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Wagner-User: Aneignungen und Weiterführungen | Richard Wagner | bpb.de

Richard Wagner Editorial Lassen sich Werk und Künstler trennen? Wagners politisch-ästhetische Utopie und ihre Interpretation Richard Wagner als politisches und emotionales Problem Richard Wagners Antisemitismus Wagner und Verdi – Nationalkomponisten oder Europäer? Wagner-User: Aneignungen und Weiterführungen Zu den politischen Dimensionen von Musik

Wagner-User: Aneignungen und Weiterführungen

Anno Mungen

/ 15 Minuten zu lesen

Einer Generation, die mit Google, mobilen Telefonen, Chats im Netz, Videospielen und E-Book-Readern aufwächst, wird man als Lehrender anders begegnen als damalige Lehrer, deren Schülerinnen und Schüler mit festen Telefonen, Radio, Fernsehen, Kino, Schallplatten und Büchern groß wurden. Die Informationen aus dem Internet, die Clips aus Youtube, die Kurznachrichten auf Smartphones und Twitter sind wie Schnipsel eines nicht enden wollenden Patchworks. Ein Ganzes existiert nicht. Unterbrechung und Diskontinuität sind die eigentlich prägenden Faktoren unserer Zeit: von Informationen, Bildern und Sounds. Die Oper mit ihrem Repertoire wirkt demgegenüber wie ein Museum und erscheint als Repräsentant einer anderen Zeit, die künstlerisch einen Anspruch nach Ganzheit einforderte und formulierte. Richard Wagner, seine Festspiele und die Idee vom Gesamtkunstwerk sind Zeugen dieser Zeit. Die Opernklassiker von Mozart über Verdi, von Wagner bis Puccini und Strauß umfassen lange Zeitspannen, von denen Wagner die längsten überbrückt: bis zu viereinhalb Stunden (oder sogar 16 Stunden im Ring des Nibelungen). Der Zuschauer "eingeschlossen" im Innenraum des Theaters – ohne Handy und Kontakt nach außen –, seine Nervosität vor der Aufführung, das Handy in der Hand und letzte Nachrichten "checkend", ist im Übergang von der Welt des Disparaten in die museale Welt des Ganzen angesiedelt.

Ist Wagners Erbe, das auf einem Werk beruht, das einst medial und ästhetisch weit in eine unbestimmte Zeit verwies, heute mehr als nur museales Drama, das sich – wie im Ring – zwar um aktuelle Themen wie der Sehnsucht nach Macht, der Gier nach Geld, der Sexualität und dem Verhältnis der Geschlechter kümmert, aber doch auch als Kommunikationsform recht veraltet daherkommt? Was bedeutet das Phänomen Wagner für die Gesellschaft heute, jenseits seines Werks und der Überlegungen, die sich an die Allgemeinplätze der immer wieder repetierten Wagner-Aufregung knüpfen, dass er politisch kontrovers einzuschätzen sei, dass er Antisemit war, dass er soziale Utopien verfolgte? Wagner-Aufführungen finden 2013 in noch vermehrter Weise statt. Aber es sind im Jubiläumsjahr überraschend wenig Ansätze zu finden, die daran anknüpfen, dass Wagner ein Neuerer war und die Frage "Warum Wagner?" ernst nehmen. Das Werk der Opern steht im Zentrum des Jubiläums und nicht das ideengeschichtliche Potenzial.

In dem Sinne, dass das Phänomen Wagner mehr ermöglichen könnte, als es das Jubiläumsjahr bislang zeigt, stellt dieser Beitrag zu "Wagner-Usern" aktuelle Rezeptionsmodelle in den Mittelpunkt. Die zusammengestellten Beispiele einer Wagner-Rezeption sind einerseits sehr unterschiedlich, stehen aber andererseits alle im Kontext von Konzepten, die sich um Bildung bemühen. Sie sind zudem – uns dies ist sowohl bei Wagner als auch bei Bildung naheliegend – mit den medialen Gegebenheiten von Ort und Zeit befasst: Wagnerarbeit ist Medienarbeit. Eine studentische Arbeitsgruppe der Universität Bayreuth wird zu Usern dieses Wagners ebenso wie Christoph Schlingensief oder Bertha von Suttner.

