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Wissenssoziologie, Wissensgesellschaft und die Transformation der Wissenskommunikation | Wissen | bpb.de

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Wissenssoziologie, Wissensgesellschaft und die Transformation der Wissenskommunikation

Hubert Knoblauch

/ 17 Minuten zu lesen

Seit einigen Jahrzehnten ist der Begriff der "Wissensgesellschaft" in aller Munde. Wie im Folgenden gezeigt wird, hatte die Soziologie die Bedeutung des Wissens auch schon für frühere Gesellschaftsformationen herausgestellt. Mit der Entstehung der Wissenssoziologe vollzieht sie sogar eine Art kopernikanische Wende: Nicht mehr das zuvor am Individuum festgemachte solitäre "Erkennen" steht im Mittelpunkt eines Verständnisses von Wissen, sondern das soziale Wissen. Dieses Wissen bietet die grundlegende Orientierung für das menschliche Handeln und trägt damit auch zu sozialen Prozessen bei, die wir als gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit bezeichnen. Welche Wirklichkeit konstruiert wird, hängt deswegen sehr wesentlich von der jeweiligen sozialen Verteilung und den Arten der kommunikativen Vermittlung des Wissens ab. Dabei zeichnet sich die moderne Gesellschaft durch eine hochgradige Spezialisierung des Wissens aus. Als Wissensgesellschaft macht sie Wissen nicht nur wissenschaftlich "objektiv", sondern zu einem Gegenstand – in einem durchaus zwiespältigen Sinne als Produkt und Ware. In der Diskussion der Wissensgesellschaft wird jedoch häufig die Rolle der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien übersehen, die zu einer Veränderung der Formen der Wissenskommunikation, zur Autodidaktisierung und zur Popularisierung des Wissens beitragen.

Wissen und Gesellschaft

Von alters her sind Wissen und Erkenntnis zentrale Themen der Philosophie. Wenn man wissen will, warum sich die Soziologie mit Wissen beschäftigt, mag ein kurzer Rückblick hilfreich sein. Die Bedeutung des Wissens wurde schon vom Begründer der Soziologie, Auguste Comte, hervorgehoben. Im Frankreich des beginnenden 19. Jahrhunderts sah er bereits die Besonderheit der anbrechenden Moderne nicht nur in der wachsenden Bedeutung der Industrie, sondern vor allem in der Umstellung vom religiösen und metaphysischen auf das "positive" (im Sinne des Positivismus) Wissen der Wissenschaft. Auch Karl Marx erkannte die gesellschaftliche Bedeutung des Wissens an. Wissen ist seiner Vorstellung nach das Ergebnis eines aktiven Prozesses, der sich in der sozialen Praxis vollzieht. Die Ablösung der Erkenntnis von der Praxis in der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist für ihn eine Folge der Teilung von intellektueller und manueller Arbeit. Diese Ablösung bildet einen wichtigen Grund für die Entfremdung, die sich durch die kapitalistische Produktionsweise noch verschärft. In Verbindung mit den verschiedenen Klasseninteressen verweist diese Arbeitsteilung auch auf einen entscheidenden Aspekt seines Wissensbegriffes: In arbeitsteiligen Gesellschaften führe die materielle Ausbeutung durch die herrschende Klasse dazu, dass das anerkannte Wissen zu einer Ideologie wird. Ideologie heißt jenes Wissen, das sehr entschieden vom Klassenstandpunkt derjenigen geprägt ist, die dieses Wissen vertreten und ihm durch ihre Herrschaft Legitimität verleihen. In den ideologischen Wirren der 1920er Jahre bildete dieser Begriff die Grundlage für Karl Mannheims berühmte Fassung der Wissenssoziologie. Er hob die allgemeine "Seinsverbundenheit" des Wissens hervor. Nicht nur soziale Klassen, sondern jede Art sozialer Gruppierungen kultivieren ihr eigenes Wissen beziehungsweise ihren Denkstil und nehmen dadurch eine besondere Perspektivität ein. Moderne Gesellschaften sind deswegen durch plurale Perspektiven gekennzeichnet, die jeweils von ihrem sozialen Standort abhängen. In Mannheims Augen ist es die Aufgabe der Wissenssoziologie, zwischen diesen verschiedenen Perspektiven zu vermitteln.

