Die Apologeten der größten Weltreligionen und kleinsten Sekten haben sich heute in einer argumentativen Wagenburg eingerichtet, die es ihnen erlauben soll, sich gegen Kritik zu immunisieren. Wer also nicht nur spezielle Exzesse einzelner Religionen, sondern religiöse Frömmlerei als solche mit kritischen Fragen belegt – und mag es auch die sanfteste Kritik sein –, der muss mit drei Gegenstrategien rechnen: Erstens, Kritik am religiösen Bewusstsein sei "Fundamentalismus der Aufklärung". Zweitens, Religionen seien "wahr", und außerdem gebe es sie schon sehr lange – und etwas, was so lange zu überdauern vermag, muss ja eine irgendwie höher geartete anthropologische Würde besitzen. Und drittens, selbst wenn sie nicht wahr seien und all das Zeug mit Gott nur Fantasie und Spinnerei, so seien sie wenigstens nützlich, weil sie Menschen auf ein moralisches Leben verpflichten, Gesellschaften zusammenhalten et cetera. Und wenn all dies nichts mehr hilft, dann sagen sie, der Kritiker sei ein "atheistischer Fundamentalist", der ihre "Gefühle verletzt", mithin also ein extrem unhöflicher Kerl.
Aber ich denke dennoch, dass es Gründe genug gibt, sich nicht irre machen zu lassen und die Frage aufzuwerfen: Stünden wir alle zusammen ohne Religionen nicht besser da?
Wenden wir uns fürs Erste dem religiösen Bewusstsein als solchem zu – welche Vorstellungen es sich von der Welt macht und welche Subjektivierung das religiöse Individuum imaginiert. Ja, reden wir von Gott und den "Gottesbildern" – um ihn kreist ja alles in der Fiktionswelt der Religiösen. Jahrtausende lang stellte man ihn sich als anthropomorphen Gott in der Höhe vor. Ein strenger Patriarch, der alles sieht, jede Verfehlung – eine Art Überwachungskamera, bevor es noch Videos gab. Die moderne Theologie hat zwar alle diese bisherigen Gottesbilder verabschiedet – man könnte auch sagen, sie verhält sich atheistisch zu allen Gottesvorstellungen aller bisherigen Menschengenerationen – und hat den Begriff "Gott" transformiert zu einem unbegreiflichen Etwas, das alles durchdringt. Der oder das ist immer hier, so wie Feinstaub; und er ist immer noch die Ursache von allem, der Schöpfergott.
Kluge Köpfe fragen seit Langem: Wenn er allmächtig und gut ist, warum hat er dann eine Welt geschaffen, wo es an allen Ecken knirscht und knarrt? Mord und Totschlag, Hitler, Tsunamis und das Grauen der Natur, Nahrungskette, gefressen und gefressen werden. Würden Sie sich, wenn Sie ein Schöpfergott wären, solch eine Welt ausdenken? Albert Camus sagte, entweder ist er, Gott, allmächtig, dann ist er nicht gut, oder er ist gut, dann ist er nicht allmächtig.
Liberale Christen sagen in all ihrer Milde, die wir natürlich nicht dem Christentum, sondern den Aufklärern verdanken, die zu ihrer Zeit mit einem weit weniger milden Christentum konfrontiert waren, dass es für die Existenz Gottes natürlich keine "Beweise" gibt, auch wenn Millionen Menschen das Transzendente "spüren", so wie es aber auch für seine Nicht-Existenz keine "Beweise" gibt. Das ist an sich formal richtig, aber es ist doch ein Unterschied, ob man an etwas glaubt, für dessen Existenz es weder Evidenzen noch Probabilitäten gibt, oder ob man annimmt, wenn es für etwas weder Evidenzen noch Probabilitäten gibt, dann liege doch ziemlich nahe, dass es auch nicht existiert. Die Religionen sind somit, noch in ihren mildesten und aufgeklärtesten Ausprägungen, Einfallstore für Obskurantismus.
