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Eigenständigkeit und Engagement. Zu den politischen Dimensionen von Musik - Essay | Richard Wagner | bpb.de

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Eigenständigkeit und Engagement. Zu den politischen Dimensionen von Musik - Essay

Hanns-Werner Heister

/ 13 Minuten zu lesen

Berührungspunkte, Verbindungen und wechselseitige Durchdringungen von Musik und Politik gibt es viele. Musik entsteht und wirkt im Zusammenhang von Macht und Magie, von Manipulation und Gewalt, von Staat und Kirche, Religion und Rationalität, Rebellion und Zensur, Pazifismus und Militarismus, Markt und Monopolen. Guiseppe Verdi protestierte mit der feierlichen Ketzerverbrennung im Don Carlos gegen geheiligte Unterdrückung, der Walkürenritt von Richard Wagner wurde prostituiert für reale Stuka-Angriffe auf polnische Städte oder einen imaginär-realen Hubschrauber-Angriff auf ein vietnamesisches Dorf wie im Film Apocalypse Now, und der im Vergleich zu Verdi und Wagner weniger bekannte Komponist Karl Amadeus Hartmann reagierte mit dem ausführlichen Zitat des Hussitenchorals zu Beginn seines Violinkonzerts Concerto funebre musikalisch-politisch auf den Münchner Vertrag von 1938, der die Tschechoslowakei den Nazis auslieferte.

Die vielfältigen und vielgestaltigen Beziehungen zwischen Macht, Herrschaft, Politik und Musik, die Einflüsse politischer Instanzen, staatlicher oder staatsförmiger Mächte auf Musik oder Eingriffe in Musik wie Musikkultur sind ein weites Feld. Dazu kommen die Rückwirkungen von Musik auf die Gesellschaft wie etwa die, dass die Brüsseler Aufführung von Daniel-François-Esprit Aubers Oper Die Stumme von Portici, die einen Aufstand gegen Fremdherrschaft darstellt, ihrerseits zum Auslöser der belgischen Revolution von 1830 wurde. Dabei herrscht in der Regel eine Asymmetrie dahin gehend, dass die Wirkungen der Musik auf die Politik schwächer sind als in der umgekehrten Richtung. Hier wie im Folgenden steht Musik häufig für Kunst überhaupt. Ihre Besonderheit liegt vor allem in ihrem Material und ihren Techniken, in jenen von Franz von Schober und Franz Schubert in An die Musik besungenen "süßen Akkorden", also der Verbindung von Geräuschen und Tönen in der Gleichzeitigkeit wie im Nacheinander.

Politik und Musik

Die Fügung "Musik und Politik" trügt etwas: Als wären es zwei gleichberechtigte, gleich umfangreiche, gleichgewichtige Bereiche, die durch ein schlichtes "Und" zu verbinden sind, demzufolge aber auch getrennt werden könnten. Wenn hier Politik vorangestellt wird, deutet die Reihenfolge eine Rangfolge und etwas von den Größen- und Abhängigkeitsbeziehungen an. Musik unterliegt einerseits den Bedingungen und Zwängen der Politik wie der Gesellschaft überhaupt: Orchester werden gegründet, erhalten, fusioniert oder aufgelöst, Musiker und Musikerinnen werden verfolgt oder gefördert, bestimmte Musikarten werden je nach den Umständen verherrlicht oder verboten, musikalische Bildung für alle wird vernachlässigt oder weiterentwickelt. Andererseits aber steht Musik auch insofern über der Politik, als sie, wie andere Künste, befreiend wirken kann. Das muss nicht immer die große Entrückung werden, sondern mag auch klein, bescheiden, alltäglich sein, indem Musik manche "grauen Stunden" des Lebens bunter färbt. Da kommt freilich sofort Illusionäres, Ablenkendes mit ins Spiel, die rosarote akustische Brille sozusagen, die zu veränderndes Negatives mit hübschen Klängen maskiert und verhüllt. So oder so ist Musik schon auf dieser Ebene politisch relevant und hat eine politische Dimension.

