Ich halte die öffentliche Präsenz von Religion im politischen Raum für unverzichtbar und möchte direkt markieren, dass ich in dieser Frage nicht als neutraler Beobachter argumentiere. Die Fragen, wie Religion konkret gelebt wird und welche Auswirkungen die Religiosität von Menschen auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge hat, lassen sich nicht unabhängig von Zeiten und Orten und sinnvoll auch nur mit einem differenzsensiblen Blick auf Religionen beantworten. Mein Plädoyer bezieht sich im Wesentlichen auf die christliche Religion und auf Kirchen, die durch die Reformation geprägt sind und sich der Aufklärung verpflichtet wissen. Ich plädiere hier als Mensch, der sich in seinem Reden und Handeln von Gottes Wort angesprochen und an Gottes Wort gebunden weiß und der seine "Religion" wesentlich auch als eine persönliche Antwort auf Gottes Wort versteht und lebt. Zum anderen plädiere ich in einer bestimmten Rolle und Funktion: als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Die christliche Religion ruft Menschen zum "Beten und Tun des Gerechten" und deshalb auch in gesellschaftspolitische Verantwortung. Mein Plädoyer ist gebunden an die biblische Tradition, dem einzelnen Menschen zum Heil und dem gesellschaftlichen Zusammenleben zum Wohl zu dienen. Neben der Gottesverehrung zielt christlicher Glaube auf die Beantwortung der Frage, wie Menschen gerecht und in Frieden zusammenleben können und dabei Gottes Schöpfung bewahren – und zwar auf der Höhe wissenschaftlicher Erkenntnisse der jeweiligen Zeit. Insofern gehören christlicher Glaube und Religion zu den Voraussetzungen des demokratischen Rechtsstaates, die er selber nicht schaffen kann und auf die er angewiesen ist.
Von politisch Verantwortlichen höre ich oft, dass sie Religion als wertvolle politische Ressource schätzen. Sie anerkennen die Leistungen der Kirchen für den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens – gerade an seinen Rändern, wo es um Inklusion und Exklusion geht.
Es gibt aber auch die andere Seite der öffentlichen Religionsdebatten. Religion erscheint hier als Bedrohung. Institutionalisierte Religion verweigere sich gesellschaftlichem Wandel, sei Instanz repressiver Moral, verschärfe innergesellschaftliche und zwischenstaatliche Konflikte, die durch starke Überzeugungen religiös aufgeladen unlösbar würden. Dagegen helfe konsequente Privatisierung von Religion, die nur so dem Gemeinwesen einigermaßen bekömmlich sei.
Beide Wahrnehmungen – Wertschätzung und Abwehr – hängen untergründig zusammen: Nur weil die Religions- und Glaubensgemeinschaften unterscheidbare "Communities" innerhalb der Gesellschaft sind, bilden sie handlungsfähige Netzwerke. Sie stehen einerseits für "kollektive Identitäten", stiften Gemeinschaft und Zusammenhalt. Andererseits aber können sie sich so verfestigen, dass sie Unterschiedenes ausschließen, sich selbst abschließen oder Anderem gegenüber sogar destruktiv werden.
Wäre diese Ambivalenz überwunden, wenn es gelänge, Religion aus dem öffentlichen Raum herauszuhalten oder gar hinauszudrängen? Das erscheint mir mehr als zweifelhaft. Die grundgesetzlich gebotene Neutralität des Staates gegenüber differenten Religionspraktiken würde ausgeweitet zu einer normativen "Säkularität" beziehungsweise "Laizität". Damit würde staatlichem Handeln zugebilligt, den "Normalfall" für die religiöse Praxis der Bürgerinnen und Bürger zu definieren.