Vernetzungsvisionen ohne Wagner

Die Oper war vom 17. bis 20. Jahrhundert wichtiger Spiegel der Gesellschaft, in der diese sich repräsentierte und sich – spätestens seit Giacomo Meyerbeer – auch kritisch mit sich selbst auseinandersetzte. Höhepunkt der kritischen Haltung von Oper im 19. Jahrhundert ist Wagners Ring des Nibelungen. Das immense Interesse an der Oper bröckelt erst mit der Verbreitung des Films ab Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Paradigmenwechsel – weg vom alten Medium Oper hin zu neuen Medien – ließ sich in einer 1910 vom Journalisten Arthur Brehmer herausgegebenen Publikation, welche die "Welt in 100 Jahren" in den Blick nahm, bereits erahnen. Wagners Musik- und Kunstverständnis ist theoretisch wie pragmatisch ebenso an der Zukunft orientiert, wie Wagner zugleich die Gattung Oper als veraltet erkennt, sie weitblickend reformiert und in den Kontext von Gesamtkunst- und Festspielidee stellt. Den Film mit Kino hat er als demokratische und massentaugliche Kunstform antizipiert. Blickt man in die Publikation von Brehmer, in der eine Reihe von damals sehr prominenten Autoren und Autorinnen sich Visionen für das Jahr 2009 – also in etwa unsere Gegenwart – erdachten, so stellt man fest, dass der Oper hier keine Bedeutung beigemessen wird. Zwar taucht der Name Wagner an einigen Stellen auf. Die Gattung Oper selbst aber, die ja zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus noch mit vielen Neukompositionen bedient wurde, wird nicht als zukunftsträchtig angesehen: weder im Aufsatz von Wilhelm Kienzl "Die Musik in 100 Jahren. Eine überflüssige Betrachtung" noch in Max Burckhardts "Das Theater in 100 Jahren".

Die Zukunftsforscher des beginnenden 20. Jahrhunderts interessierten mediale Verbreitungsoptionen, die einhergingen mit Vorstellungen von neuer kommunikativer Vernetzung mittels "drahtlosem Telephon" oder der Erwartung, dass sich der Verkehr vor allem in die Luft verlagern würde. So lautet die Bildunterschrift zur Vision der Opernliveübertragung (vgl. Abbildung in der PDF-Version) entsprechend: "Die Stücke, die in London gespielt werden, werden selbst im ewigen Eis der Arktis oder Antarktis mittelst Fernseher und Fernsprecher auf einen Schirm reproduziert werden." Die "große Oper am Südpol" ermöglicht es, sich zur New Yorker "Theaterzeit" dazu zu schalten: "Wie wär’s, wenn wir uns auch ein klein wenig Musik gönnten und uns die Oper ein Stündchen anhörten?" Wagners Name erscheint hierbei am Rand als Leitbild einer zeitgenössischen Oper des Jahres 2009: "‚Wissen Sie schon, was gegeben wird?‘ ‚Jawohl. Der Held der Lüfte.‘ ‚(…) von Redfers, dem Wagner unserer Zeit? Das trifft sich famos.‘ Und nun saßen die beiden Männer und lauschten – hier im ewigen Eise der Polarregion den Klängen und Stimmen der Newyorker Oper." Tatsächlich weitet und demokratisiert die mediale Übertragungsoption von Wagner- und anderen Opern den Anspruch des Gesamtkunstwerks, wie Wagner es vorschwebte: auch im Kino unserer Zeit mit Liveübertragungen aus der Metropolitan Opera in New York von Lepages Ring etwa, zu dem wir heute Vorträge auf Youtube finden.

Suttners Bildungsfestspiele

Der Text mit dem Titel "Der Frieden in 100 Jahren" wurde von Bertha von Suttner beigesteuert, die 1905 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war. Für den Zusammenhang hier ist der Einstieg in ihre Thematik von großem Interesse, welche die Ereignishaftigkeit und Unmittelbarkeit der Festspielidee mit einem Friedensappell sowie der Bedeutung von Bildung allgemein zusammenträgt. Sie skizziert zu Beginn ihres Beitrags eine Bildungseinrichtung, die den Ideen von Kommunikation durch mediale Vernetzung und Telefonie, wie sie der Band von Brehmer sonst durchzieht, genau entgegensteht: Ihr schwebt eine neue Art der Universität vor, die in der Landschaft und jenseits der Metropolen, dennoch als für Europa zentrale Einrichtung in der Schweiz mit globalem Anspruch zwischen den Gipfeln der Alpen beheimatet ist: "In der ‚Sorbonne von Europa‘ war für den 1. März 2009 ein Vortrag des berühmten brasilianischen Geschichtsprofessors, Dr. Pedro Diaz, angesagt. Allwöchentlich las an dieser Universität ein Gelehrter aus einer anderen Metropole des Globus. Nicht nur die Vortragenden, auch die Zuhörer rekrutierten sich aus allen Weltgegenden." Suttner führt ihr Friedensthema mit einer Bildungsallegorie ein. Ihre Utopie sieht eine Weltuniversität vor, die sich den wichtigen Themen der Zeit annimmt. Das Modell für diese Universität sind nun ausgerechnet Festspiele, die sich der Kunst und Oper widmen: "Wie man hundert Jahre früher von allen Ländern zu den Bayreuther Festspielen pilgerte, so kann man jetzt aus den übrigen Kontinenten nach der auf einem Schweizer Hochplateau als Prachtbau errichteten Sorbonne geflogen, um den Zelebritäten zu lauschen, die dort dozierten."