Und die Allermeisten von ihnen evozieren ein Weltverständnis, das den Menschen als Wurm des Universums sieht, der sich nur auf Knien seinem Schöpfer nähern darf. All das verdanken wir den Religionen ebenso wie die Idee von Strafgerichten und den Höllenqualen und die Imagination des Menschen als verworfener Sünder. Und alle zusammen, mögen sie sich auch mit der Botschaft der Liebe schmücken, stoßen die schlimmsten Verwünschungen aus, wenn sie mit den Ungläubigen konfrontiert sind.
Dass die organisierten Religionen, besonders dann, wenn die Religion zur primären Quelle der Identität erklärt wird, und sich Menschen, die alles Mögliche sind, zuvorderst als "Christen", "Muslime", "Juden", "Hindus" oder sonstwas betrachten, prima zur Abgrenzung gegen Andere taugen und sich bestens dafür benutzen lassen, Menschen gegeneinander aufzuhetzen, ist mehr als ein unschöner Nebeneffekt. Die Unbedingtheit ist zumindest den monotheistischen Religionen in die Wiege gelegt. Wer sie ernst nimmt, hat seine (oder ihre) Moralvorstellungen und gibt sich nicht damit zufrieden, selbst nach diesen sittlichen Regeln zu leben – er (oder sie) will, dass das auch die anderen tun. Er (oder sie) versucht, diese Vorstellungen anderen aufzuzwingen.
Wohlgemerkt: Die Religionen sind nicht die einzige Quelle für Konflikte zwischen Menschen, die sich wechselseitig als "anders" erleben – aber sie machen Konflikte, die ansonsten schon kompliziert genug sind, erst recht explosiv. Sie lösen identitäre Verhärtungen nicht auf, sondern geben ihnen viel öfter "gute Gründe" (was natürlich "schlechte Gründe" sind). Und wenn es so richtig frömmlerisch wird, gibt es ohnehin keine Kompromisse, sobald Gott ins Spiel kommt.
Nun trennen Gläubige und religiöse Würdenträger, besonders wenn sie sich an eine Existenz in säkularer Umgebung gewöhnt haben, üblicherweise zwischen ihrem Binnen- und ihrem Außendiskurs. In ihrem Binnendiskurs ist das Kriterium ihres Glaubens die "Wahrheit". Sie glauben beispielsweise an Jesus, weil Jesus der Erlöser ist. Weil er auferstanden ist. Aber manche Gläubige wissen auch, dass man mit solchen fragwürdigen Wahrheiten jene, die nicht an sie glauben, kaum für die Religion erwärmen wird können. Für den Außendiskurs mit den Nichtgläubigen und einer säkularen Gesellschaft haben sie sich deshalb zwei Muster zurechtgelegt, deren zentrale Kategorien der Erfolg und die Nützlichkeit sind.
Die Kategorie Erfolg verweist darauf, dass es Religionen seit Jahrtausenden gibt und sie offenbar nicht abzuschaffen sind – und dass dieser Umstand schon darauf verweist, dass sie offenbar irgendwie "gut" sein müssen. Nun gibt es aber Patriarchat, Mord, Totschlag und Sklaverei auch schon seit Jahrtausenden. Nur weil sich etwas lange "bewährt" hat, ist das noch kein Argument für dessen Nützlichkeit.
Deshalb wird heute am allermeisten mit einer elementareren Nützlichkeit der Religionen argumentiert, die sich so zusammenfassen ließe: Magst Du, Nichtgläubiger, auch die "Wahrheit" des religiösen Glaubenssystems infrage stellen, musst Du doch zugeben, dass es immerhin nützlich ist, weil es Zusammenhalt unter den Menschen stiftet, sie mit verbindlichen Werten ausstattet, den Menschen vor Gigantomanie bewahrt und seine Grenzen in Erinnerung ruft, ihn zum Maßhalten anleitet und zur Hilfe für Arme motiviert.