Die Beziehungen und Wechselwirkungen gehen aber weiter und tiefer. Richard Wagner glaubte an einen politischen Gehalt seiner Musik und eine daraus folgende politische Wirkung. In seinem Fall war im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 sogar eine grundstürzende Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gemeint: die "Götterdämmerung", der Untergang der alten bürgerlich-kapitalistischen Welt im blutigroten Schein eines "reinigenden Feuers" und das Heraufdämmern einer neuen, jungen Welt. Auch Verdi komponierte zwar etwas weniger radikal, aber dennoch mit politischen Absichten, Werken und Wirkungen, nämlich für eine neue staatliche Ordnung Italiens als einheitlichen nationalen Staat, als Risorgimento, als Wiederauferstehung einer "bessren Welt" und "bessrer Zeiten" (An die Musik), und praktizierte während dieses Prozesses wie danach subtile musikalisch-theatralische Sozialkritik.

Karl Amadeus Hartmann schließlich, dessen Tod sich 2013 zum fünfzigsten Mal jährt, entwickelte sein musikalisches Werk im Widerstand gegen die Nazi-Barbarei und für eine neue, humane Gesellschaftsordnung. Bezeichnend für Hartmanns Werke ist eine offene oder unausgesprochene Programmatik, die in und mit der Musik auf die Welt verweist – und zwar auf die bestehende Wirklichkeit im Lichte ihrer Verbesserbarkeit: "Hält man der Welt den Spiegel vor, so dass sie ihr gräßliches Gesicht erkennt, wird sie sich vielleicht doch einmal eines Besseren besinnen." So schrieb er 1955 anlässlich der Aufführung einer Neufassung seiner während der NS-Zeit entstandenen Oper Simplicius Simplicissimus.

Musik dient bei allen diesen drei Komponisten, wie auch sonst, als Ausdruck wie als Instrument von Ideen, Ideologien, Utopien – einer anarchistisch-frühsozialistischen bei Wagner, einer nationalen und humanistisch-liberalen bei Verdi, einer humanistisch-linkssozialistischen bei Hartmann.

Oft aber wird die Frage nach den Beziehungen zwischen Gesellschaft, Politik und Musik in der erwähnten Entgegensetzung "Musik oder Politik" diskutiert. Ein klassischer deutscher Bezugspunkt dafür ist die Szene mit zechenden Studenten in Auerbachs Keller aus Goethes Faust mit dem viel und oft falsch zitierten "Ein garstig Lied! Pfuy! ein politisch Lied!" Was hier im kleinen Rahmen einer Gastwirtschaft geschieht, lässt sich auf größere politische Kontexte übertragen. Zunächst geht es darum, dass Musik Harmonie herstellt, gegen "Entzweiung" für Vereinigung und Gemeinsamkeit sorgt. "Siebel: Zur Thür hinaus wer sich entzweyt!/Mit offner Brust singt Runda, sauft und schreit!/Auf! Holla! Ho!" Die akustisch-physiologische Gewalt der Musik, die heutzutage oft für Lärmfolter eingesetzt wird, führt freilich hier sofort zu einer Entzweiung: "Altmayer: Weh mir, ich bin verloren!/Baumwolle her! der Kerl sprengt mir die Ohren." Die im Weinkeller herrschende Meinung bekräftigt aber das Einverständnis mit solcher musikalischer Gewalt, und der dergestalt entstehende Zusammenschluss schließt sofort auch aus. "Siebel: Wenn das Gewölbe wiederschallt,/Fühlt man erst recht des Basses Grundgewalt./Frosch: So recht, hinaus mit dem der etwas übel nimmt!/A! tara lara da!/Altmayer: A! tara lara da!"

Schließlich aber entstehen Widersprüche beim Politischen der Musik und in der Musik. "Frosch: Die Kehlen sind gestimmt. Singt./Das liebe, heil’ge Röm’sche Reich,/Wie hält’s nur noch zusammen?/Brander: Ein garstig Lied! Pfuy! ein politisch Lied!/Ein leidig Lied! Dankt Gott mit jedem Morgen/Daß ihr nicht braucht für’s Röm’sche Reich zu sorgen!" Diese un-, ja antipolitische Haltung wurde zwar für die deutsche Ideologie und speziell für die Musikauffassung nach Französischer Revolution, Weimarer und Wiener Klassik charakteristisch. Sie ist aber nicht Goethes eigene Haltung. Dass sie hier von betrunkenen Studenten artikuliert wird, schränkt Wert und Reichweite dieser Aussage doch erheblich ein.

