Sind säkulare Gesellschaften moderner und demokratischer als religiöse? Gibt es eine Prädisposition bestimmter Religionen zu mehr oder weniger Gewalt? Im Folgenden möchte ich zeigen, dass bereits die Formulierung solcher Fragen auf einer rigiden Essenzialisierung des Religiösen beruht. Statt das Religiöse im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Faktoren wie Politik und Ökonomie zu verstehen, wird oftmals eine irreführende Dichotomie zwischen "westlichen" und "islamischen" Gesellschaften vollzogen. Demgegenüber plädierte der Anthropologe Talal Asad dafür, statt der populären Beschäftigung mit dem Religiösen die Genese und Funktionsmechanismen des Säkularen zur Diskussion zu stellen.
Diese Entwicklung ist Asad zufolge auf die Formierung der Nationalstaaten in Europa und der damit einhergehenden staatlichen Souveränität zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzuführen, durch die Personen, die keinem solchen staatlichen Gesetz unterstanden, als "inferior on a civilizational scale centred on the emerging political cultures of North-Western Europe"
Die Abspaltungen und Ausläufer der protestantischen Reformation – sowohl moderate als auch radikale Strömungen – sowie die darauffolgenden Religionskriege in Europa bis zum Westfälischen Frieden 1648 dienten als weitere Grundlage für die Zentralisierung von Macht, um unterschiedliche religiöse Überzeugungen und religiösen Aktivismus kontrollierbar zu machen. Damit gingen Ideen kultureller und sprachlicher Homogenisierung einher, die für die Schaffung der späteren Nationalstaaten grundlegend wurden. Homogenität und Säkularität – als eine neue Form des Regierens – waren die Voraussetzungen für die Neutralisierung religiöser Strömungen.
Die primäre Funktion von Säkularität für den modernen europäischen Staat ist laut Salvatore daher nicht, Religion zu marginalisieren und zu privatisieren, vielmehr ermögliche das Säkulare, Religion auf eine bestimmte Art zu formen. Das Religiöse, neu definiert durch seine Privatisierung, sei zu einem Ort der Kontrolle durch den Staat geworden, da die staatliche Domestizierung von Religion zu einer Grundlage der nationalen Einheit und damit Faktor in der politischen Transformation Europas wurde. Mit anderen Worten: Säkularisierung bedeutete nicht eine "Befreiung" von der Religion, sondern eine neue Form ihrer Regulierung. Eine zunehmend konsequente und selbstbewusste Vorstellung von Säkularität wurde zu einem Kernstück ideologischer Homogenität in Europa, das anhand konfessioneller Zugehörigkeiten neu aufgeteilt wurde. Das Säkulare manifestierte sich in konkreten Formen des Regierens und in der Art, wie Religion auf die private Sphäre beschränkt wurde. Gleichzeitig wurde das Private zu einer Sphäre, deren Unantastbarkeit als vom Staat geschützt galt. Dieser Schutz beruhte auf der Bedingung, dass in ihrem komplementären Gegenstück – der öffentlichen Sphäre – Loyalität dem Staat gegenüber im Sinne nationaler Einheit gewahrt wird. Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die Weichen dafür gestellt, dass offen nach außen getragene Religiosität nur noch dann zugelassen wurde, wenn sie mit den politischen Interessen des Staates kompatibel war, das heißt sich nicht in politische und öffentliche Diskurse "einmischte".
Es verschoben sich die Konzepte von Recht und Ethik, die innerhalb und außerhalb des Individuums festgemacht wurden: Der Staat übernahm die Funktion des "Außen", indem er Sicherheit und die Einhaltung von Vereinbarungen garantierte; die Verinnerlichung der moralischen Kraft der Religion wurde währenddessen in zunehmendem Maße durch moderne Methoden des liberalen Regierens abgesichert, die darauf abzielten, (selbst-)verantwortliche Personen zu erschaffen.