Einmal abgesehen von der – wie der Blick etwa auf Frankreich zeigt – hochgradig illusionären Erwartung, dass eine in diesem Sinne säkulare Gesellschaft friedlicher wäre und dass die anderen gesellschaftlichen Institutionen nicht diesen ambivalenten gruppendynamischen Prozessen unterlägen, wird damit nur der Exklusionsmechanismus, den man der Religion vorwirft, gegen diese selbst gewendet. Wir müssen diese Ambivalenz aushalten und klug mit ihr umgehen: den "Normalfall" weltanschaulich-religiös offen lassen und differenzsensibel hinschauen, wie religiöse Praxis tatsächlich aussieht und wie sie sich mit dem Ordnungsrahmen der freiheitlichen Demokratie verträgt.
Wo es um Religion und Politik, um Religion und Öffentlichkeit geht, dort geht es auch um die Rolle der Religionsgemeinschaften und Kirchen im Institutionengefüge der freiheitlichen Demokratie. Wenn "Säkularität" als Normalfall konstruiert wird, bleibt Religion als "Privatsache" übrig, als individualisierte Religion. Wird diese Perspektive vorgegeben, dann besteht die Gefahr, dass die Kirchen als Religionslobbyisten erscheinen, die ihr Schäfchen gerne ins Trockene bringen und ihre "Privilegien" retten möchten.
Näher am Selbstverständnis und an der Selbstbeschreibung der Kirchen liegt ein anderes Konzept der Rolle der Kirchen: Jenseits von Markt und Staat gibt es die Sozialformen der Bürgergesellschaft. Hier wird nicht hoheitlich agiert, und hier werden nicht gewinnorientiert Partikularinteressen vertreten. Vielmehr sind selbstorganisierte Beziehungsnetzwerke an vielen Orten und auf sehr unterschiedlichen Ebenen am Gemeinwohl orientiert tätig. Die Kirchen sind als öffentliche Religion solche zivilgesellschaftlichen Netzwerke. Hier werden beispielsweise Alte besucht, Kranke gepflegt und begleitet, mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet und vieles mehr. Je mehr sich der Staat aus der Bereitstellung öffentlicher Güter zurückzieht und je intensiver der ökonomische Zugriff auf die vormals nicht gewinnorientierten Lebensbereiche wird, desto wichtiger werden diese subsidiären, intermediären, zivilgesellschaftlichen Institutionen. In ihnen können Vertrauen und Handlungsgewissheit eingeübt werden.
Dieses Engagement der Kirchen in dem Bereich, den wir heute "Zivilgesellschaft" nennen, ist schon sehr alt und hat durch die Jahrtausende viele Wendungen und Verwandlungen erfahren. Es gehört zum Kernbestand der öffentlichen Präsenz von Religion, weil es zutiefst verknüpft ist mit dem Kern der christlichen Botschaft. Die Parteinahme für die Ausgeschlossenen, die "Armen", für diejenigen, die keine hörbare Stimme haben, steht in der Mitte des politischen Auftrages der Kirchen. Der Beitrag der Kirchen ist nicht wegzudenken aus den Debatten etwa um Flüchtlinge, um Krieg und Frieden, um politischen Extremismus, um Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit, um Lebensschutz. An wenigen Punkten kann man so genau wie an diesem erkennen, wie sehr das "Evangelium", die christliche Botschaft, ein "Beneficium", eine prägende Wohltat ist für eine Gesellschaft, die dieser Botschaft Raum gibt.
Wenn die Beiträge der Kirchen für das demokratische Gemeinwesen geachtet und geschätzt werden, ist es nicht unwesentlich zu fragen: Aus welcher Quelle erwächst dieses Engagement? Die Quelle ist der Kern der biblischen Botschaft von Jesus Christus und damit die zentrale Identität des Christlichen:
Diese zentralen Überzeugungen des christlichen Glaubens haben bedeutende politische Implikationen. Wenn Jesus Christus "der Herr aller Herren" ist, stellt dies alle politische Herrschaft unter das Zeichen einer grundsätzlichen Vorläufigkeit: Der Thron absoluter irdischer Macht ist leer.
