Etwas nicht zu wissen, und vor allem etwas nicht wissen zu wollen, muss in unseren vermeintlichen "Wissensgesellschaften" als höchst bedenklich erscheinen, als Ausdruck von Verantwortungslosigkeit, geistiger Trägheit oder ideologischer Engstirnigkeit. Umso überraschender mag es wirken, dass sich auch und gerade in den gegenwärtigen Gesellschaften eine erstaunliche Vielfalt von sozialen Praktiken des mehr oder weniger bewussten und gewollten Nichtwissens beobachten lässt. Gänzlich verfehlt wäre es, wollte man solche individuellen wie kollektiven Praktiken des Ignorierens, der Geheimhaltung, der Anonymisierung oder des Vergessens als Restbestände vormoderner Gesellschaften oder "traditionaler" Mentalitäten abtun. Wie ich in diesem Beitrag an zwei prägnanten Beispielen, dem "Recht auf Nichtwissen" in der Medizin und der Anonymisierung von Bewerbungen um Arbeitsplätze, erläutere, handelt es sich dabei in vielen Fällen um eine rationale und reflektierte Antwort auf Probleme, die aus der Wissensdynamik moderner Gesellschaften oder aus den Ambivalenzen bestimmter Formen des Wissens entspringen. Bevor ich dies näher begründe, stelle ich zum besseren Verständnis zunächst einige allgemeinere soziologische Überlegungen zum vielschichtigen Wechselspiel von Wissen und Nichtwissen in den heutigen Gesellschaften vor.
Mehr Wissen, mehr Nichtwissen
Dafür, dass wir angeblich in einer Wissensgesellschaft leben, ist in jüngster Zeit auffallend viel vom Nichtwissen die Rede.
Soziologisch weiterführend ist es, Nichtwissen danach zu unterscheiden, inwieweit den handelnden Akteuren bewusst ist oder verborgen bleibt, was sie nicht wissen; inwieweit Nichtwissen ausdrücklich gewollt oder gänzlich unbeabsichtigt ist ("man konnte es nicht besser wissen"); und inwieweit Lücken und Grenzen des Wissens bloß vorübergehend oder aber dauerhaft sind (oder zu sein scheinen). Auch hier besteht das Ziel nicht in der Gegenüberstellung vermeintlich eindeutiger und scharf getrennter Typen des Nichtwissens; vielmehr sind diese Differenzierungen darauf ausgerichtet, auch und gerade Zwischenformen zu erfassen, wie bloß geahntes Nichtwissen oder fahrlässig, durch Mangel an Interesse und Sorgfalt aufrechterhaltenes, aber nicht bewusst gewolltes Nichtwissen. Die genannten Unterscheidungen bieten zudem ein fruchtbares analytisches Instrumentarium, um zu untersuchen, wie die sozialen Akteure selbst in je spezifischen Handlungskontexten ihr eigenes Nichtwissen oder die Wissenslücken anderer wahrnehmen und bewerten. Beobachten lässt sich dann, dass Nichtwissen, sein "Ausmaß", seine Gründe und möglichen Konsequenzen gesellschaftlich äußerst kontrovers gedeutet werden. In jedem Fall stellt sich in dem Maße, wie wir erkennen, dass Nichtwissen weder vollständig vermeidbar ist noch per se irrational und schädlich sein muss, die Frage nach dem Umgang damit in neuer Weise; sie könnte künftig sogar zu einem Schlüsselproblem unserer Gesellschaften werden. Die lange Zeit vorherrschende Auffassung, Nichtwissen könne und solle durch beständiges Wissenswachstum immer weiter zurückgedrängt oder gar ganz "eliminiert" werden, hat inzwischen jedenfalls entschieden an Plausibilität und Überzeugungskraft eingebüßt.
Idealtypisch können zwei Formen der Verknüpfung und wechselseitigen Steigerung von Wissen und Nichtwissen unterschieden werden: Zum einen nimmt Nichtwissen als nicht intendierte Folge der wissenschaftlichen Wissensdynamik zu, zum anderen wächst gleichzeitig die Bedeutung von Formen des bewussten und gewollten Nichtwissens. Das inzwischen fast schon klassische Beispiel für den ersteren Zusammenhang, die unbeabsichtigte Erzeugung von Nichtwissen, stellt das sogenannte Ozonloch dar, die massive Schädigung der schützenden Ozonschicht in der oberen Erdatmosphäre durch Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKW).
