Das Zeitalter der Industrialisierung, der sozialen Ordnung der Industriegesellschaft und der Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nötig waren, um es zu bewältigen, steht vor seinem Ende. Die Grundlagen der sich am Horizont abzeichnenden Gesellschaftsordnung basieren auf Wissen."
Ehe wir uns dieser Kernfrage widmen, treten wir einen Schritt zurück. Warum stellen sich Menschen überhaupt die Frage danach, was die heutige Gesellschaft charakterisiert? Es ist offenbar Orientierung gefragt. Viele Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens unterliegen massiven Umstrukturierungen. Die Erfahrungen eines Rückbaus sozialstaatlicher Leistung und der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen sind allgegenwärtig. Junge Menschen führen eine andere Existenz als die Elterngeneration, deren Berufsleben noch viel stärker von der "Normalerwerbsbiografie" geprägt war – ein Wort, das in heutigen Zeiten fast antiquiert anmutet. Gleichzeitig treten veränderte Konsumgewohnheiten auf den Plan. Durch technische Innovationen haben sich Kommunikationsnetze etabliert, die Bekanntschaften, Freundschaften und Intimbeziehungen von Grund auf anders gestalten. Wenn sich gesellschaftliche Bedingungen für eine Mehrzahl von Menschen erfahrbar wandeln, kommen Zeitdiagnosen ins Spiel. Sie bieten einen schlüssigen Erklärungsversuch an.
Die Diagnose "Wissensgesellschaft" ist dabei besonders erfolgreich. Die wenigsten Menschen sind überrascht, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel wie selbstverständlich davon spricht, dass Deutschland "in den letzten Jahren auf dem Weg zur Wissensgesellschaft ein ganzes Stück vorangekommen" sei.
Einleitend werden wir die Funktionsweise von Zeitdiagnosen skizzieren: Was ist der Anspruch einer solchen Gesellschaftsbeschreibung, wo entsteht sie und wie wirkt sie? Darauf aufbauend wird ein Überblick geboten, auf welche gesellschaftlichen Zustände die Beschreibung Wissensgesellschaft reagiert und wie sich Akteure in verschiedenen sozialen Feldern wie Ökonomie, Politik und Bildung auf diese Diagnose beziehen. Anhand von drei soziologischen Argumentationen wird dann erörtert, wie sich "Gesellschaft" und "Wissen" verändert haben, sodass die Rede von der Wissensgesellschaft überhaupt sinnvoll geworden ist. Da die Wissensgesellschaft allerdings keine wahr gewordene Utopie darstellt, sondern auch nach wie vor vorhandene gesellschaftliche Krisen, Probleme und Machtgefälle erklärt werden müssen, werden zusätzlich die Kehrseiten der Gegenwartsgesellschaft thematisiert, um daraufhin kritisch nachfragen zu können, ob sich die sozialwissenschaftlichen Beschreibungsangebote der Frage nach Chancengerechtigkeit in der Wissensgesellschaft angemessen widmen. Abschließend wird ein kurzes Resümee zu Potenzialen und Gefahren gezogen, die von einer solch wirkmächtigen Zeitdiagnose ausgehen.
Wozu sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen?
Die Diagnose vom Zustand der Gesellschaft und die Lösung von gesellschaftlichen Problemen sind von Beginn an zentrale Themen der "Krisenwissenschaft" Soziologie. In Form von Zeitdiagnosen unternimmt sie den Versuch, systematisch die Wirklichkeit zu ordnen, und erhebt den Anspruch, den Ist-Zustand der Gesamtgesellschaft zu erfassen und zeigen zu können, wohin die Reise geht.
Doch woran erkennt man, ob eine Gesellschaftsbeschreibung "recht hat"? Leider ist es unmöglich, objektiv und historisch unabhängig gültige Kriterien für den Wahrheitsgehalt einer Zeitdiagnose zu finden. Für funktional differenzierte Nationalgesellschaften der nördlichen Hemisphäre kann die Plausibilität von Zeitdiagnosen auf zwei Weisen untermauert werden: zum einen über Analysen der prägenden Gesellschaftsbereiche Wirtschaft und Politik, zum anderen mit Blick auf die einzelnen Gesellschaftsmitglieder und darauf, ob eine Zeitdiagnose wie die Wissensgesellschaft in ihren Handlungsorientierungen eine Rolle spielt. Allerdings: Bei allem Verständnis für den nachvollziehbaren Wunsch, eine neutrale, wissenschaftlich abgesicherte Beschreibung gesellschaftlicher Vorgänge zu erhalten, die dabei hilft, die Welt besser zu verstehen, ist eine "reine" Beschreibung, frei von normativen Implikationen, utopisch.