Musik – Gestalt und Gehalt

Im April 1838 schrieb Robert Schumann an seine spätere Ehefrau Clara Wieck: "Es afficiert (berührt und betrifft, H.-W. H.) mich Alles, was in der Welt vorgeht, Politik, Literatur, Menschen – über Alles denke ich nach meiner Weise nach, was sich dann durch die Musik Luft machen, einen Ausweg suchen will. Deshalb sind auch viele meiner Compositionen so schwer zu verstehen, weil sie sich an entfernte Interessen anknüpfen, oft auch bedeutend, weil mich alles Merkwürdige der Zeit ergreift und ich es dann musikalisch wieder aussprechen muss." Der Zusammenhang zwischen Politik und Musik, den Schumann hier erkennt, wird häufig schlicht geleugnet. Ein zentraler Ausgangspunkt und Bezugspunkt dafür ist die Ideologie der "absoluten" Musik. Sie entstand vor allem im deutschsprachigen Raum im Gefolge der romantischen Reaktion gegen die Französische Revolution und steigerte sich dann nach der nur halb geglückten 1848er-Revolution bis zu der bewusst paradoxen Formel des Wiener Musikpublizisten Eduard Hanslick in seiner kleinen, aber bis heute einflussreichen Kampfschrift "Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst" (1854). Darin schrieb er, der Inhalt der Musik sei nur "tönend bewegte Formen". Er war nicht zuletzt ein Gegner von Wagner; dieser hat ihn später in Die Meistersinger von Nürnberg durch die Figur des unkünstlerischen Kritikers Beckmesser karikiert.

Eine reale Grundlage für diese Ideologie ist die Autonomie der Kunst. Entgegen verbreiteten Missverständnissen bedeutet diese nicht Freiheit von Zwecken überhaupt oder gar Freiheit von Inhalten, sondern die Eigenständigkeit der Musik als Freiheit von partikularen Zwecken wie der Indienstnahme von Musik in religiöser Liturgie oder staatlichen Ritualen. Diese Eigenständigkeit steht einem Engagement für allgemeine, humane Zwecke nicht entgegen, sondern fördert sie im Gegenteil sogar. Unter diesen Bedingungen erscheinen das autonome Kunstwerk und seine Zweckbestimmung als Vergegenständlichung einer höheren, eigentlichen Wirklichkeit. In dieser können die Ideale, deren volle Verwirklichung die materielle Realität versperrt, als wirklich erfahren werden. So gesehen enthält sogar das Konzept der "absoluten" Musik mit ihrer Vorstellung einer fast totalen Freiheit von Realitätsbezügen eine mindestens indirekt politisch-kritische Dimension.

Demgegenüber ist politische Musik bewusst auf die gesellschaftlichen Bedingungen bezogen. Eine solche Bewusstheit sowohl vonseiten der Produzierenden wie der Rezipierenden ist eine entscheidende Voraussetzung, um mit Musik Politisches sagen und bewirken zu können – im Sinne von Aufklärung, Gesellschaftskritik, Unterstützung beim Kampf um wirklichkeitsverbessernde Macht, aber auch im Sinne von Gegenaufklärung, Manipulation, Verdeckung von Ausbeutung und Repression. Durch entsprechende Positionierungen in den politischen Auseinandersetzungen kann sich die politische Dimension von Musik in einem gesellschaftlichen Kraftfeld widerstreitender Interessen entfalten.