Wie dieser Fall eindrucksvoll unterstreicht, ist es die Wissenschaft selbst, die neues Nichtwissen hervorbringt, weil sie die möglichen Folgen ihrer eigenen Erkenntnisse und darauf gestützter Technologien niemals vollständig antizipieren kann. Der britische Wissenschaftstheoretiker Jerome Ravetz sprach deshalb schon vor mehr als 20 Jahren treffend von "wissenschaftsbasiertem Nichtwissen" (science-based ignorance) und vermutete, dieses werde sogar schneller zunehmen als unser Wissen.
Weshalb und inwiefern trägt die Wissensdynamik der gegenwärtigen Gesellschaften dazu bei, dass Formen und Praktiken eines bewussten "Nicht-Wissen-Wollens" (worauf ich mich im Weiteren konzentrieren werde) an Bedeutung und Attraktivität gewinnen und sich damit allmählich auch die negative Wahrnehmung des Nichtwissens zu ändern beginnt? Es lassen sich (mindestens) drei Problemzusammenhänge unterscheiden, in denen eine Aufwertung des intentionalen Nichtwissens zu beobachten ist: Aktives Nichtwissen dient erstens als Abwehrreaktion gegen die Überlastung durch zu viel Wissen, zweitens als Schutz vor belastendem Wissen sowie drittens als Antwort auf negative Effekte des Wissens, wie etwa die auf kognitiven Stereotypen basierende Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen.
Nichtwissen als Abwehr von zu viel Wissen:
Es ist kaum mehr zu übersehen, dass die Masse an Informationen und Wissen, die heutzutage vor allem durch die digitalen Medien prinzipiell verfügbar ist, weder vom Einzelnen noch von Organisationen und Institutionen wirklich verarbeitet werden kann. So gesehen steigert Wissenswachstum nur die Menge dessen, was nicht mehr bewältigt werden kann.
Nichtwissen als Schutz vor belastendem Wissen:
Bei dem Versuch, sich durch bewusstes Nicht-Wissen-Wollen vor belastendem, verunsicherndem oder schmerzhaftem Wissen zu schützen, steht nicht die Überforderung durch die schiere Informationsmenge im Vordergrund, sondern die Erfahrung, dass es nicht selten vorteilhaft ist, bestimmte Dinge nicht oder zumindest nicht so genau zur Kenntnis zu nehmen. Diese Überlegung ist nicht neu, und der "Volksmund" hat für diese Schutzfunktion des Nichtwissens seit Langem die Formel parat "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß". Dass diese altbekannte Maxime gegenwärtig neue, gesellschaftlich brisante Aktualität erlangt, verdankt sich einer beschleunigten Wissensdynamik vor allem im Bereich der Medizin. Diese produziert aufgrund von Fortschritten im Bereich der Genforschung immer neue Erkenntnisse über gegenwärtige oder zukünftige Erkrankungsrisiken bestimmter Personen, jedoch häufig ohne dafür Erfolg versprechende Möglichkeiten der Prävention oder Therapie anbieten zu können. Damit ist die Frage nach der Relevanz und dem Nutzen solchen Wissens aufgeworfen, und es ist kein Zufall, dass das Recht auf Nichtwissen in der Medizin, das ich im folgenden Kapitel ausführlicher behandeln werde, eines der prominentesten Beispiele für diese Form schützenden Nichtwissens darstellt.
Nichtwissen als Antwort auf negative Effekte des Wissens:
Auch da, wo Wissen nicht auf belastende Ereignisse wie den möglichen Ausbruch einer schweren Krankheit verweist, kann es problematische Wirkungen haben. Es kann uns voreingenommen machen, wenn wir von einer Person wissen, dass sie einer bestimmten sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppe angehört. Die Ergebnisse eines klinischen Medikamententests würden verzerrt, wenn das medizinische Personal oder die Patienten wüssten, wer das auf seine Wirksamkeit zu prüfende Arzneimittel erhält und wer ein anderes Medikament oder ein Placebo bekommt. Überdies droht Wissen, Schutzräume der Anonymität und Nicht-Identifizierbarkeit von Personen zu zerstören, die bestimmte Handlungen, pointierte Meinungsäußerungen oder die Mitteilung intimer Informationen überhaupt erst ermöglichen.
Recht auf Nichtwissen in der Medizin
Das Recht auf Nichtwissen, das heißt das Recht, die eigene genetische Konstitution nicht kennen zu müssen, ist in den vergangenen rund 20 Jahren vor allem im Kontext der sogenannten prädiktiven genetischen Diagnostik als ein neuartiges Rechtsgut formuliert worden.
