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Soziale Praktiken des Nichtwissens

Peter Wehling

/ 16 Minuten zu lesen

Etwas nicht zu wissen, und vor allem etwas nicht wissen zu wollen, muss in unseren vermeintlichen "Wissensgesellschaften" als höchst bedenklich erscheinen, als Ausdruck von Verantwortungslosigkeit, geistiger Trägheit oder ideologischer Engstirnigkeit. Umso überraschender mag es wirken, dass sich auch und gerade in den gegenwärtigen Gesellschaften eine erstaunliche Vielfalt von sozialen Praktiken des mehr oder weniger bewussten und gewollten Nichtwissens beobachten lässt. Gänzlich verfehlt wäre es, wollte man solche individuellen wie kollektiven Praktiken des Ignorierens, der Geheimhaltung, der Anonymisierung oder des Vergessens als Restbestände vormoderner Gesellschaften oder "traditionaler" Mentalitäten abtun. Wie ich in diesem Beitrag an zwei prägnanten Beispielen, dem "Recht auf Nichtwissen" in der Medizin und der Anonymisierung von Bewerbungen um Arbeitsplätze, erläutere, handelt es sich dabei in vielen Fällen um eine rationale und reflektierte Antwort auf Probleme, die aus der Wissensdynamik moderner Gesellschaften oder aus den Ambivalenzen bestimmter Formen des Wissens entspringen. Bevor ich dies näher begründe, stelle ich zum besseren Verständnis zunächst einige allgemeinere soziologische Überlegungen zum vielschichtigen Wechselspiel von Wissen und Nichtwissen in den heutigen Gesellschaften vor.

Mehr Wissen, mehr Nichtwissen

Dafür, dass wir angeblich in einer Wissensgesellschaft leben, ist in jüngster Zeit auffallend viel vom Nichtwissen die Rede. Erstaunlich ist dies allerdings nur, solange man der oberflächlichen und naiven Vorstellung verhaftet bleibt, jeder Zunahme von Wissen entspreche eine proportionale Abnahme des Nichtwissens. Tatsächlich jedoch ist das Wachstum des gesellschaftlichen Wissens in vielfältiger Weise mit einer Zunahme und daraus folgend mit einem Bedeutungsgewinn und Bedeutungswandel des Nichtwissens verknüpft. Man hat es also nicht mit einer starren Dichotomie von Wissen hier und völliger Unwissenheit dort zu tun, sondern im Gegenteil mit der wechselseitigen Bedingtheit und Verflochtenheit je unterschiedlicher Formen des Wissens und Nichtwissens in sozialen Praktiken.

Soziologisch weiterführend ist es, Nichtwissen danach zu unterscheiden, inwieweit den handelnden Akteuren bewusst ist oder verborgen bleibt, was sie nicht wissen; inwieweit Nichtwissen ausdrücklich gewollt oder gänzlich unbeabsichtigt ist ("man konnte es nicht besser wissen"); und inwieweit Lücken und Grenzen des Wissens bloß vorübergehend oder aber dauerhaft sind (oder zu sein scheinen). Auch hier besteht das Ziel nicht in der Gegenüberstellung vermeintlich eindeutiger und scharf getrennter Typen des Nichtwissens; vielmehr sind diese Differenzierungen darauf ausgerichtet, auch und gerade Zwischenformen zu erfassen, wie bloß geahntes Nichtwissen oder fahrlässig, durch Mangel an Interesse und Sorgfalt aufrechterhaltenes, aber nicht bewusst gewolltes Nichtwissen. Die genannten Unterscheidungen bieten zudem ein fruchtbares analytisches Instrumentarium, um zu untersuchen, wie die sozialen Akteure selbst in je spezifischen Handlungskontexten ihr eigenes Nichtwissen oder die Wissenslücken anderer wahrnehmen und bewerten. Beobachten lässt sich dann, dass Nichtwissen, sein "Ausmaß", seine Gründe und möglichen Konsequenzen gesellschaftlich äußerst kontrovers gedeutet werden. In jedem Fall stellt sich in dem Maße, wie wir erkennen, dass Nichtwissen weder vollständig vermeidbar ist noch per se irrational und schädlich sein muss, die Frage nach dem Umgang damit in neuer Weise; sie könnte künftig sogar zu einem Schlüsselproblem unserer Gesellschaften werden. Die lange Zeit vorherrschende Auffassung, Nichtwissen könne und solle durch beständiges Wissenswachstum immer weiter zurückgedrängt oder gar ganz "eliminiert" werden, hat inzwischen jedenfalls entschieden an Plausibilität und Überzeugungskraft eingebüßt.

