fünftens Regelungen zur kirchlichen Organisation und zum kirchlichen Personal (kirchliche Territorialstruktur, Mechanismen ihrer Bestellung, Sicherstellung der Kirchlichkeit des Lehr- und Dienstpersonals) sowie schließlich sechstens solche zur finanziellen Ausstattung der Kirchen (Staatsleistungen, Baulasten) zum festen Repertoire von Staatskirchenverträgen.
Das deutsche Staatskirchenrecht vermeidet Extrempositionen. Zwar verbietet es die Staatskirche, räumt aber der Kirche einen öffentlich-rechtlichen Rechtsstatus ein. Der Kirche wird einerseits das Recht der Selbstbestimmung zugestanden, andererseits wird sie finanziell alimentiert. Das deutsche Verfassungsrecht verwirklicht damit das insbesondere vom politischen Liberalismus verfochtene Trennungsmodell nur in abgeschwächter Form.
Herausforderungen
Säkularisierung.
Die deutsche Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts ist nicht mehr homogen, sie ist vermehrt säkularisiert und religiös indifferent. Allein die religionssoziologischen Rahmendaten sprechen eine klare Sprache: Gehörten 1961 noch weit über 90 Prozent der Deutschen entweder einer der "Großkirchen" an, ist dieser Anteil – befördert durch den zusätzlichen Säkularisierungsschub durch die Wiedervereinigung – auf unter 65 Prozent gesunken. Das wiedervereinigte Deutschland ist entgegen einer Prognose Anfang der 1990er Jahre mitnichten "nördlicher, östlicher und protestantischer", sondern vielmehr säkularisierter geworden.
Vor diesem Hintergrund ist vielfach der tiefere Sinn der verschiedenen staatskirchenrechtlichen Institute insgesamt nicht mehr von vornherein eingängig. Diese bedürfen – wie jede rechtliche Regelung – der fortdauernden inhaltlichen Legitimation. Diese lässt sich im religiös-weltanschaulich neutralen Staat nicht (mehr) mit historisch-traditionalen, sondern nur noch mit funktionalen Erwägungen erbringen. Dabei vermag der bloße Verweis auf die positiv-rechtliche Normierung immer weniger zu überzeugen. Die gebotene inhaltliche Legitimation stellt freilich auch – vielleicht sogar vorrangig – die Kirche selbst vor die beständige Aufgabe der Selbstvergewisserung, was denn der eigentliche Grund der ihr durch Verfassung, Gesetz und Konkordat zugebilligten Rechtspositionen ist. Sollte sich erweisen, dass es sich bei ihnen lediglich um historisch gewachsene und erklärbare "Privilegien" handelt, so wären sie in einem säkularen und freiheitlichen Gemeinwesen ein Anachronismus, ohne Gestaltungsmacht in der Gegenwart und ohne Leuchtkraft in die Zukunft.
Pluralisierung.
Allerdings ist die religionssoziologische wie die rechtliche Entwicklung nicht eindimensional in Richtung auf die Säkularisierung fixiert. Ebenso lassen sich gegenläufige Tendenzen der Pluralisierung ausmachen. Sie offenbaren sich am deutlichsten in der zunehmend sichtbaren Präsenz des Islams, aber auch anderer Erscheinungsformen von Religiosität (fernöstlicher, synkretistischer, esoterischer und sektenhaft-chiliastischer Provenienz). So zeigt sich ein facettenreiches Bild: Zahlreiche Glaubensrichtungen konkurrieren auf dem Markt der Möglichkeiten – und nicht wenige von ihnen erstreben ihrerseits einen Zugang zu den Institutionen des deutschen Staatskirchenrechts. Freilich: Die vielfältigen privatreligiösen Phänomene beschränken sich in aller Regel individualistisch oder quietistisch auf den engeren Bereich persönlicher Lebensführung. Demgegenüber treten nicht wenige "Sekten" dezidiert offensiv und missionarisch auf, teilweise mit deutlicher Stoßrichtung auf innerweltliche Zielsetzungen hin.
Diese teilweise gegenläufigen Tendenzen stellen auch das (Staatskirchen-)Recht vor neue Herausforderungen. Dass das Staatskirchenrecht generell genuin historisch-kulturelle Prägungen aufweist, liegt offen zutage.
Europäisierung.
Anfragen an das System des deutschen Staatskirchenrechts kommen auch von Seiten des europäischen Rechts.
Zweifelsohne hat die EU keine Kompetenz für das Staatskirchenrecht. Nicht ausgeschlossen ist aber ihr Tätigwerden im Bereich solcher Sachmaterien, welche ihr ausdrücklich zugewiesen sind und sich (auch) auf das mitgliedstaatliche Staatskirchenrecht im Allgemeinen wie auf Religion und Kirche im Besonderen auswirken. Derartige indirekte Einwirkungen resultieren aus einer Systemlogik, welche das Unionsrecht im Wesentlichen funktional konzipiert hat. Dieses stellt, anders als tendenziell das mitgliedstaatliche Recht, nicht auf die betroffenen Subjekte ab, sondern auf die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten: Dieser Mechanismus führt nicht selten dazu – im Regelfall weder beabsichtigt noch reflektiert –, dass die Phänomene "Kirche" und "Religion" primär in den Kategorien des Wirtschaftslebens wahrgenommen werden. In Kategorien und Gebieten also, in denen sich (unbeschadet bereits erzielter und weiter beabsichtigter Integrationsbemühungen) weiterhin die der EU zugewiesenen Zuständigkeiten schwerpunktmäßig bewegen.