Die besondere Brisanz prädiktiver Gentests resultiert jedoch vor allem daraus, dass in vielen Fällen, in denen genetische Krankheitsdispositionen identifiziert werden können, bisher weder wirksame Präventionsmaßnahmen noch Erfolg versprechende Therapien existieren. Dieses Auseinanderklaffen von diagnostischem Wissen und therapeutischen Möglichkeiten besteht unter anderem bei der Huntington-Krankheit, aber auch bei der Alzheimer-Krankheit, die probabilistisch mit bestimmten Genvarianten in Verbindung gebracht wird. Bei erblichem Brustkrebs wird bisher zur Prävention lediglich die sehr belastende prophylaktische Brustamputation angeboten.
Welchen Vorteil kann die Kenntnis der eigenen genetischen Risiken haben, wenn nicht nur unklar bleibt, ob und wann ein prognostiziertes Leiden tatsächlich eintreten wird, sondern wenn das prädiktive Wissen auch wenige oder gar keine Möglichkeiten eröffnet, sich gegen den Ausbruch der Krankheit zu schützen? Muss man nicht befürchten, dieses Wissen werde viele der betroffenen Menschen nur verunsichern, belasten und lähmen, ohne ihnen tragfähige neue Handlungsperspektiven zu bieten? Könnte dann nicht ein institutionell zu sicherndes Recht auf Nichtwissen, das vor solchem Wissen schützt, eine ernst zu nehmende Antwort auf diese neuartigen Problemstellungen sein, eine Antwort, die geeignet erscheint, die Autonomie der individuellen Lebensgestaltung aufrechtzuerhalten?
Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass Nichtwissen die einzige oder per se die "beste" Antwort wäre, denn es kann und wird immer auch gute Gründe geben, sich für die Kenntnis der eigenen genetischen Krankheitsdispositionen zu entscheiden. Das Recht auf Nichtwissen ist dem Recht auf Wissen nicht über-, aber auch nicht untergeordnet. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass Nichtwissen im Horizont dieser Problematik als eine mögliche Grundlage von individueller Autonomie, Handlungsrationalität und freier Entfaltung der Persönlichkeit begriffen wird; widersprochen wird damit der weit verbreiteten Vorstellung, nur Wissen und das Streben nach Erkenntnis könnten die Bedingung von Autonomie und Rationalität bilden.
Der Schutz der Individuen vor ungewolltem Wissen über ihre genetischen Krankheitsrisiken schließt ein, die Nutzung der entsprechenden Daten durch interessierte Dritte einzuschränken oder ganz auszuschließen. So haben vor allem Arbeitgeber und Versicherungsunternehmen aus naheliegenden Gründen ein starkes Interesse daran, künftige Krankheitsrisiken ihrer Beschäftigten oder Kunden zu kennen. In vielen Ländern, so auch in Deutschland, ist es jedoch untersagt oder nur unter mehr oder weniger engen Bedingungen zulässig, einen prädiktiven Gentest zur Voraussetzung für den Abschluss eines Arbeits- oder Versicherungsvertrags zu machen. Damit soll zum einen verhindert werden, dass Menschen faktisch genötigt werden, sich Kenntnis von ihren genetischen Krankheitsrisiken zu verschaffen; zum anderen sollen Personen mit "ungünstiger" genetischer Ausstattung vor neuartigen Formen genetischer Diskriminierung geschützt werden.
Auch wenn die konkrete Ausgestaltung des Rechts auf Nichtwissen politisch umstritten bleibt und seine tatsächliche Schutzwirkung gesellschaftlichen Veränderungen unterliegt, hat man es gleichwohl mit einer kulturell anerkannten und keineswegs unüblichen sozialen Praxis des Verzichts auf mögliches Wissen zu tun. Verdeutlicht wird dies nicht zuletzt durch den nur auf den ersten Blick überraschenden Umstand, dass häufig gerade Betroffene aus "Risikogruppen" die prädiktive Diagnostik eher zurückhaltend nutzen. Menschen aus Familien, in denen die Huntington-Krankheit aufgetreten ist, haben, wenn ein Elternteil erkrankt ist, ein Risiko von 50 Prozent, selbst von der Erkrankung betroffen zu sein. Obwohl – oder gerade weil – ihnen der Gentest eine fast 100-prozentige Gewissheit darüber verschaffen würde, ob sie an dem bisher unheilbaren, tödlichen Leiden erkranken werden oder nicht, nehmen sie das Testangebot anscheinend nur in einem recht geringen Maß in Anspruch.
Anonymisierte Bewerbungen – ein Weg zu mehr Gerechtigkeit?