Die Trennung zwischen Religion und Politik im Zuge der Formation moderner, säkularer Nationalstaaten habe sich Salvatore zufolge jedoch selbst in der europäischen Geschichte nicht in dem Maße linear vollzogen, wie der Diskurs der Säkularisierung dies beansprucht. Die Beziehung zwischen Religion und Staat im modernen Europa repräsentiere vielmehr ein "field of permanent and shifting tensions more than into a stable configuration of institutional and constitutional separation".
Was in westlichen Gesellschaften heute als "soziale Sphäre" bezeichnet wird, der säkulare Bereich, der konzeptuell von Variablen wie "Religion", "Staat" und "nationaler Ökonomie" unterschieden wird, existierte vor dem 19. Jahrhundert nicht. Dennoch war es genau das Aufkommen der Gesellschaft als organisierbarer säkularer Raum, der es europäischen Staaten ermöglichte, durch die Neudefinition von Religion als einer vom Staat getrennten, individuellen Angelegenheit die unaufhörlichen Veränderungen in der gesamten Bevölkerung unabhängig von ihren religiösen Zugehörigkeiten zu regulieren. Dieser Prozess brachte laut Asad auch die heutige Wahrnehmung hervor, dass Religion zu einer Quelle der Uneinigkeit wird, wenn sie an die Öffentlichkeit tritt.
Aus den Darstellungen wird die historische Entwicklung deutlich, die in weiten Teilen Europas dazu geführt hat, dass der Staat Religion definiert – entweder autonom oder in Zusammenarbeit mit religiösen Institutionen, denen der Staat faktische oder rechtliche Privilegien verleiht. Die Formen der Regulierung moderner Gesellschaften, die mit dem Prinzip "Säkularität" aufkamen, gingen schließlich auch mit einer Essenzialisierung des Religiösen einher, das heißt mit einer zunehmenden Isolierung dieses Bereichs von anderen gesellschaftlichen Sphären. Doch Theorien, welche die Religiosität als eine essenzialistische Variable betrachten, versäumen es, den dynamischen Charakter und die Wandelbarkeit zu erfassen, die das Religiöse in der Interaktion mit anderen sozialen Faktoren prägen. So bleibt Religion meist ein Synonym für Rückständigkeit – was in der Folge kaum Erkenntnisse darüber erlaubt, in welchem Zusammenspiel sie welche sozialen Kräfte entfaltet.
Der Anthropologe Robert Hefner beschreibt, wie unterschiedlich sich der Einfluss des Religiösen in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Kontext entwickeln kann.
Diese Argumentation ist nicht nur irreführend, weil sie das sozio-ökonomische Ungleichgewicht zwischen der sogenannten Ersten und Dritten Welt mit einer vorgeblichen "Zivilisationsskala" übertüncht.
Der Verkettung von Religion und Radikalität fehlt schließlich auch die Differenzierung zwischen persönlicher und politisierter Religion. Es ist nicht unüblich, dass in einer instabilen Lebenssituation Schutz und Halt in der Religion gesucht werden. Die Frage, die hier vermehrt diskutiert werden sollte, ist, ob konservative und autoritäre Strukturen in Ländern, in denen die Menschen instabilen Lebenssituationen ausgesetzt sind, nicht leichter aufrechtzuerhalten sind?
Diesen oben skizzierten Prozess hat der Soziologe Mansoor Moaddel am Beispiel der Radikalisierung islamischer Bewegungen veranschaulicht.
Diese Fälle können als Indizien dafür gedeutet werden, dass radikale Strömungen sich in Abhängigkeit vom Pluralismus und dem Ausmaß ihrer Integration in der Gesellschaft entwickelten, und die teilweise politische Integration religiöser Bewegungen einen pragmatischen Islamismus unterstützte beziehungsweise ideologisch radikale Bewegungen zersplitterte. Es bleibt die Frage, inwiefern statt einer Unterdrückung islamischer beziehungsweise religiöser Bewegungen in der Politik um jeden Preis nicht eher die Herausarbeitung jener Faktoren im Vordergrund stehen sollte, die sich für die Pluralität und Flexibilität der jeweiligen Gesellschaft bereits bewährt haben oder dafür förderlich sein könnten.