Wenn der Mensch keinen Gott über sich fühlt, dann macht er sich zum Maß aller Dinge, dann "herrscht immer mehr die Willkür, verfällt der Mensch" (Joseph Ratzinger), so ist unentwegt von religiöser Seite zu hören. Es ist ein abgedroschener Abiturientengemeinplatz, den man, ähnlich wie einen Ohrwurm, kaum mehr aus dem Kopf bekommt, dass dort, wo Gott nicht existiert, alles erlaubt sei – sturmfreie Bude, sozusagen. Gewiss, es hat schon Ungläubige gegeben, die sich in verrückter Egomanie als Herren über Leben und Tod gefühlt haben und berechtigt, Hunderttausende oder gar Millionen in den Tod zu schicken. Aber es hat auch schon genügend Gläubige gegeben, die das getan haben, gerade weil sie geglaubt haben, der Gott, den sie über sich fühlten, würde genau das von ihnen erwarten. Sicher, sicher, man braucht keinen Gott, um Massenmorde zu begehen. Aber wenn man sich einbildet, dass Gott gerade das von einem wünscht, dann fällt das Massakrieren entschieden leichter.
Dennoch hält sich die fixe Idee in vielen Köpfen, dass gläubige Leute irgendwie leichter moralisch Kurs im Leben halten können. Aber gibt es dafür irgendwelche Evidenzen? Die Quellen, aus denen sich ethische Überzeugungen speisen können, sind vielfältig. Ein gesundes Solidaritätsgefühl für unsere Mitmenschen braucht keine religiösen Wurzeln. Ja, der Altruismus ist eine gute Sache, aber moralisches Handeln muss nicht einmal besonders altruistische Ursachen haben, es ist vielleicht sogar ein stabileres Fundament für ein gerechtes Gemeinwesen, wenn die Moral die Selbstlosigkeit nicht nötig hat. Wir Menschen sind soziale Wesen und wissen, dass wir in Interaktion mit anderen unser Leben meistern müssen. In einer Gesellschaft, in der sich alle nur um sich, nicht aber um das Geschick ihrer Mitmenschen kümmern, wäre es schnell für alle ungemütlich.
Es ist also keineswegs so, dass die Menschen gleichsam natürlich zu Konkurrenz, Kampf, Hass und Gewalt neigen und nur durch moralische religiöse Botschaften von Mord und Totschlag abgehalten werden können. Eher das Gegenteil ist der Fall. Über Jahrtausende konnte das "Sozialwesen" Mensch einstudieren, dass es besser fährt, wenn es mit anderen kooperativ interagiert und eine gesellschaftliche Ordnung etabliert, an dessen Regeln sich alle halten müssen. Nächstenliebe, meint der Soziologe Gerhard Schulze deshalb, sei darum "kein Monopol von Religionen, die oft genug als Nächstenhasser aufgetreten sind, sondern eine anthropologisch gegebene Disposition".
All dies heißt natürlich nicht, dass mich allein kalte Berechnung zur Beachtung moralischer Normen veranlassen könne, nach dem Motto: Kooperation ist nützlich, deshalb erschlage ich meinen Nachbarn nicht. Es ist eher so: Der Kooperationsgeist war der Humus, auf dem moralisches Empfinden über Jahrtausende wachsen konnte.
Gewiss gibt es viele religiöse Menschen, die moralische Individuen sind, die Gutes tun, und das mit ihrem Glauben begründen. Es gibt, wie ein weiser Mann einmal formulierte, gute Menschen, die gute Dinge tun, und schlechte Menschen, die schlechte Dinge tun, ganz unabhängig davon, ob sie einen Glauben haben oder nicht. "Aber", so fügte er sarkastisch hinzu, "damit gute Menschen schlechte Dinge tun, braucht es Religion".