Der Vergleich mit den Bayreuther Festspielen des Jahres 1909 ist aufschlussreich. Die äußeren Bedingungen der Universität in den Alpen sind an den Wagnerfestspielen in Oberfranken orientiert. In der Abgeschiedenheit bestimmen die Landschaft sowie die dort jeweils speziell errichtete Architektur die Haltung des Publikums zum Dargebotenen. Ebenfalls vergleichbar ist der politische beziehungsweise gesellschaftliche Anspruch. Die Vorlesung wird zum Event, und die Kunstfestspiele werden zu Bildungsfestspielen weitergedacht. Ob die Bayreuther Festspiele im Jahr 2009 aus der Perspektive des Jahres 1909 noch eine Zukunft hatten, ist zwar nicht Suttners Thema. Der Satz, der die Bayreuther Festspiele nennt, scheint aber eher die Prophezeiung zu enthalten, dass diese Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Ende gefunden haben könnte.

Ein eigentliches Konzept lässt sich aus den wenigen Zeilen Suttners, in denen sie so etwas wie europäische Bildungsfestspiele in der Schweiz skizziert, nicht herauslesen. Sie verweist aber mit ihrer Idee auf etwas Zentrales: Wagners großes Potenzial zeigt sich an Entwürfen und Projekten, die sein Opernwerk hinter sich lassen. Dass die Festspiele eine Entwicklung hätten nehmen können, in der nicht mehr die Kunst, sondern die Bildung im Mittelpunkt steht, ist ein kreativer Gedanke.

Operndorf ohne Oper

Einem der großen Visionäre der Kunst unserer Zeit, Christoph Schlingensief, war Wagners Kunst wichtig für sein eigenes Schaffen, das auf gesellschaftliche Veränderung drängte. Schlingensief war in den Spielzeiten 2004 bis 2007 Regisseur der Bayreuther Festspiele, der konservativen Institution, die bis heute den Wagnermythos zelebriert. Er hat sich mit seinem Parsifal diesem Bayreuth untergeordnet und zugleich eine der innovativsten Wagnerproduktionen vorgelegt. Ihn hat am Phänomen Wagner, wie er schreibt, zunächst die Musik interessiert, wobei für ihn die "Frage nach dem Metaphysischen und der Transzendenz zentral" war. Er suchte nach den "Kräften, die zwischen den Menschen walten und die uns entweder auf- oder entladen". Als ihm aufgetragen wurde, den Parsifal zu inszenieren, begab er sich mit Enthusiasmus in das System Bayreuth.

Der Bericht, den Schlingensief hierzu verfasste, ist weniger von Enttäuschung angesichts vieler Probleme geprägt, sondern vielmehr von seiner Freude über die eigentümliche Versöhnung mit dem damaligen Festspielleiter Wolfgang Wagner am Ende der vier Jahre. Rezeptionsästhetisch gebührt seinem Parsifal eine gleiche Stellung wie diejenige, die der berühmte Chéreau-Ring von 1976 erzielt hat. Schlingensief selbst verdeutlicht insbesondere den Sprung seines Ansatzes zum Regietheater, wenn er schreibt, dass es ihm nicht um "billige Aktualisierungsbilder" gegangen sei. Lassen sich solche Aktualisierungen des Regietheaters semantisch und symbolisch (im besten Falle) "auflösen", so war Schlingensiefs Parsifal-Lektüre in diesem Sinne gerade nicht angelegt: weder zu "verstehen", noch im Hinblick auf die Narration zu übersetzen. Die Forderung nach semantischer Auflösung drängte die Festspielleitung anzufragen, was er etwa "mit dem mehrmaligen Auftritt der dicken Frau" bewirken wolle: "Die dicke Urmutter spielt nicht, sie singt nicht, steht nur herum und ist überdies fast unbekleidet, wenn nicht sogar nackt. Das kann und darf nicht Ihr werter Ernst sein, Herr Schlingensief."