Das Politische ist nämlich keine immanente Eigenschaft der Musik, im Klang eingeschlossen wie der Geist in der Flasche. Ebenso wenig ist es auf die äußerliche Seite von Textbotschaften zu reduzieren, die vertont werden. Texte können zwar die politische Funktion von Musik konkretisieren, doch Musik ist kein neutrales Transportmittel für politische Botschaften. Der "rotangestrichene Schlager" (so Hanns Eisler Ende der 1920er Jahre) ist noch kein gesellschaftskritisches "Kampflied". Die Borniertheit, hierbei zu unterstellen, nur der Wort-Text könne das Politische sein, ist der anderen symmetrisch, jeder Ton müsse es schon ausdrücken. Jazz oder Zwölftontechnik zum Beispiel wurden, ohne es "an sich" zu sein, ein Politikum, da die Nazis sie als "jüdisch", "kulturbolschewistisch" oder "entartet" verfemten – und Komponisten sie in der Musik des antifaschistischen Widerstands entsprechend verwendeten.

Bei "fortschrittlicher" politischer Musik geht es darum, möglichst sämtliche Dimensionen der Musik beziehungsweise des Musikprozesses politisch sprechend zu machen, also nicht nur Elemente des Tonsatzes, sondern auch den Einsatz in sozialen Kontexten. Dazu gehören Widmung und Vokabelbildung, Melodiezitat und Motto, Chiffren und Topoi, Texte und Vortragsbezeichnungen, Genre- und Strukturzitate, Tonsatz- und Formtypen – in der Verwendung von Fugen- oder Choralsatz, Tanz- oder Liedgestus schwingen jeweils verschiedene soziale Anspielungen mit. Musik wird dergestalt eine spezifische, konkrete Sprache und ist nicht bloß abstrakte Verschönerung von Weihespiel, Aufmarschplatz oder Fronteinsatz oder gebrauchsmusikalisches Spiel. Verdeutlichend wirken schließlich auch Ausdrucks- und Klanggesten, Tonfälle, synästhetische Kombinationen mit Bildern, Film oder Theater. Kunstlos-simple oder kunstvolle Agitation und sublime musiksprachliche Semantik sind generell zwei Pole.

Robert Schumann, der auf Welthaltigkeit seiner Musik großen Wert legte, zeigt eine der vielen Möglichkeiten, in Musik engagiert und kritisch Stellung zu nehmen: Im aufrührerischen Faschingsschwank aus Wien. Fantasiebilder für das Pianoforte (1839) zitiert er verschlüsselt die revolutionäre und im Metternich-Regime verbotene Marseillaise im Dreivierteltakt. Er tarnte sie damit als Walzer und protestierte so raffiniert gegen die Zensur wie gegen die restaurativen politischen Zustände.

Politik – Herrschaft und Staat

Das "Politische" in der Musik ist eine konzentrierte Form des Gesellschaftlichen in der Musik. Eine auch im Hinblick auf Politik wesentliche Grundfunktion von Musik ist es, Mängel der Wirklichkeit, unbefriedigte Bedürfnisse, unerfüllbare Sehnsüchte zu kompensieren und so weit wie möglich Harmonie herzustellen oder doch zu imaginieren, zwischen den Menschen, zwischen widerstreitenden Interessen, sogar zwischen Gesellschaft und Natur. Politik gibt es zwar seit Langem, aber nicht seit jeher, und es wird sie wohl auch nicht immer geben, jedenfalls dann nicht in der bisherigen Form.

Alle Musik hat seither eine latent politische Dimension. Diese Dimension wird aber nur manifest und dadurch gesellschaftlich relevant, wenn Musik in den Bereich der Politik einbezogen ist beziehungsweise wird, in die Sphären von Staat, organisierter Auseinandersetzung zwischen sozialen Gruppen, Kämpfen um Macht, öffentlicher Artikulation kollektiver Interessen. In politischen und sozialen Auseinandersetzungen sind oft nationale eingeschlossen – ebenso Klassen- und Parteikämpfe, religiöse und "rassische" und in neuerer Zeit explizit auch Geschlechterkonflikte. Das Politisch-Musikalische umfasst also ein weites Spektrum zwischen Nationalem und Internationalem, Staat und Massenbewegung, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, parlamentarischen Parteien und sozialen Strömungen.