Wir alle, ob gläubig oder nicht, wissen, dass wir uns gut fühlen, wenn wir etwas getan haben, was vor unseren Kriterien einer moralischen Lebensführung zu bestehen vermag, und dass wir uns schlecht fühlen, wenn wir etwas getan haben, was quer zu unserem inneren moralischen Kompass liegt. Meist sind es der Welt zugewandte Menschen, die Unrecht als besonders unerträglich empfinden, während ein guter Gläubiger oftmals die fixe Idee in seinem Kopf hat, dass die rein äußerlichen Unterschiede auf Erden keine Rolle spielen, da alles Irdische ohnehin eitel sei. Sklave oder Bürger? Alles unwichtig. "Ein jeglicher bleibe in dem ruff/darinnen er beruffen ist", heißt es in der Lutherbibel (1. Korinther 7. 20). Jeder soll bleiben, was er ist, denn er ist von Gott dorthin "berufen", und der Knecht mag zwar irdisch unfrei sein, aber wenn er den Herrn bei sich weiß, dann ist er "ein Freigelassener des Herrn" (1. Korinther 7. 22). Toller Ratschlag.
Nein, um Unrecht als unerträglich zu empfinden, brauchen wir keinen Gott. Und eigene Taten, die gegen unsere moralischen Wertvorstellungen verstoßen, werden wir verabscheuen, auch wenn wir nicht in den Kategorien von "Sünde" denken. Ja, in dem Moment, in dem Menschen tatsächlich aufgrund von religiösem Glauben Angst vor der Sündhaftigkeit haben, wächst sich das schnell zu einer Obsession aus. Sie sind besessen von Sünde, Sünde, Sünde, einem scheußlichen kleinen Vorurteil, von dem sie ihr Leben bestimmen lassen. Sie haben derartige Panik vor der "Fleischeslust", dass sie andauernd "unreine Gedanken" imaginieren, die Schuld und die Sünde auf die anderen projizieren – die werden dann denunziert, an den Pranger gestellt.
Die Idee der Versündigung gegenüber den Geboten des einen Gottes steht zentral in jeder monotheistischen Religion und ist die Grundlage einer seltsamen, grausamen und neurotischen Subjektivierung. Einerseits sieht der Gläubige sich ins Zentrum der kosmischen Ordnung gestellt, es wird ihm weis gemacht, dass sich Gott um ihn – um jeden Einzelnen – individuell kümmert, was man schon auch ein bisschen wichtigtuerisch finden kann. Auf der anderen Seite sieht sich der Gläubige immerzu als nichtswürdiger, verworfener Sünder, an der Schwelle zu ewiger Verdammnis, als moralisches Nichts, der vor seinem Herrn auf die Knie zu fallen hat. Superioritäts- und Minderwertigkeitsgefühle liegen in seiner Seele im Streit. Gesund ist das bestimmt nicht.
Das Konzept "Sünde", von den Religiösen als Grundlage moralischen Verhaltens verkauft (weil man "gut" ist, um die "Sünde" zu vermeiden), ist eine grandiose Unmoralität und schlägt um in unmoralisches Eiferertum, die Sorge vor der eigenen Verdammnis kippt in die Verdammung der Anderen. Nichts ist besser geeignet, Kinder in Angst und Schrecken zu versetzen und aus normalen Kleinen neurotische Erwachsene zu machen. Wie weit das gehen kann, zeigt sich alle Tage. Jedes Unglück wird als Strafe Gottes gewertet, und jeder, der irgendein Pech im Leben hat, wird es schon irgendwie verdient haben, heißt es in dieser krausen Logik. Die Kehrseite dieses Hasses auf den Sünder ist geradezu eine Lust an den grausamsten Strafen, die der Unglückliche verdient hat, und mangelnde Empathie für den Gestrauchelten.
Ganz gewiss soll uns Religionskritik auch nicht blind machen: Religion existiert und wird das auch weiter tun. Aber ob man diesen Umstand einfach als Fakt anerkennt oder toll findet, das ist dann doch ein Unterschied. Ebenso gewiss ist: Viele religiöse Menschen sind moralische Individuen, Pfarren und Moscheen spannen oft Netzwerke der Hilfsbereitschaft, und wenn es darum geht, Flüchtlingen zur Seite zu stehen, kann man sich auf manchen Kardinal mehr verlassen als auf viele Innenminister. Aber dass, nehmen wir alles in allem, der Nutzen der Religionen ihren Schaden aufwiegt, ist eine Behauptung, für die es nur wenige Evidenzen gibt.