Tief greifende sozialstrukturelle Veränderungen und eine breite Anerkennung eines Deutungsversuchs dieser Wandlungsprozesse sind die beiden Zutaten, die die Erfolgsgeschichte der Diagnose "Wissensgesellschaft" maßgeblich begründen. Doch wie wurde genau jene Beschreibung in den relevanten gesellschaftlichen Bereichen aufgenommen?
Thematisierung der Wissensgesellschaft in Bildung, Wirtschaft und Politik
Da sich die Themen der Zeitdiagnose "Wissensgesellschaft" um den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wandel durch Wissen sowie um die Bedeutung von Wissen drehen, arbeiten nahezu alle Bereiche der Gesellschaft mit der ihr zur Verfügung gestellten Deutung als Legitimationsgrundlage für die jeweilige erzieherische, (bildungs-)politische und ökonomische Praxis.
Im Bereich der Erziehung, Bildung und Wissenschaft wird die Diagnose am häufigsten als unvermeidbare "Krise" mit dringendem Handlungsbedarf aufgegriffen. Zusätzlich spielt der Begriff des "lebenslangen Lernens" eine Rolle für Anforderungen an die Individuen in einer Wissensgesellschaft. Das Thema wird auf allen Stufen des Bildungsweges – von der frühkindliche Förderung bis zur Hochschule – angesiedelt. In den Debatten ist dabei strittig, bei wem die gestalterischen Zuständigkeiten liegen: Politik, Schule oder Elternhaus. Daneben werden Fragen der Verantwortlichkeit für Medienkompetenz, die mediale Vermittlung von Wissen und die soziale Gerechtigkeit gestellt. Bedenklich ist, dass in Bezugnahme auf die Zeitdiagnose Wissensgesellschaft Prozesse der Ökonomisierung und Standardisierung von Bildungsprozessen oft als notwendiges Übel dargestellt werden, um auf einem globalisierten Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu bleiben.
In den Feldern Politik und vor allem in der Wirtschaft werden wissensgesellschaftliche Problemlagen häufiger als Herausforderungen denn als Krise thematisiert. Insbesondere wird Bildung als wichtigste ökonomische Ressource der Gegenwart und Zukunft hervorgehoben. Im Bereich staatlicher Politik findet sich die paradoxe Situation, dass in Bezugnahme auf die vermeintlichen Anforderungen einer sich am Horizont abzeichnenden Wissensgesellschaft deregulierende Maßnahmen wie beispielsweise der Abbau sozialer Sicherungssysteme durchgesetzt werden, die faktisch einen Bedeutungsverlust des politischen Feldes bewirken.
Die Rede von der Wissensgesellschaft erzeugt und verschärft gesellschaftliche Gegensätze. Im Hinblick auf die Arbeitswelt werden "Gewinner" und "Verlierer" stilisiert, die als zeitgemäße Vorreiter flexibel und lernbereit sind beziehungsweise als "nicht anpassungsfähig" und "abgehängt" stigmatisiert werden. Importiert aus der Diskussion um Ungleichheiten im Bildungssystem verschärft der Verweis auf die Wissensgesellschaft die Dramatik von Inklusions- und Gerechtigkeitsproblemen spezifischer gesellschaftlicher Gruppierungen wie "Kinder mit Migrationshintergrund" oder "Kinder aus sozial schwachen Familien". Doch werden Rezepte zur Überwindung der Krise angeboten. Damit wird der Wandel als kontrollierbar dargestellt.
Es sollte deutlich geworden sein, dass die Zeitdiagnose "Wissensgesellschaft" mehr als eine Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Mit ihrer Hilfe werden in den einzelnen sozialen Feldern Verhältnisse gemacht und begründet: "Die Formel der ‚Wissensgesellschaft‘ wird selbst zu einem Akteur in diesem Geschehen (…). Sie gewinnt eine überragende ‚Deutungsmacht‘."
Gewandeltes Wissen der Wissensgesellschaft: Drei Begründungsfiguren
Den drei Zeitdiagnostikern Nico Stehr, Helmut Willke und Karin Knorr Cetina kommt das Verdienst zu, jeweils ein sozialwissenschaftlich gehaltvolles Konzept der Wissensgesellschaft entworfen zu haben, das sich nicht damit begnügt, lediglich einen quantitativen Zuwachs des Wissens zu behaupten. Sie unternehmen den Versuch, die veränderte Qualität gegenwärtigen Wissens in den Blick zu nehmen.