Die soziale Spaltung in Klassengesellschaften führt dazu, dass sich einerseits Sonderinteressen geltend machen, andererseits aber auch Allgemeingültiges, alle sozialen Widersprüche Überwölbendes nötig ist, wofür sich Musik durch ihre Ich-Wir-Dialektik beim Musizieren besonders eignet. Da Musik aufgrund ihrer Entstehungsbedingungen und dem Spektrum ihrer Grundfunktionen eher jenes Allgemeine repräsentiert, erscheinen schon von daher ihre Funktionen für Sonderinteressen als politischer Missbrauch.

Eine Grundfunktion von Musik ist es, Harmonie, Übereinstimmung, "Versöhnung" zu bewirken. Diese entsteht in einer musikspezifischen Dialektik von Ich und Wir beim Musizieren, von Betätigung und Bestätigung der Individualität wie der Kollektivität vermittels der gemeinsamen Tätigkeit. Diese Zweckbestimmung von Musik reicht in die Anfänge der Musik und damit der Menschheit zurück. Psychische Voraussetzungen und Wirkungsmechanismen sind Lockerung der Ich-Grenzen und Verminderung allzu starker, trennender Selbst-Gefühle. Das führt zu verstärkter und gesellschaftlich unerlässlicher Kooperationsbereitschaft.

Politische Musik – Unterdrückung und Befreiung

Der Begriff der "politischen Musik" hat eine merkwürdige Mehrdeutigkeit. Er wird einerseits zu eng und überspezifisch, andererseits zu weit und unspezifisch gefasst. Politische Musik wird oft fast automatisch mit gesellschaftskritisch, mit "links" im weitesten Sinne assoziiert. Hier kommt ein positiver Begriff des Politischen herein, der dieses im Sinn der Harmonie- und Polis-Idee fasst als etwas, das das Gemeinwohl, das Gemeinwesen und das Allgemeine fördere. Ein weiter Begriff von politischer Musik schließt demgegenüber auch konformistische und konservative bis reaktionäre Musik ein.

Politische Musik unterscheidet sich gerade als politische Musik durch Stellungnahme für oder gegen etwas, für die Oberen oder die Unteren, ist engagiert auf Seiten der Herrschaft oder der ihr Opponierenden, wirkt für Unterdrückung oder Befreiung oder stellt sich neutral im Sinne jener These des NS-Propagandaministers Goebbels, dass Propaganda desto wirksamer sei, je unmerklicher sie wirke. Das Entscheidende ist hier also nicht wiederum abstrakt die Stellung zur Herrschaft an sich, sondern die qualitative Bestimmtheit im Hinblick auf Fortschritt, Befreiung, Humanität.

Damit zeigen sich also in politischer Musik unterschiedliche bis entgegengesetzte Stellungnahmen zum jeweiligen Gesellschaftszustand und zum historischen Prozess und Progress: Einerseits stimmen die Komponierenden und Musizierenden überhaupt mit ihren Produkten dem herrschenden Zustand zu und loben ihn. Andererseits aber kritisieren sie den "Jammer der Erde" (so Gustav Mahler im Lied von der Erde), opponieren offener oder verdeckter, und visieren Veränderungen in der Perspektive eines humanen Fortschritts an, versuchen, wie es Wagner forderte, eine neue, erst ahnbare und "noch ungestaltete Welt" vor Ohren und Augen zu stellen.

Progressiv Politisches in der Musik

Trotz der Vielfalt der politischen Musik bildet aber jene Musik einen Kernbereich, die sich für das Neue, Andere, Humane, für einen nicht technizistisch verkürzten gesellschaftlichen Fortschritt engagiert: Musik als Ausdruck und Vermittlung von grundlegenden menschlichen Wünschen und Bedürfnissen. Es gibt durchaus heutige Musik als eine in Material und Technik progressive, avancierte Kunst, die auf Verbesserung der Welt bedacht ist – sie braucht es, nicht nur irgendwelche Veränderung.