Idealtypisch können zwei Formen der Verknüpfung und wechselseitigen Steigerung von Wissen und Nichtwissen unterschieden werden: Zum einen nimmt Nichtwissen als nicht intendierte Folge der wissenschaftlichen Wissensdynamik zu, zum anderen wächst gleichzeitig die Bedeutung von Formen des bewussten und gewollten Nichtwissens. Das inzwischen fast schon klassische Beispiel für den ersteren Zusammenhang, die unbeabsichtigte Erzeugung von Nichtwissen, stellt das sogenannte Ozonloch dar, die massive Schädigung der schützenden Ozonschicht in der oberen Erdatmosphäre durch Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKW). Als um 1930 die industrielle Herstellung und Nutzung dieser synthetischen Chemikalien begann, wurden sie durchaus auf bekannte Risiken wie Toxizität und Entflammbarkeit überprüft. Doch niemand wusste oder ahnte damals, dass die FCKW gerade wegen ihrer viel gerühmten chemischen Stabilität bis in die Stratosphäre aufsteigen und dort eine verheerende Wirkung entfalten würden. Erst mehrere Jahrzehnte später wurde der zugrunde liegende Kausalzusammenhang theoretisch erschlossen und schließlich Mitte der 1980er Jahre auch empirisch nachgewiesen.

Wie dieser Fall eindrucksvoll unterstreicht, ist es die Wissenschaft selbst, die neues Nichtwissen hervorbringt, weil sie die möglichen Folgen ihrer eigenen Erkenntnisse und darauf gestützter Technologien niemals vollständig antizipieren kann. Der britische Wissenschaftstheoretiker Jerome Ravetz sprach deshalb schon vor mehr als 20 Jahren treffend von "wissenschaftsbasiertem Nichtwissen" (science-based ignorance) und vermutete, dieses werde sogar schneller zunehmen als unser Wissen. Überdies steht das lange Zeit unerkannte Ozonloch für die beunruhigende Erkenntnis, dass wir häufig nicht nur nicht wissen, welche Konsequenzen wissenschaftlich-technische Innovationen haben könnten, sondern auch keine Ahnung davon haben, wann und wo diese Folgen auftreten werden. Wir können deshalb noch nicht einmal gezielt danach suchen und haben somit keinerlei Gewissheit, sie rechtzeitig entdecken zu können.

Weshalb und inwiefern trägt die Wissensdynamik der gegenwärtigen Gesellschaften dazu bei, dass Formen und Praktiken eines bewussten "Nicht-Wissen-Wollens" (worauf ich mich im Weiteren konzentrieren werde) an Bedeutung und Attraktivität gewinnen und sich damit allmählich auch die negative Wahrnehmung des Nichtwissens zu ändern beginnt? Es lassen sich (mindestens) drei Problemzusammenhänge unterscheiden, in denen eine Aufwertung des intentionalen Nichtwissens zu beobachten ist: Aktives Nichtwissen dient erstens als Abwehrreaktion gegen die Überlastung durch zu viel Wissen, zweitens als Schutz vor belastendem Wissen sowie drittens als Antwort auf negative Effekte des Wissens, wie etwa die auf kognitiven Stereotypen basierende Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen.