Im Gefolge von Mannheim wurde die Relativität des Wissens bald auf die gesamte Wissenschaft ausgeweitet. Hatte Ludwik Fleck schon zu Anfang der 1930er Jahre die Abhängigkeit von Denkstilen von den Denkkollektiven aufgezeigt, so verband Anfang der 1960er Jahre Thomas Kuhn beide Begriffe zum berühmten Konzept des Paradigma: Die Wissenschaft "akkumuliere" keineswegs ständig ihr Wissen, wie etwa Karl Popper angenommen hatte, sondern sei ständigen Veränderungen, ja Revolutionen ausgesetzt, in denen altes Wissen in dem Maße entwertet und ersetzt werde, wie seine Trägerschaften sich änderten. Spätestens mit dem "Strong Program"der Wissenschaftssoziologie begann sich innerhalb der zunehmend sozialwissenschaftlich orientierten Wissenschaftsforschung (Science Studies) die Einsicht durchzusetzen, dass auch die (natur-)wissenschaftliche Erkenntnis entscheidend von ihrem sozialen Kontext beeinflusst werde. Im sogenannten Laborkonstruktivismus wird gar die These vertreten, dass gerade die Handlungen, mit denen die Wirklichkeit erforscht wird, zur Konstruktion dieser Wirklichkeit beitragen. Es seien beispielsweise erst die Messungen mit bestimmten Apparaten, die die gemessenen Objekte als real erzeugen.

Der Gedanke, dass die Wirklichkeit eine soziale Konstruktion sei, war zuvor in einer der umwälzendsten der jüngeren wissenssoziologischen Theorien formuliert worden: In ihrer "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" hatten Peter Berger und Thomas Luckmann einerseits eine der ersten Formulierungen des wissenschaftlichen Konstruktivismus geleistet; als "Theorie der Wissenssoziologie" war ihr Buch andererseits auch ein radikaler Neubeginn der Wissenssoziologie: Nicht nur wissenschaftliches Wissen oder politische Ideologien, sondern jede Form des Wissens, auch die des Alltagsmenschen, gilt ihnen als etwas, das mit den sozialen Einheiten korreliert und variiert. Mehr noch: Wissen steht am Grunde jedes Handelns, das es als gesellschaftlich vermittelten Sinn leitet und das durch seine Folgen selbst wieder zur Wirklichkeit wird. Obwohl das Wissen auf der Begabung des Subjekts zum sinnhaften Handeln aufbaut, weist es einen entschieden sozialen Charakter auf: Erst im koordinierten Zusammenspiel mit anderen, dank der Vermittlung durch sie und kraft der mit ihnen gestalteten sozialen Institutionen wird der Sinn einzelner Handelnder zu Wissen für Handelnde.

Soziales Wissen

Hatte die frühe Soziologie die kulturelle und historische Variabilität des Wissens herausgestellt, so trat mit der ersten Phase der Wissenssoziologie die Abhängigkeit des Wissens von sozialen Strukturen zutage; mit der jüngeren Wissenssoziologie vollzieht sich jedoch etwas, was man (in einer etwas paradoxen Anspielung auf Immanuel Kant) die kopernikanische Wende des Wissenskonzepts nennen kann: Wissen beschränkt sich keineswegs auf das erkennende Verhältnis des "Subjekts" zum "Objekt", wie es die individualistische Erkenntnistheorie betont; Wissen ist vielmehr ein entschieden soziales Verhältnis zwischen dem Subjekt und Anderen. Ausgangspunkt der Erkenntnis ist also nicht das isoliert gedachte erkennende Subjekt, sondern die soziale Beziehung zu Anderen, die sich in Handlungszusammenhängen realisiert; Objekte, Dinge und Natur sind demzufolge nicht vorgegeben, sondern Ableitungen aus diesem sozialen Verhältnis. Die grundlegende Sozialität des Wissens zeigt sich nicht nur daran, dass dieses Wissen selbst für Andere erfahrbar und beobachtbar gemacht, also "objektiviert" werden muss. Darüber hinaus werden die Objektivationen in der Regel Konventionalisierungen unterworfen (von der Sprache bis zu den technisch unterstützten Medien der Wissensproduktion) und institutionalisiert. Man darf die soziale Konstruktion also keineswegs missverstehen als willkürliche Gestaltbarkeit durch einzelne Handelnde; sie folgt vielmehr den Gesetzen der sozialen Institutionalisierung, die erst den Eindruck der "Objektivität" des Wissens erzeugen (und zur Not auch legitimieren).

Das Wissen über die Wirklichkeit ist also entschieden sozialisiert. Oder anders gesagt: Wissen ist die soziale Form des Sinns, der Erfahrungen und Handlungen leitet. Diese soziale Formung betrifft nicht nur die ausdrücklichen und häufig auch noch gesondert geregelten Formen des Wissens, wie etwa die Sprache, das "Schulwissen" oder gar die "höheren Wissensformen" (etwa Kunst, Wissenschaft, Religion). Wie beispielsweise die jüngere Wissensforschung belegt, sind auch die sogenannten impliziten Formen des Wissens zu einem erheblichen Maße durch soziale Prozesse bestimmt und habitualisiert: ob es sich um die Art handelt, wie wir sehen (die in "Sehgemeinschaften" eingeübt wird), ob es um die Präferenz für einen bestimmten Essensgeschmack geht oder gar um die elementaren zeitlichen und räumlichen Orientierungen und Kategorien. Deswegen ist Wissen durchaus im Körper verankert, der jedoch nicht auf das Gehirn reduziert werden kann, sondern auch immer mit subjektiven und durchaus emotionalen Gewichtungen der Handelnden verknüpft ist.