Sozusagen "klassische, politisch progressive" Musik ist etwa Hermann Kellers Werk Mehr als 4' 33" tacet für Sprecher und Klavier (2003). Das Werk bezieht sich auf John Cages viel zitiertes, tonloses Stück 4'33" (Four Minutes, thirty-three seconds, 1952). Keller funktioniert das rein ästhetische Schweigen bedeutsam in "Schweigeminuten für die Opfer in der Welt" um. Strikt im Zeitrahmen von 4 Minuten und 33 Sekunden ordnet er, interpunktiert von clusternahen Klavierakkorden oder Einzeltönen, Opfern verschiedener Kriege jeweils proportional Abschnitte mit Schweigesekunden zu. Die Opferzahlen trägt der Pianist vor. Elegant rückt Keller damit historisch-politische Proportionen zurecht.

Einen anderen, virtuos die aktuellen medialen Möglichkeiten nutzenden Typ politischer Musik produziert der 1980 geborene Komponist Johannes Kreidler. Einige seiner Werke sind ausschließlich fürs Internet konzipiert. Kreidlers über Youtube verbreitetes "Musikstück mit Visualisierung" Charts Music (2009) etwa reagiert auf die Wirtschaftskrise, indem mittels der Komponiersoftware "Songsmith" abstürzende Aktienkurse zu trotz allem lustigen und aufmunternden Melodien gemacht werden ("Krisenzeiten sind immer gute Zeiten für die Kunst"). Der traditionellen musikalischen Figur der Katabasis als Ausdruck einer Wendung ins Negative, Traurige, also der absteigenden Melodielinie dieses "Billion-Dollar-Songs zur Wirtschaftskrise", wie Kreidler ihn selbst nennt, stehen aufstrebende Melodien auf Grundlage anderer Statistiken gegenüber – wie die Zahlen der im Irak-Krieg gefallenen Soldaten, das Wachstum der Waffenindustrie und andere mehr.

Ebenfalls in politischer Absicht schrieb der 1953 geborene österreichische Komponist Georg Friedrich Haas sein 7. Streichquartett (2011), bei dem er elektroakustische Mittel ergänzend heranzog. Das Werk bezieht sich auf die Tsunami- und Atomkatastrophe in Japan im März 2011. Haas entfaltet dafür avancierte Klänge. Er komponiert mit Mikrotönen, also Tönen kleiner als die Halbtöne unseres gebräuchlichen temperierten Tonsystems. Die Wirkung beschrieb ein Kritiker wie folgt: "Ein Tsunami aus Klangsplittern bricht über die Musiker herein, die ihn erzeugten, hinterlässt lähmende Ruhe, vorübergehend. Bis der große Sturm beginnt. Wer nach der Uraufführung (…) ins Freie tritt, traut seinen Augen nicht mehr. Über dem Himmelblau am Vierwaldstätter See ahnt man eine Schwärze. Aber sie bedrückt einen nicht, man blickt weit in ihr. (…) Und es gibt, nach dem elektronischen Tsunami und vor dem großen Sturm am Schluss, das regelmäßige, tonlose Rascheln der Bögen wie leise Brandung auf bleiernem Meer. Unendlich traurig, trostlos. Zum ersten Mal glaubt man zu sehen, zu begreifen, was eigentlich geschehen ist."

Es gibt also nicht nur eine Alternative, sondern viele zu den eher einfältigen Alternativen "Musik oder Politik" und "Musik statt Politik" – nämlich eine vielfältige politische Musik, die, durchaus auch im Sinne Wagners, Zukünftiges und Zukunftsträchtiges in der Gegenwart aufspürt, konkret und sinnfällig gestaltet, und der Wahrnehmung und dem Verstehen von Vielen öffnet. "Der Künstler vermag es, eine noch ungestaltete Welt im voraus gestaltet zu sehen, eine noch ungewordene aus der Kraft seines Werdeverlangens im voraus zu genießen." Ein besseres Leben, eine andere Welt sind möglich. Eine andere Kunst ist zu ihrer sinnenhaft-geistigen Vorbereitung nötig.

Dr. phil., geb. 1946; Professor i.R. für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, Harvestehuder Weg 12, 20148 Hamburg. E-Mail Link: hwh@joki.de Externer Link: http://www.hanns-werner-heister.de