Nichtwissen als Abwehr von zu viel Wissen:

Es ist kaum mehr zu übersehen, dass die Masse an Informationen und Wissen, die heutzutage vor allem durch die digitalen Medien prinzipiell verfügbar ist, weder vom Einzelnen noch von Organisationen und Institutionen wirklich verarbeitet werden kann. So gesehen steigert Wissenswachstum nur die Menge dessen, was nicht mehr bewältigt werden kann. Hinzu kommt: Wissen und Informationen zu verarbeiten, bindet Aufmerksamkeit und kostet überdies Zeit und Geld, die dann an anderer, möglicherweise wichtigerer Stelle fehlen. Es ist daher kein Zufall, dass seit einiger Zeit gerade im Wissensmanagement von Organisationen und Unternehmen unter Stichworten wie "intelligente Wissensabwehr", "positive Ignoranz" und "Nichtwissen als Erfolgsfaktor" Praktiken des Ignorierens und der bewusst selektiven Informationsaufnahme propagiert werden. Zwar sieht sich das Plädoyer für positive Ignoranz mit der Schwierigkeit konfrontiert, schon im Voraus, ohne bereits alles zur Kenntnis genommen zu haben, beurteilen zu müssen, was man wissen sollte und was man ohne nachteilige Folgen ignorieren kann. Dennoch wird angesichts weiter wachsender Datenmengen die paradoxe Fähigkeit, zu wissen, was man nicht zu wissen braucht, immer wichtiger werden.

Nichtwissen als Schutz vor belastendem Wissen:

Bei dem Versuch, sich durch bewusstes Nicht-Wissen-Wollen vor belastendem, verunsicherndem oder schmerzhaftem Wissen zu schützen, steht nicht die Überforderung durch die schiere Informationsmenge im Vordergrund, sondern die Erfahrung, dass es nicht selten vorteilhaft ist, bestimmte Dinge nicht oder zumindest nicht so genau zur Kenntnis zu nehmen. Diese Überlegung ist nicht neu, und der "Volksmund" hat für diese Schutzfunktion des Nichtwissens seit Langem die Formel parat "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß". Dass diese altbekannte Maxime gegenwärtig neue, gesellschaftlich brisante Aktualität erlangt, verdankt sich einer beschleunigten Wissensdynamik vor allem im Bereich der Medizin. Diese produziert aufgrund von Fortschritten im Bereich der Genforschung immer neue Erkenntnisse über gegenwärtige oder zukünftige Erkrankungsrisiken bestimmter Personen, jedoch häufig ohne dafür Erfolg versprechende Möglichkeiten der Prävention oder Therapie anbieten zu können. Damit ist die Frage nach der Relevanz und dem Nutzen solchen Wissens aufgeworfen, und es ist kein Zufall, dass das Recht auf Nichtwissen in der Medizin, das ich im folgenden Kapitel ausführlicher behandeln werde, eines der prominentesten Beispiele für diese Form schützenden Nichtwissens darstellt.

Nichtwissen als Antwort auf negative Effekte des Wissens:

Auch da, wo Wissen nicht auf belastende Ereignisse wie den möglichen Ausbruch einer schweren Krankheit verweist, kann es problematische Wirkungen haben. Es kann uns voreingenommen machen, wenn wir von einer Person wissen, dass sie einer bestimmten sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppe angehört. Die Ergebnisse eines klinischen Medikamententests würden verzerrt, wenn das medizinische Personal oder die Patienten wüssten, wer das auf seine Wirksamkeit zu prüfende Arzneimittel erhält und wer ein anderes Medikament oder ein Placebo bekommt. Überdies droht Wissen, Schutzräume der Anonymität und Nicht-Identifizierbarkeit von Personen zu zerstören, die bestimmte Handlungen, pointierte Meinungsäußerungen oder die Mitteilung intimer Informationen überhaupt erst ermöglichen. Aus diesem Grund existiert gerade in modernen Gesellschaften eine Vielzahl von als legitim und selbstverständlich geltenden Formen und Praktiken der Anonymisierung und Geheimhaltung: geheime Wahlen, das Briefgeheimnis, die ärztliche Schweigepflicht, die Anonymisierung sozialwissenschaftlicher Befragungen oder die doppelt anonyme Begutachtung wissenschaftlicher Aufsätze. Andere Formen der Anonymisierung sind zwar stärker umstritten, etwa die anonyme Samenspende oder die anonyme Geburt und Kindesabgabe ("Babyklappe"); doch auch hier lassen sich gute Gründe dafür anführen, auf Wissen über die Identität der beteiligten Personen zu verzichten, um höherwertige Ziele (wie den Schutz des Neugeborenen) nicht zu gefährden. Am ebenfalls nicht ganz unumstrittenen Beispiel anonymisierter Bewerbungsverfahren komme ich unten ausführlicher auf eine Nichtwissenspraxis zu sprechen, die auf problematische Folgen des Wissens reagiert und ihnen entgegenzuwirken sucht.