Dass Wissen zu sozialer Diskriminierung beitragen kann, ist oben bereits angedeutet worden. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Kenntnis etwa der ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religion, sexuellen Orientierung oder von Geschlecht und Alter einer bestimmten Person die Einstellungen zu dieser Person negativ beeinflusst, sei es in Form offener Vorurteile oder einer oft kaum bewussten, aber dennoch folgenreichen Voreingenommenheit. Solche Effekte existieren in vielen Bereichen des sozialen Lebens. Beobachtet werden sie auch am Arbeitsmarkt, mit negativen Auswirkungen auf Gerechtigkeit und Chancengleichheit: Wenn es um die Besetzung von Arbeitsplätzen geht, haben Angehörige ethnischer Minderheiten, Migranten, Frauen, Ältere und Menschen mit Behinderung auch bei gleicher Qualifikation häufig deutlich schlechtere Chancen als andere Bewerber.
Während anonymisierte Bewerbungsverfahren in Staaten mit einer längeren Einwanderungsgeschichte, wie die USA, Kanada oder Großbritannien, eine gewisse Verbreitung besitzen, sind sie in Deutschland bisher nicht üblich und werden hinsichtlich ihrer Notwendigkeit wie ihrer Erfolgsaussichten teilweise sehr skeptisch bewertet. Ein 2012 abgeschlossenes Pilotprojekt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Zusammenarbeit mit ausgewählten Unternehmen kam jedoch zu positiven Ergebnissen. Danach hat die Anonymisierung der persönlichen Daten tatsächlich zum Abbau der Benachteiligung vor allem von Frauen sowie von Bewerbern mit Migrationshintergrund geführt.
Man kann natürlich einwenden, nicht das Wissen selbst wirke diskriminierend, sondern erst die daraus abgeleiteten Stereotype und negativen Bewertungen von Frauen, Migranten, Älteren oder Menschen mit Behinderung. Dieses Argument ist nicht falsch, doch es unterschätzt, in welchem Maße identifizierendes Wissen schon durch die sprachliche Einordnung bestimmter Personen (als Türkin, Schwarzer oder Behinderter) vermeintliche Gruppeneigenschaften evoziert und den Betreffenden zuschreibt. Sehr leicht und fast unmerklich kann daraus eine den Handelnden oft gar nicht bewusste und daher kaum kontrollierbare Voreingenommenheit hervorgehen.
Symmetrie von Wissen und Nichtwissen
Die vorangegangenen Überlegungen und Beispiele verdeutlichen, dass Praktiken des intentionalen Nichtwissens keineswegs per se unverantwortlich und irrational sind; sie können ganz im Gegenteil helfen, kulturell und normativ hoch bewertete Ziele wie Autonomie und freie Entfaltung der Persönlichkeit oder Chancengleichheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Selbstverständlich wäre es unsinnig, die zahllosen Fälle in Abrede zu stellen, worin Ignoranz, Geheimhaltung und Anonymität höchst zweifelhaften Zwecken dienen und fatale Wirkungen zeitigen. Dennoch darf dies nicht übersehen lassen, dass soziale Praktiken des Nichtwissens in vielen Situationen und Konstellationen eine eigenständige Rationalität und Normativität zum Ausdruck bringen, die auf Ambivalenzen und Grenzen des Wissens angemessen zu reagieren vermögen. Gerade in den gegenwärtigen Gesellschaften mit ihrer expansiven Wissensdynamik sollte diese Korrektivfunktion des Nichtwissens anerkannt und geschätzt werden.
Ich möchte abschließend aus einer soziologischen Perspektive dafür plädieren, noch einen Schritt über die punktuelle Anerkennung dieser Korrektivfunktion hinauszugehen und sich bei der Analyse von Praktiken des Wissens und des Nichtwissens grundsätzlich an einem methodischen Symmetrieprinzip zu orientieren. Methodisches Symmetrieprinzip bedeutet, dass wir sowohl den Wunsch nach Wissen als auch die Bewahrung von Nichtwissen gleichermaßen aus jeweils sozial und kulturell geprägten Gründen und Motiven erklären müssen. Bisher wird zumeist stillschweigend davon ausgegangen, es gebe einen ursprünglichen, natürlichen Wissensdrang der Menschen, der keiner weiteren Begründung bedürfe, während intentionales Nichtwissen als eine singuläre Abweichung davon begriffen wird, die durch jeweils besondere Umstände empirisch erklärt und normativ gerechtfertigt werden müsse. Die Ethnologen Jonathan Mair, Ann Kelly und Casey High vermuten, dass wir es bei dieser Sichtweise mit einer fragwürdigen Projektion der eigenen Handlungsmotive und -ziele von Wissenschaftlern auf die von ihnen beobachteten sozialen Akteure zu tun haben. Ihrer Auffassung nach haben Kulturanthropologen (und man kann wohl ergänzen: auch viele andere Wissenschaftler) "too easily attributed to the people they study the same unambiguous desire for knowledge, and the same aversion to ignorance, that motivates their own work".