Schlingensiefs Freiheit im Parsifal war wesentlich von seiner Beschäftigung mit Afrika geprägt. Sein offener Opernbegriff schärfte sich an seiner Arbeit in Bayreuth – einerseits; und er ist andererseits zielgerichtet an einer Utopie orientiert: dem Operndorfprojekt. Wagners Konzeption seiner Vision für seine Festspiele einschließlich des finanziellen Meisterstücks der tatsächlichen Realisierung hat Schlingensief den Weg für sein eigenes Projekt vorgegeben. "Oper" ist hier keine Gattung, für die man ein Haus bräuchte, um sie aufzuführen, sondern eine Idee, die einen Ort hierfür benötigt. Oper könne nicht "ohne Leben, ohne Improvisationskunst, ohne Spiritualität" vonstattengehen. Sie habe zudem eine politische Dimension und heilende Fähigkeiten. Das Opernkonzept von Schlingensief impliziert auch eine kritische Haltung zu "unserem", einem tradierten und konservierenden "Kunstbegriff". Zugleich sind die Begriffe "Festspielhaus" und "Oper", wie sie das Afrika-Projekt verwendet, um entsprechende Assoziationen auszulösen, auch Marketinginstrumente. Sie sollen die wohlhabende Schicht Europas zu Spenden anregen. Das Operndorf Afrika wird sich also nicht um den Export einer Opernkultur Europas nach Afrika kümmern, sondern es geht von den dortigen kulturellen Bedürfnissen aus.

Der Standort des Operndorfes in Burkina Faso ist in der Nähe der Hauptstadt Ouagadougou. Im Jahr 2010 hat die Festspielhaus Afrika GmbH mit dem Errichten der Bauten begonnen, die von dem in Berlin lebenden afrikanischen Architekten Francis Kéré entworfen wurden. Aino Laberenz, langjährige Mitarbeiterin und Partnerin Schlingensiefs, setzt das Projekt nach dem Tod ihres Mannes (2010) fort. Das Operndorf ist primär Bildungseinrichtung. Es will vieles bieten, nur eben keine Oper: eine Schule mit Film- und Musikklassen, Werkstätten und Lager, Wohn- und Gästehäuser, Kantine, Büros, Café, Siedlungen, Fußballplatz, Agrarflächen, Restaurant, Krankenstation und eine Theaterbühne mit Festsaal und Proberäumen. Es ist ein work in progress und entwickelt sich gemeinsam mit den dort lebenden Menschen.

Bayreuth 2013 "Irre!?" mit Wagner

Das Projekt der Universität Bayreuth zum Wagnerjahr mit dem Titel "WagnerWorldWide2013" (www2013:) regt digitale Optionen von Kommunikation in Wissenschaft und Bildung an. Die Referate und Vorlesungen der Veranstaltungen sind auf einem eigenen Youtube-Kanal zu verfolgen. Digitale Ergänzung erfährt das Projekt durch ein Facebook-Profil und einen Conference Blog. Der globale Anspruch, der sich in der Kooperation mit Universitäten in der Schweiz, den USA und China zeigt, entspricht der Bedeutung, die Wagner heute weltweit hat. Schon Brehmers Publikation von 1910 führte im Kontext der – wie er postulierte vollständigen – Mediatisierung von Oper einen entsprechenden Begriff ein: "Die Patti jener Zeit wird nicht nötig haben, erst weite Konzertreisen zu machen, denn jedes Theater der ganzen Welt wird sich das Weltrepertoire gleichzeitig zu eigen machen." Das "Weltrepertoire" steht für die Entwertung des Regionalen und des Nationalen. Wagners Opern sind heute Teil dieses Weltrepertoires ebenso wie die Musicals eines Andrew Lloyd Webber oder die Filme aus Holly- oder Bollywood.