Recht auf Nichtwissen in der Medizin

Das Recht auf Nichtwissen, das heißt das Recht, die eigene genetische Konstitution nicht kennen zu müssen, ist in den vergangenen rund 20 Jahren vor allem im Kontext der sogenannten prädiktiven genetischen Diagnostik als ein neuartiges Rechtsgut formuliert worden. Es ist inzwischen in vielen Ländern institutionell anerkannt und abgesichert, so auch im deutschen Gendiagnostikgesetz aus dem Jahr 2010. Prädiktive DNA-Diagnostik sucht nach genetischen Besonderheiten bei aktuell gesunden Personen, um daraus Aussagen über erhöhte Risiken dieser Menschen für zukünftige Erkrankungen ableiten zu können. Zu unterscheiden sind dabei deterministische und probabilistische Diagnosen: Im ersten Fall, für den zum Beispiel die Huntington-Krankheit steht, führen bestimmte Genveränderungen mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 100 Prozent zum Ausbruch der Krankheit, wenngleich der genaue Zeitpunkt nicht vorhergesagt werden kann. Der sogenannte erbliche Brustkrebs ist hingegen ein Beispiel für eine probabilistische Diagnose: Falls bestimmte genetische Abweichungen vorliegen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Krebsleiden bis zum Alter von 70 Jahren tatsächlich auftritt, auf etwa 60 bis 80 Prozent. Demnach wird ein nicht geringer Teil der Frauen, bei denen diese genetischen Variationen festgestellt werden, nicht erkranken, da offenbar auch andere Faktoren (Umweltbelastungen, der individuelle Lebensstil und Ähnliches) eine Rolle spielen.

Die besondere Brisanz prädiktiver Gentests resultiert jedoch vor allem daraus, dass in vielen Fällen, in denen genetische Krankheitsdispositionen identifiziert werden können, bisher weder wirksame Präventionsmaßnahmen noch Erfolg versprechende Therapien existieren. Dieses Auseinanderklaffen von diagnostischem Wissen und therapeutischen Möglichkeiten besteht unter anderem bei der Huntington-Krankheit, aber auch bei der Alzheimer-Krankheit, die probabilistisch mit bestimmten Genvarianten in Verbindung gebracht wird. Bei erblichem Brustkrebs wird bisher zur Prävention lediglich die sehr belastende prophylaktische Brustamputation angeboten.

Welchen Vorteil kann die Kenntnis der eigenen genetischen Risiken haben, wenn nicht nur unklar bleibt, ob und wann ein prognostiziertes Leiden tatsächlich eintreten wird, sondern wenn das prädiktive Wissen auch wenige oder gar keine Möglichkeiten eröffnet, sich gegen den Ausbruch der Krankheit zu schützen? Muss man nicht befürchten, dieses Wissen werde viele der betroffenen Menschen nur verunsichern, belasten und lähmen, ohne ihnen tragfähige neue Handlungsperspektiven zu bieten? Könnte dann nicht ein institutionell zu sicherndes Recht auf Nichtwissen, das vor solchem Wissen schützt, eine ernst zu nehmende Antwort auf diese neuartigen Problemstellungen sein, eine Antwort, die geeignet erscheint, die Autonomie der individuellen Lebensgestaltung aufrechtzuerhalten?

Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass Nichtwissen die einzige oder per se die "beste" Antwort wäre, denn es kann und wird immer auch gute Gründe geben, sich für die Kenntnis der eigenen genetischen Krankheitsdispositionen zu entscheiden. Das Recht auf Nichtwissen ist dem Recht auf Wissen nicht über-, aber auch nicht untergeordnet. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass Nichtwissen im Horizont dieser Problematik als eine mögliche Grundlage von individueller Autonomie, Handlungsrationalität und freier Entfaltung der Persönlichkeit begriffen wird; widersprochen wird damit der weit verbreiteten Vorstellung, nur Wissen und das Streben nach Erkenntnis könnten die Bedingung von Autonomie und Rationalität bilden.

Der Schutz der Individuen vor ungewolltem Wissen über ihre genetischen Krankheitsrisiken schließt ein, die Nutzung der entsprechenden Daten durch interessierte Dritte einzuschränken oder ganz auszuschließen. So haben vor allem Arbeitgeber und Versicherungsunternehmen aus naheliegenden Gründen ein starkes Interesse daran, künftige Krankheitsrisiken ihrer Beschäftigten oder Kunden zu kennen. In vielen Ländern, so auch in Deutschland, ist es jedoch untersagt oder nur unter mehr oder weniger engen Bedingungen zulässig, einen prädiktiven Gentest zur Voraussetzung für den Abschluss eines Arbeits- oder Versicherungsvertrags zu machen. Damit soll zum einen verhindert werden, dass Menschen faktisch genötigt werden, sich Kenntnis von ihren genetischen Krankheitsrisiken zu verschaffen; zum anderen sollen Personen mit "ungünstiger" genetischer Ausstattung vor neuartigen Formen genetischer Diskriminierung geschützt werden.

Auch wenn die konkrete Ausgestaltung des Rechts auf Nichtwissen politisch umstritten bleibt und seine tatsächliche Schutzwirkung gesellschaftlichen Veränderungen unterliegt, hat man es gleichwohl mit einer kulturell anerkannten und keineswegs unüblichen sozialen Praxis des Verzichts auf mögliches Wissen zu tun. Verdeutlicht wird dies nicht zuletzt durch den nur auf den ersten Blick überraschenden Umstand, dass häufig gerade Betroffene aus "Risikogruppen" die prädiktive Diagnostik eher zurückhaltend nutzen. Menschen aus Familien, in denen die Huntington-Krankheit aufgetreten ist, haben, wenn ein Elternteil erkrankt ist, ein Risiko von 50 Prozent, selbst von der Erkrankung betroffen zu sein. Obwohl – oder gerade weil – ihnen der Gentest eine fast 100-prozentige Gewissheit darüber verschaffen würde, ob sie an dem bisher unheilbaren, tödlichen Leiden erkranken werden oder nicht, nehmen sie das Testangebot anscheinend nur in einem recht geringen Maß in Anspruch.

Anonymisierte Bewerbungen – ein Weg zu mehr Gerechtigkeit?

Dass Wissen zu sozialer Diskriminierung beitragen kann, ist oben bereits angedeutet worden. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Kenntnis etwa der ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religion, sexuellen Orientierung oder von Geschlecht und Alter einer bestimmten Person die Einstellungen zu dieser Person negativ beeinflusst, sei es in Form offener Vorurteile oder einer oft kaum bewussten, aber dennoch folgenreichen Voreingenommenheit. Solche Effekte existieren in vielen Bereichen des sozialen Lebens. Beobachtet werden sie auch am Arbeitsmarkt, mit negativen Auswirkungen auf Gerechtigkeit und Chancengleichheit: Wenn es um die Besetzung von Arbeitsplätzen geht, haben Angehörige ethnischer Minderheiten, Migranten, Frauen, Ältere und Menschen mit Behinderung auch bei gleicher Qualifikation häufig deutlich schlechtere Chancen als andere Bewerber. Anonymisierte Bewerbungsverfahren sind ein mögliches Mittel, solchen Benachteiligungen entgegenzuwirken: Um "wissensbasierte" Diskriminierungen gar nicht erst entstehen zu lassen, werden in Bewerbungsschreiben Name, Geschlecht, Nationalität, Geburtsort, Gesundheitszustand, Alter und Familienstand der Bewerberinnen und Bewerber nicht angegeben und auch indirekte Hinweise hierauf vermieden. Verzichtet wird außerdem auf ein Foto. Aus naheliegenden praktischen Gründen erstreckt sich die Anonymisierung nur auf die erste Stufe des Bewerbungsverfahrens bis zur Einladung zu einem persönlichen Gespräch. Manches deutet jedoch darauf hin, dass die "Diskriminierungsrate" gerade in dieser Phase am höchsten ist und im persönlichen Kontakt etwas abnimmt.