Demokratische Herrschaft bietet am ehesten den Schutz davor, das Politische (oder Gesellschaftliche oder Ökonomische) zu totalisieren. Jede Form von "Theokratie", direktem Herrschaftsanspruch von Religion, liefe im Ergebnis auf die Selbsttotalisierung menschlicher Macht und Herrschaft hinaus. Es geht also bei meinem "Plädoyer für öffentliche Religion" nicht um religiöse oder kirchliche Absolutheitsansprüche. Ganz im Gegenteil gibt diese entschlossene Desakralisierung von Herrschaft den Raum frei für gemeinsames politisches Wirken unterschiedlichster Akteure. Gemeinsam mit vielfältigen Partnern stehen die Kirchen in dem, was John Rawls den overlapping consensus nennt: Die Suche nach Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung
Deutlich scheint mir auch zu sein, dass der lange Atem und die großen Zeitmaße des Glaubens künftig eher mehr als weniger gebraucht werden, wenn wir auf die außerordentlichen Herausforderungen schauen, die heute auf der politischen Agenda stehen. Ich denke an all das, was sich durch das Leitwort "Transformation"
Deutlich ist allerdings: Diese eingeforderte Wertschätzung als zivilgesellschaftlicher Akteur können die christlichen Kirchen nicht nur für sich selbst in Anspruch nehmen. Die Stimme der Kirchen ist eine unter vielen in der "Arena" des Politischen. Sie ist eine partikulare Stimme. Die Kirchen schweben auch in ihrer Gemeinwohlorientierung nicht über den Gegensätzen und Konflikten des Politischen, sie stehen mitten darin und stehen auch dazu.
Dies bedeutet nicht zuletzt, dass sich innerhalb der Kirchen die gesellschaftlichen und politischen Gegensätze abbilden und die Debatten in Kirchenvorständen und Synoden selbst ein Stück demokratischer Kultur sind: Gegensätze aushalten auf der Basis eines unverfügbar Gemeinsamen, sich Zeit gönnen in Klärungsprozessen, Geduld miteinander haben. Wäre die deutsche Einigung möglich gewesen ohne die von den Kirchen inspirierte Kultur der "Runden Tische"?
Ich will mit all dem nicht behaupten, dass die Kirchen der oben skizzierten Selbstbeschreibung in jeder Hinsicht entsprechen. Es braucht immer eine "Transformation" auch von Religion und Kirche: eine Erneuerung aus den Quellen der Spiritualität, eine freie und erfahrungsgesättigte Bildung zum Glauben und Handeln und Aufbrüche aus institutionellen Verkrustungen. Aber gerade weil alle Kirchen den Wandel nötig haben, brauchen sie im demokratischen Staat und in der Arena des Politischen Kritik und Gegenwind. Die schärfste Kritik allerdings wird von "innen" kommen, von dort nämlich, wo sich die Kirche ihren eigenen normativen Quellen aussetzt, ihre eigene Gestalt an ihrem biblischen Leitbild misst und in einer Theologie reflektiert, die ihren Platz in der öffentlichen Wissenschaft der Universität hat. Dann wird deutlich: Religion, Glaube und Kirche stehen nicht für unveränderliche Ordnungsentwürfe. Zu deren Wandel gehört in unseren politischen Kontexten ein wacher und sensibler Sinn für Differenzen, für unterschiedliche Sinn- und Lebensentwürfe.
Dazu gehören etwa ein freundliches und erwartungsvolles "Ja" zu Muslimen in Deutschland, ein freundliches und einladendes "Willkommen" an diejenigen, die von Kirche und Religion nichts mehr oder noch nicht wieder etwas erwarten. Dazu gehört ein klares und entschiedenes "Nein" an alle politischen Extremismen, die von einer vermeintlich vormals gegebenen ethnischen und kulturellen Homogenität träumen. Dazu gehört schließlich die realistische Erwartung, dass die Begegnung des Verschiedenen, das Leben mit Differenzen selten ohne Schmerzen und Enttäuschungen und nie ohne Geduld gelingen kann.