Jenseits der klassischen Formate des akademischen Lernens wie der Vorlesung oder dem Seminar rückt www2013: ein seit Oktober 2012 vorbereitetes Ausstellungsprojekt als eine neue Art des Lehrformats in den Mittelpunkt der universitären Bildungsarbeit. Kuratiert wird die Ausstellung von acht Master-Studierenden der Studiengänge Geschichte sowie Musik und Performance, eröffnet wird sie zum Beginn der Bayreuther Festspiele im Juli 2013. Vorstellbar ist ein solches Projekt aber auch mit weniger Vorlauf. Das zugrunde gelegte Prinzip ist die Machbarkeit im (jeweils) gegebenen Rahmen, den im Falle der Bayreuther Ausstellung die universitäre Lehre vorgab. Dabei war von vorneherein klar, dass keine große Institution wie ein Museum zur Verfügung stand, die mit Erfahrung, Geld und Personal hätte zur Seite stehen können. Alle Ideen und Konzeptvorschläge mussten sich an dem orientieren, was realisierbar war: entweder mit einem Minibudget oder, wenn die entsprechenden Förderanträge durchgehen, mit gewissen finanziellen Mitteln. Wie im "armen Theater" drängt ein als tragender oder als wichtig erachteter Gedanke nicht immer nach einer Umsetzung, der die große Bühnenmaschinerie – oder hier ein etabliertes Museum – auf den Plan ruft.

Das Konzept, das die Studierenden entwickelten, stellt unter anderem die Frage nach der Identifizierung der Bewohner Bayreuths mit einem für die Stadt so bedeutenden Phänomen wie Wagner. Die "Wagnerstadt" Bayreuth und ihr Verhältnis zur Wahrnehmung dieser Stadt an vielen anderen Orten in der Welt ist Ausgangspunkt der Ausstellung, der die Studierenden den Titel "Irre?! Richard Wagner. Eine Würdigung des Wahnsinns" gaben. Sie blicken dabei auf "ihre" Stadt, in die sie gekommen sind, um zu studieren, die aber auch in anderer Hinsicht viele Spuren in ihrer Biografie hinterlässt. Der Umstand, dass es sich bei Bayreuth um eine Festspielstadt handelt, ist für niemanden, der zum ersten Mal dorthin kommt, zu übersehen. Wagner hat somit ohnehin in das Leben der Bayreuther Studierenden eingegriffen. Und sie reagieren darauf: Sie sind zu Wagner-Usern geworden.

Wir begegnen unseren Studierenden heute selbstverständlich anders, als unsere eigenen Lehrer uns begegneten. Das ist aus vielen Gründen so. Die Rahmenbedingungen von Bildung (Bologna-Prozess) und die Medien der Bildung haben sich sehr gewandelt. Das Format der Ausstellung als Lehrformat ist ein Beispiel, wie man auf diesen Wandel konstruktiv reagieren kann. Es bietet ein Forum, zu diskutieren und zu erproben, wie die Themen Medialität und kulturelle Erfassung von Welt heute zusammenwirken. Bei den Vorbereitungen der Wagner-Ausstellung spielte der Umstand, dass Wagners Musik heute in medialer Form in extremer Weise Verbreitung gefunden hat, eine große Rolle. Das Beispiel der Musik zum Walkürenritt als Handy- oder Filmmusik ist jedem geläufig, auch wenn er oder sie den Zusammenhang mit Wagner nicht herstellt. Die Ausstellung aber wird (wohl) das Thema technische Medialität – vom Computer über das Handy zu Wagners Youtube-Vielfalt – im heute tatsächlich vernetzten Alltag nur am Rande einbringen. Vielleicht ist dies als eine Reaktion auf die Bilder- und Soundfluten zu werten, der sich die Ausstellungsmacher gewissermaßen entziehen. Musik wird in der Vielfalt der Bildeindrücke der Ausstellung zwar als Fernsehton an einer Stelle hörbar und ist hier – wohl eher scheppernd – als ironischer Kommentar auf die ineinander verflochtenen Klang- und Bildgefüge des Festspielhauses zu verstehen. Die drei Ausstellungsräume aber wollen eine eigene Atmosphäre herstellen, die an diesem Ort (im Haus der Bayreuther Klaviermanufaktur Steingraeber & Söhne) Erlebnisse ermöglicht. Die Ausstellung wird so gesehen selbst zum Medium.