Während anonymisierte Bewerbungsverfahren in Staaten mit einer längeren Einwanderungsgeschichte, wie die USA, Kanada oder Großbritannien, eine gewisse Verbreitung besitzen, sind sie in Deutschland bisher nicht üblich und werden hinsichtlich ihrer Notwendigkeit wie ihrer Erfolgsaussichten teilweise sehr skeptisch bewertet. Ein 2012 abgeschlossenes Pilotprojekt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Zusammenarbeit mit ausgewählten Unternehmen kam jedoch zu positiven Ergebnissen. Danach hat die Anonymisierung der persönlichen Daten tatsächlich zum Abbau der Benachteiligung vor allem von Frauen sowie von Bewerbern mit Migrationshintergrund geführt. Mit anonymisierten Unterlagen wurden Angehörige dieser Gruppen ebenso häufig oder zumindest annähernd so häufig zu einem Gespräch eingeladen wie Kandidaten aus anderen, strukturell nicht-benachteiligten Personengruppen. Anscheinend kann Nichtwissen tatsächlich zu größerer Gerechtigkeit und Chancengleichheit beitragen, während Wissen offenbar die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Menschen aufgrund ihrer (zugeschriebenen) Gruppenzugehörigkeiten diskriminiert werden.

Man kann natürlich einwenden, nicht das Wissen selbst wirke diskriminierend, sondern erst die daraus abgeleiteten Stereotype und negativen Bewertungen von Frauen, Migranten, Älteren oder Menschen mit Behinderung. Dieses Argument ist nicht falsch, doch es unterschätzt, in welchem Maße identifizierendes Wissen schon durch die sprachliche Einordnung bestimmter Personen (als Türkin, Schwarzer oder Behinderter) vermeintliche Gruppeneigenschaften evoziert und den Betreffenden zuschreibt. Sehr leicht und fast unmerklich kann daraus eine den Handelnden oft gar nicht bewusste und daher kaum kontrollierbare Voreingenommenheit hervorgehen. Hinzu kommt die grundlegende Einsicht, dass kognitive Kategorien und Klassifikationen, so unverzichtbar sie im sozialen Alltagsleben sein mögen, niemals in der Lage sind, der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit jeder und jedes Einzelnen gerecht zu werden: Kein Individuum geht jemals vollständig in sozial konstruierten Gruppenidentitäten auf. Dies mag trivial erscheinen, doch das Beispiel der Diskriminierung am Arbeitsmarkt verdeutlicht, dass soziales Handeln sich in vielen Situationen, ob bewusst oder unbewusst, von dem Wissen um die Gruppenzugehörigkeit von Menschen und ihre dadurch vermeintlich bedingten Eigenschaften leiten lässt. Demgegenüber kann aktives Nichtwissen, selbst in der eher unscheinbaren Praxis anonymisierter Bewerbungen, für die Unangemessenheit und die Gefahren eines primär auf Wissen beruhenden Zugangs zum Anderen sensibilisieren.

Symmetrie von Wissen und Nichtwissen

Die vorangegangenen Überlegungen und Beispiele verdeutlichen, dass Praktiken des intentionalen Nichtwissens keineswegs per se unverantwortlich und irrational sind; sie können ganz im Gegenteil helfen, kulturell und normativ hoch bewertete Ziele wie Autonomie und freie Entfaltung der Persönlichkeit oder Chancengleichheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Selbstverständlich wäre es unsinnig, die zahllosen Fälle in Abrede zu stellen, worin Ignoranz, Geheimhaltung und Anonymität höchst zweifelhaften Zwecken dienen und fatale Wirkungen zeitigen. Dennoch darf dies nicht übersehen lassen, dass soziale Praktiken des Nichtwissens in vielen Situationen und Konstellationen eine eigenständige Rationalität und Normativität zum Ausdruck bringen, die auf Ambivalenzen und Grenzen des Wissens angemessen zu reagieren vermögen. Gerade in den gegenwärtigen Gesellschaften mit ihrer expansiven Wissensdynamik sollte diese Korrektivfunktion des Nichtwissens anerkannt und geschätzt werden.