Die zunehmende Zerbrechlichkeit gegenwärtiger Gesellschaften ist die zentrale Beobachtung des Soziologen Nico Stehr. Die moderne Welt sei komplexer geworden als jede Gesellschaftsform vor ihr. Technische Innovationen und wissenschaftliche Erkenntnisse verursachen maßgeblich den gesellschaftlichen Wandel. Stehr kritisiert, dass diese Entwicklung von vielen soziologischen Ansätzen eher pessimistisch beurteilt wird, als ob Wissen sich verselbstständige und den Menschen wie eine Naturgewalt gegenüber trete. Laut dieser Argumentation sei eine zunehmende Entmachtung und Versklavung des Menschen zu erwarten.
Der Systemtheoretiker Helmut Willke setzt in seiner Beweisführung, dass die Menschheit sich auf dem Weg in die (Welt-)Wissensgesellschaft befinde, auf der Ebene der gesellschaftlichen Strukturen an. In einer solchen Gesellschaft seien die einzelnen Funktionssysteme wie Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Religion und Sport "von wissensabhängigen Operationen durchdrungen".
Einen ganz anderen Pfad der Begründung schlägt die Soziologin Karin Knorr Cetina ein. Ihr Hauptargument zielt auf ein gewandeltes Verhältnis zur Objektwelt.
Zerbrechliche Gesellschaften und gesteigerte Handlungsmöglichkeiten (Stehr), wissensbasierte Funktionssysteme und lernende Organisationen (Willke), objektbezogene Sozialbeziehungen, die vom Virus Wissen infiziert sind (Knorr Cetina), stellen hier drei Begründungsfiguren zur Wissensgesellschaft dar, die unterschiedlicher nicht sein könnten, doch haben sie alle gleichermaßen zur Plausibilität und zum Erfolg der Zeitdiagnose "Wissensgesellschaft" beigetragen.
Schöne neue Wissensgesellschaftswelt?
Die bislang skizzierte Wissensgesellschaft klingt eigentlich recht vielversprechend. Doch was ist mit den Kehrseiten der Wissensgesellschaft? Ermöglicht die Ausbreitung von Wissen in alle gesellschaftlichen Bereiche ein gutes Leben für alle? Anders gefragt: Haben alle Menschen gleichermaßen die Chance, an der Wissensgesellschaft zu partizipieren und von ihr zu profitieren?
Den drei genannten "Promis" der sozialwissenschaftlichen Diagnose "Wissensgesellschaft" ist vielfach vorgeworfen worden, die Frage nach Ungleichheit in der Wissensgesellschaft sträflich vernachlässigt zu haben.
Von Stehr wird die emanzipatorische Seite des Wissens im Sinne einer kantisch-aufklärerischen Form der Mündigkeit betont. Wenig hält er davon, gängige Ungleichheitstheorien auf die Sozialstruktur der Wissensgesellschaft anzuwenden, da "die dominanten begrifflichen Kategorien der Ungleichheitstheorien Akteure und Gruppen eher als gefügige, inflexible Kreaturen darstellen, die sich oft nur als Opfer dargestellt sehen und sich in singuläre, dezidierte Strukturen sozialer Ungleichheit verstrickt finden".
Auch Willke verneint nicht, dass Ungleichheiten und Machtasymmetrien in der Wissensgesellschaft vorkommen. Die Wissensgesellschaft ist für ihn keine zu realisierende Utopie eines besseren Lebens, sondern eine Kombination aus Atopie (globaler Ortlosigkeit), Dystopie (die Kehrseite der Wissensgesellschaft, bestehend aus Ängsten, Risiken, Krisen) und Heterotopie (der Umgang mit pluralen Wissensordnungen).
Für Knorr Cetina stehen andere Fragen im Vordergrund als jene nach den neu entstehenden Ungleichheiten in der Wissensgesellschaft. Dies liegt an ihrem Erkenntnisinteresse, Wissenskulturen in ihrer Funktionsweise genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie ein abstrakter Akteur wie beispielsweise das "globale Finanzsystem" an konkreten Orten "tickt", wie sich menschliche und nichtmenschliche (etwa Börsenkurse, Bildschirme) Entitäten miteinander zu sich wechselseitig definierenden Netzwerken verknüpfen, findet sie faszinierender als die Auswirkungen dieses Finanzsystems auf bestimmte Bevölkerungsgruppen. Ihr Fokus liegt dabei stärker auf der Ermöglichung statt auf wirksamen Zwängen, auch wenn sie diese nicht vollständig außer Acht lässt. Ähnlich wie Stehr befürchtet sie, dass eine zu vorschnelle Beurteilung bestimmter gesellschaftlicher Veränderungsprozesse als "Entfremdung" im Marxschen Sinne übersieht, welchen alternativen Nutzen Akteure aus den gewandelten Interaktionssituationen möglicherweise ziehen. Die Benachteiligten der neuen Gesellschaftsordnung "Wissensgesellschaft" werden in ihren Analysen zum blinden Fleck.