Wagner als Anreger

Welche Rahmenbedingungen in welcher örtlichen und historischen Situation man herstellt, um Bildung zu ermöglichen, ist ein Aspekt, der die drei geschilderten Beispiele verbindet. Unter ihnen gibt die "kleine" Bayreuther Ausstellung den vielleicht klarsten Rahmen vor. Das Operndorfprojekt als "große" Konzeption ist langfristig angelegt und muss sich entwickeln. Es basiert auf einer innovativen Auslegung der zentralen Begrifflichkeit "Oper", die der Querdenker Schlingensief an Wagners Festspielkonzept historisch anschließt. Die Festspieluniversität Suttners ist nicht mehr als ein nur skizzenhaft dahingeworfener Gedanke, bei dem es vielleicht nie darum ging, diesen zu entwickeln. Der Festspieluniversität ist somit das Improvisatorische gleichsam im Zustand ihres flüchtigen Entwurfs inhärent, während die anderen Projekte die Improvisation zum Prinzip erheben: bei Schlingensief als work in progress auf eine lange und unbestimmte Zeit ohne sichere Finanzierung und bei der Ausstellung in einem viel kürzeren Zeitraum angesichts der Tatsache, dass die Beteiligten weder erfahrene Kustoden sind, noch das Budget feststeht. So gesehen findet sich hier ein weiteres gemeinsames Merkmal der drei Fallstudien einer besonderen Wagner-Rezeption.

Improvisation spielte auch bei Wagners weitgreifender Festspielidee eine Rolle, nicht zuletzt wegen der unsicheren finanziellen Ausgangslage. Mit der Etablierung der Festspiele als Institution heben sie sich dann aber von den drei hier vorgestellten Fällen deutlich ab, und die ursprüngliche Idee verliert zudem von der Freiheit des Beginns. Suttner und Schlingensief denken das Institutionelle aber auch. Ihre Vorstellung entwickeln sie aus der Festspielidee Wagners, während die Studierenden aus der aktuellen Situation der Festspielstadt Bayreuth einen Kommentar auf dieses Format geben, das sich heute nach außen hin jeglicher Improvisation entzieht und eher davon geprägt ist, dass es Abläufe und Inhalte seit weit über hundert Jahren gleichförmig wiederholt.

Das Operndorfprojekt Schlingensiefs, das sich von der Festspielidee Wagners hat inspirieren lassen, stellt den Bildungsgedanken in den Mittelpunkt und könnte seine Wirkung in der Art einer "Sozialen Plastik" nach Joseph Beuys entfalten. Schlingensief ist Wagner-User, weil er weiterdachte, was Wagners Festspielkonzept heute sein und bedeuten könnte. Suttners Idee von Globalität und kommunikativer Vernetzung über Wissenschaft im Bildungsfestival erhält Aktualität durch die heutigen Optionen des Onlinestudiums, durch die manche Vorlesungen bisweilen über 150.000 Menschen erreichen. Geisteswissenschaftliche Vorlesungen bilden hier zwar noch die Ausnahme. Bertha von Suttner aber hätte ihrem Friedensprofessor Diaz wohl gerne diese Möglichkeiten eingerichtet, die sich die heutigen Eliteuniversitäten Stanford, Harvard und Co. nicht nehmen lassen, um ausgerechnet die Massen zu gewinnen.

Das Projekt der Geschichts- und Musiktheater-Studierenden in Bayreuth weist im Gegenzug zu digitalen Formen der Beschäftigung mit Wissenschaft und Kultur auf Handfestes hin, auf konkrete Arbeit, die sich vor Ort – hier dem genius loci – an Wagner 2013 abarbeitet. Es wäre schön, wenn dieses Projekt andere Arbeitsgruppen, Seminare oder Klassenverbände in Schulen, Universitäten oder anderen Bildungseinrichtungen, die Musik, Kunst und Kultur im Zentrum der Gesellschaft ansiedeln, anregen könnte und nach diesem Prinzip noch weitere Wagner-Ausstellungen entstehen: improvisierend, kreativ, die eigene Wahrnehmung in den Mittelpunkt rückend. Wagner, selbst überaus kreativ – das lernen wir im Ausstellungsprojekt ebenso wie im Rahmenprojekt www2013: – ist ein guter Anreger für andere Kreative: für Wagner-User heute.

Dr. phil., geb. 1961; Professor für Musikwissenschaft, Leiter des Forschungsinstituts für Musiktheater und Inhaber des Lehrstuhls für Theaterwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Musiktheaters an der Universität Bayreuth, 95349 Schloss Thurnau. E-Mail Link: anno.mungen@uni-bayreuth.de