Ich möchte abschließend aus einer soziologischen Perspektive dafür plädieren, noch einen Schritt über die punktuelle Anerkennung dieser Korrektivfunktion hinauszugehen und sich bei der Analyse von Praktiken des Wissens und des Nichtwissens grundsätzlich an einem methodischen Symmetrieprinzip zu orientieren. Methodisches Symmetrieprinzip bedeutet, dass wir sowohl den Wunsch nach Wissen als auch die Bewahrung von Nichtwissen gleichermaßen aus jeweils sozial und kulturell geprägten Gründen und Motiven erklären müssen. Bisher wird zumeist stillschweigend davon ausgegangen, es gebe einen ursprünglichen, natürlichen Wissensdrang der Menschen, der keiner weiteren Begründung bedürfe, während intentionales Nichtwissen als eine singuläre Abweichung davon begriffen wird, die durch jeweils besondere Umstände empirisch erklärt und normativ gerechtfertigt werden müsse. Die Ethnologen Jonathan Mair, Ann Kelly und Casey High vermuten, dass wir es bei dieser Sichtweise mit einer fragwürdigen Projektion der eigenen Handlungsmotive und -ziele von Wissenschaftlern auf die von ihnen beobachteten sozialen Akteure zu tun haben. Ihrer Auffassung nach haben Kulturanthropologen (und man kann wohl ergänzen: auch viele andere Wissenschaftler) "too easily attributed to the people they study the same unambiguous desire for knowledge, and the same aversion to ignorance, that motivates their own work". Folgt man dieser Überlegung, muss man sich erstens eingestehen, dass auch das Streben nach Wissen nichts Natürliches ist, sondern erklärungs- und gelegentlich auch rechtfertigungsbedürftige Gründe hat; zweitens gilt es anzuerkennen, dass viele alltägliche soziale Praktiken genau deshalb erfolgreich sind, weil die beteiligten Akteure bestimmte (Wissens-)Probleme situativ mehr oder weniger bewusst ignorieren und als irrelevant ausblenden. Man muss, kurz gesagt, akzeptieren, dass Nichtwissen nicht nur ebenso rational sein kann wie Wissen, sondern auch genauso "normal" ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In zahlreichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen ist seit einigen Jahren eine intensive Beschäftigung mit Nichtwissen zu beobachten. Um nur zwei neuere Beispiele zu nennen: Cynthia Townley, A Defense of Ignorance. Its Value for Knowers and Roles in Feminist and Social Epistemologies, Lanham u.a. 2011; Casey High/Ann H. Kelly/Jonathan Mair (eds.), The Anthropology of Ignorance. An Ethnographic Approach, New York 2012.

  2. Dies unterstellt beispielsweise Nico Stehr, Mut zur Lücke. Zur Emanzipation des Nichtwissens in der modernen Gesellschaft, in: Kursbuch 173/2013, S. 164–178. Es scheint diese Fehlinterpretation zu sein, die Stehr zu der erstaunlichen These verleitet, die gesamte Debatte der vergangenen rund 30 Jahre beschäftige sich mit einem "Mythos". Bemerkenswerterweise setzt Stehr seinerseits an die Stelle der Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen eine fragwürdige Dichotomie von Wissen, verstanden als "Handlungsvermögen", und Informationen, die "uns nicht in die Lage versetzen, etwas in Gang zu setzen" (ebd., S. 170). Diese letztlich normativ bestimmte Hierarchie von Wissen und Information erweist sich analytisch als ausgesprochen unplausibel, denn selbst höchst differenziertes und reflektiertes Wissen, etwa historisches Wissen, befähigt uns keineswegs immer, "etwas in Gang zu setzen", während scheinbar banale Informationen durchaus unsere Handlungsfähigkeit steigern können.