Rechtliche Folgerungen
Veränderungen des staatskirchenrechtlichen Systems.
Nicht selten wird aus den genannten Phänomenen die Schlussfolgerung gezogen, dass es nunmehr zu einer "wirklichen" Trennung von Staat und Kirche kommen müsse: Weder den un- noch den andersgläubigen Teilen der Bevölkerung, die in manchen Gebieten bereits die Mehrheit bilden, seien die quasi-christliche Fundierung des Staates oder die finanzielle Alimentation "schwindender Volkskirchen" zuzumuten oder auch nur zu vermitteln.
Die Rechtspraxis hat indes gegenüber diesem rechtspolitischen Postulat tendenziell den entgegengesetzten Weg eingeschlagen: Die Zeugen Jehovas sind mit ihrem Begehren, den Rechtsstatus der Körperschaft des Öffentlichen Rechts zu erlangen, dem Grunde nach ebenso durchgedrungen
Wollte man Säkularisierung und Pluralisierung zum Anlass einer verstärkten Trennung von Staat und Kirche nehmen, bedürfte es erst genauerer Klärung, was "Trennung" in der Sache bedeuten soll: Im Begriff schwingen vielfach längst überholte Grundannahmen der staatstheoretischen Perspektiven des 19. Jahrhunderts mit – wie etwa die Absage an ein "Bündnis von Thron und Altar" sowie die Abgrenzung vermuteter kirchlicher Einflussnahmen auf die staatliche Willensbildung. Umgekehrt können die genannten Phänomene auch rechtliche Folgen nach sich ziehen. Das wiederum hängt davon ab, ob die Grundaxiome der bisherigen Zuordnung von Staat und Kirche beziehungsweise Religion auch unter veränderten tatsächlichen Verhältnissen weiter akzeptiert oder infrage gestellt werden. Das Grundaxiom sieht ein partnerschaftliches Zusammenwirken in Materien mit beiderseitigen Anknüpfungspunkten vor, legitimiert und erleichtert durch gemeinsame historisch-kulturelle Wurzeln. Eine einfache, allgemeingültige Bewertung erscheint hier (noch) nicht möglich, zu uneinheitlich und heterogen verlaufen hier die Frontlinien.
Ausgewählte Beispiele von Modifikationen.
Besteht ganz überwiegend, weder in Rechtsetzung noch in Rechtsprechung und in weiten Teilen der rechtswissenschaftlichen Lehre, keine Neigung zu systemrelevanten Änderungen, heißt dies umgekehrt nicht, dass Neuakzentuierungen oder Modifikationen einzelner Bereiche des Staatskirchenrechts ausgeschlossen wären. Einen interessanten Anwendungsfall bildet etwa das Vertragsrecht: Über lange Jahrzehnte eine fast ausschließliche Domäne der "Großkirchen", besteht seit den 1990er Jahren ein gleichermaßen dichtes Vertragsnetz mit den Vertretungen der jüdischen Gemeinden. Mittlerweile hat Hamburg auch einen Vertrag mit einem der drei muslimischen Dachverbände und einen weiteren mit der Alevitischen Gemeinde ausgehandelt und im November 2012 unterzeichnet.
Eine ähnliche Tendenz, staatskirchenrechtliche Institute auf bisherige "Außenseiter" zu erstrecken (was Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV vorsieht), offenbart sich beim Rechtsstatus der Körperschaft des Öffentlichen Rechts. Die cause célèbre des Verfahrens der Zeugen Jehovas wurde bereits erwähnt,
Im weiten Bereich der schulischen und universitären Bildung zeigen sich unverkennbar Tendenzen einer Reduzierung und Modifizierung, welche indes weniger aus grundsätzlichen denn vielmehr aus praktischen Erwägungen motiviert sind: So führt eine religiös zunehmend heterogene Schülerschaft mit den einhergehenden organisatorischen – freilich lösbaren – Schwierigkeiten bisweilen (zumeist auf der lokalen Ebene) zu Infragestellungen des verfassungsmäßigen Regelfalls des konfessionellen Religionsunterrichts zugunsten überkonfessioneller oder gar interreligiöser Modelle.
Ausblick
Gemeinhin wird die in Deutschland realisierte Konzeption des Staatskirchenrechts als eine der Kooperation beschrieben. Diese weist nicht allein gewachsene historisch-kulturelle Voraussetzungen auf, sondern wirkt auch zugunsten des freiheitlichen Verfassungsstaates: Unverändert erbringt das kirchliche Wirken als "überschießende Effekte" Leistungen für den Staat – solche, die er selbst aus verfassungsrechtlichen Gründen der Säkularität und Neutralität nicht selbst wahrnehmen kann, sowie solche, mit deren ausschließlicher Wahrnehmung er sich übernehmen müsste. Derartige "überschießende Effekte" betreffen etwa die Wertevermittlung im Bildungs- und Erziehungssektor oder den Einsatz für Schwache, Leidende und Sterbende im Fürsorge- und Sozialbereich. Kurzum: Nutznießer des Staatskirchenrechts ist neben der Kirche auch der Staat. Er ist es, der seine eigenen Wurzeln nur pflegen, aber nicht selbst schaffen kann.