In Bezug auf die drei erfolgreichsten zeitdiagnostischen Perspektiven zur Wissensgesellschaft lässt sich festhalten, dass die Themen Ungleichheit und Chancengerechtigkeit gar nicht (Knorr Cetina), am Rande (Stehr) oder fatalistisch (Willke) angesprochen werden. Gemein haben die drei Vertreter, dass sie die Rücknahme sozialer Prinzipien zwar feststellen, sich aber wenig oder achselzuckend mit den Verliererinnen und Verlierern dieser sozialstrukturellen Wandlungsprozesse auseinandersetzen. Auch wird innerhalb des jeweiligen zeitdiagnostischen Gedankengebäudes – mit Ausnahme von Knorr Cetina – nicht reflektiert, welchen Effekt Zeitdiagnosen auf gesellschaftliche Veränderungen haben können.
Fazit: Ambivalenzen der Wissensgesellschaft
Die Beobachtungen hinterlassen ein ambivalentes Gefühl. Einerseits leistet diese Gesellschaftsbeschreibung gerade das, was von einer guten Diagnose erwartet werden sollte: Sie scheint eine überzeugende Anatomie der Gegenwart zu liefern und erfährt deswegen breite Akzeptanz. Zudem betont sie neue Handlungsspielräume der Akteure und neigt nicht zur Schwarzmalerei vieler anderer soziologischer Ansätze, die vor allem auf die Ausweglosigkeit (post-)moderner Verhältnisse hinweisen. Andererseits konnten aber auch die Risiken dieser Beschreibung herausgearbeitet werden, die nicht nur eine aktuelle Situation sprachlich repräsentiert, sondern selbst zur Legitimation sich verschlechternder Verhältnisse herangezogen wird und Politiken der Deregulierung und des Sozialabbaus damit faktisch unterstützt. Das Versprechen, dass in der Wissensgesellschaft mehr möglich ist, hat ein neoliberales Geschmäckle von "selbst schuld, wer diese Möglichkeiten ungenutzt lässt". Die Zeitdiagnose "Wissensgesellschaft" oszilliert folglich zwischen Sichtbarmachung von Verhältnissen und der Vereinnahmung durch Interessengruppen, zwischen Aufklärung und Verklärung der Bedingungen, die das gesellschaftliche Leben bestimmen.
Auch wenn die Wissensgesellschaft sich in den gesellschaftlichen Feldern und den sozialwissenschaftlichen Ansätzen in der Regel affirmativ auf die kapitalistische Ordnung bezieht und diese als einzig mögliche aller Welten argumentativ stützt, so hat diese Konstellation aus strukturellen Freisetzungsprozessen und der Bereitstellung von Denkwerkzeugen aber auch das Potenzial zur Unterminierung des Status quo: "Die wissensgesellschaftliche Formation bietet – gleichsam in potenziell selbstdestruktiver Weise – die strukturellen Voraussetzungen, um auch alternatives, konkurrierendes, gegenhegemoniales Wissen über die Ordnung der Gesellschaft zu produzieren."
Nachdem die Diagnose nun bereits seit einigen Jahren dominant ist, gesellen sich inzwischen weitere Labels um die Beschaffenheit der Gegenwartsgesellschaft hinzu: Ob "Innovationsgesellschaft", "Zeitalter der Beschleunigung", "Aktivierungsgesellschaft" oder auch die "erschöpfte Gesellschaft"
Diesen Prozess des Nach-, Um- und Weiterdenkens in Gang gesetzt zu haben ist ein Verdienst der Diagnose "Wissensgesellschaft". Leben wir in solch einer Ordnung? Die Antwort lautet: Ja, aber nicht nur und keinesfalls "alternativlos". Und wir können uns fragen, in welcher Art von Wissensgesellschaft – mit welchem Wissen, in welchen Machtverhältnissen – wir eigentlich leben wollen.