  3. Ebenfalls nennen könnte man den "Contergan-Skandal" aus den später 1950er Jahren, also die gravierenden, nicht selten sogar tödlichen Schädigungen menschlicher Föten durch das als besonders sicher vermarktete Schlafmittel Contergan. In diesem Fall wird bis heute eine intensive Debatte darüber geführt, inwieweit diese fatalen Nebenwirkungen tatsächlich unvorhersehbar und unvermeidbar waren.

  4. Vgl. Jerome Ravetz, The Merger of Knowledge with Power. Essays in Critical Science, London–New York 1990.

  5. Vgl. hierzu ausführlicher Peter Wehling, Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens, Konstanz 2006.

  6. Vgl. Jürgen Howaldt/Rüdiger Klatt/Ralf Kopp, Neuorientierung des Wissensmanagements. Paradoxien und Dysfunktionalitäten im Umgang mit der Ressource Wissen, Wiesbaden 2004, S. 80.

  7. Vgl. zur "intelligenten Wissensabwehr" ebd. "Positive Ignoranz" definiert die Managementwissenschaftlerin Ursula Schneider als die "Fähigkeit zu wissen, was man nicht zu wissen braucht", und als "bewussten Umgang mit dem eigenen Verarbeitungsvermögen". Ursula Schneider, Das Management der Ignoranz. Nichtwissen als Erfolgsfaktor, Wiesbaden 2006, S. 77f.

  8. Bereits vor gut 100 Jahren hat Georg Simmel in seiner "Soziologie" (1908) die produktive soziale Rolle des Geheimnisses gerühmt: "(G)egenüber dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht, weil vielerlei Inhalte desselben bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen können." Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/M. 1992, S. 406.

  9. Vgl. aus rechtswissenschaftlicher Perspektive Gunnar Duttge, Das Recht auf Nichtwissen in der Medizin, in: Datenschutz und Datensicherheit, 34 (2010) 1, S. 34–38.

  10. Einzelnen Studien zufolge lassen lediglich rund 15 Prozent der Huntington-"Risikopersonen" einen Test vornehmen. Vgl. Günter Renz, Psychologische Aspekte genetischen Wissens, in: Thorsten Moos/Jörg Niewöhner/Klaus Tanner (Hrsg.), Genetisches Wissen. Formationen und Übersetzungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, St. Ingbert 2011, S. 93–114, hier: S. 95.

  11. Für die USA zeigt ein Feldexperiment, dass (fiktive) Bewerberinnen und Bewerber mit einem "weiß" klingenden Namen um 50 Prozent häufiger zu einem Gespräch eingeladen werden als solche mit einem "schwarzen" Namen. Siehe Marianne Bertrand/Sendhil Mullainathan, Are Emily and Greg More Employable than Lakisha and Jamal? A Field Experiment on Labor Market Discrimination, in: American Economic Review, 94 (2004), S. 991–1013. In Deutschland lässt sich ein ähnlicher, wenngleich schwächerer Effekt für türkeistämmige Migranten feststellen. Siehe Leo Kaas/Christian Manger, Ethnic Discrimination in Germany’s Labour Market: A Field Experiment, in: German Economic Review, 13 (2012) 1, S. 1–20.

  12. Vgl. Annabelle Krause et al., Pilotprojekt "Anonymisierte Bewerbungsverfahren". Abschlussbericht, IZA Research Report 44/2012, S. 3.

  13. Vgl. ebd.

  14. Vgl. Anatol Stefanowitsch, Sprache und Ungleichheit, in: APuZ, (2012) 16–17, S. 27–33.

  15. Jonathan Mair/Ann H. Kelly/Casey High, Introduction: Making Ignorance an Ethnographic Object, in: dies. (Anm. 1), S. 1.

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PD Dr. phil.; Soziologe; Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Augsburg, Universitätsstr. 2, 86159 Augsburg. E-Mail Link: p.wehling@t-online.de