Aus diesem Grund kann man Wissen nicht auf die gängigen aufklärerischen Konzepte einer vom "Irrationalen" unterschiedenen Rationalität reduzieren. Selbst jeder vermeintlich noch so "irrationale" Glaube kann zu einem systematischen und "rationalen" Wissenssystem ausgebaut werden und in jeder Ausbaustufe dramatische Handlungsfolgen zeitigen. Dabei muss man keineswegs nur an die Geschichte der Magie oder der Religion denken; gerade durch die spätmoderne "Renaissance der Religion" finden ebenso die "religiösen" Wurzeln und Motive der Wissenschaft wieder Beachtung, und auch der Umstand, dass die moderne Wirtschaft nicht der Ort einer die Menschheit übergreifenden Rationalität wurde, dürfte gegen eine manichäische Gegenüberstellung von "Rationalität" und "Irrationalität" sprechen.

Wissen, Moderne und Rationalisierung

Aus dieser Perspektive unterscheiden sich Wissensformen nicht aufgrund substanzieller Unterschiede, sondern durch den sozialen Umgang mit Wissen, wobei vor allem die Ausbildung von spezifischen Institutionen für Sonderwissen von Bedeutung ist. Diese Entwicklung trägt auch zu der sozial ungleichen Verteilung des Wissens bei. Dass soziales Wissen nicht schon "kollektives Wissen" ist, wird bereits in einfachsten Formen der Gesellschaft deutlich, in denen sich das Wissen etwa nach Alter und Geschlecht differenziert. Mit der Ausbildung von Institutionen (beispielsweise geschlechtsspezifische Initiationsriten, Altersklassen) nimmt die soziale Verteilung des Wissens schärfere Formen an. Die Institutionalisierung von Wissensunterschieden ist vor allem mit der Spezialisierung verbunden, die besondere soziale Rollen entstehen lässt. Bezeichnenderweise verbinden die frühen Spezialisierungen, wie etwa Schamanen, Schmiede oder Priester, in der Regel die vermeintlich substanziell geschiedenen "Wissensformen", also religiöses, medizinisches, technisches oder politisches Wissen. Dennoch setzt vor allem die Freisetzung der Spezialisten für ihre besonderen Tätigkeiten und ihr Sonderwissen die Unterstützung durch herrschaftliche Macht voraus. Gerade frühe Spezialisierungen des Wissens übernehmen deswegen häufig auch legitimatorische Funktionen. Legitimationen leiten nicht nur den Sinn der Handelnden in den Institutionen, sondern "machen" auch für diejenigen "Sinn", die aus den Institutionen ausgeschlossen sind.

Die Spezialisierung des Wissens bedeutet erstens, dass sich Sonderwissen ausbildet, das sich vom gesellschaftlichen Allgemeinwissen unterscheidet und zu dem Gesellschaftsmitglieder einen beschränkten Zugang haben. Deswegen ist die Spezialisierung des Wissens, zweitens, mit einer starken Tendenz zur Bindung an bestimmte soziale Rollen geknüpft, also Wissensexperten, die eine bestimmte, von der Gesellschaft als relevant erachtete Wissensform zum mehr oder weniger hauptberuflichen Gegenstand ihres Handelns machen. Solche Rollen reichen von Priestern und "Weisen" bis hin zu Technikern, Intellektuellen oder Wissenschaftlern. Die damit verbundene Absonderung und die Anforderungen ihrer Legitimation sind, drittens, Voraussetzung für eine Tendenz zur Theoretisierung des Wissens. Diese Tendenz wird dadurch verstärkt, dass nun die Vermittlung des Wissens selbst zur institutionalisierten Aufgabe (einer "sekundären" oder "tertiären" Sozialisation) der Spezialisten wird. Die Wissensvermittlung kann verschiedenste Formen annehmen, wie etwa das beiläufige praktische Einüben in der frühen Sozialisation, die Ausbildung spezieller sozialer Wissensrollen in der sekundären Sozialisation (etwa Lehrling und Meister) oder das gezielte Vermitteln von ausdrücklichem Wissen (Lehrer und Schüler). Die Theoretisierung ist schließlich damit verbunden, dass mit der institutionalisierten Wissensvermittlung eine besondere Art des Wissens entsteht: Wissen über Wissen, wie es für die Wissensgesellschaft prägend wird.

Mit der Entwicklung von Sonderwissen, seiner Institutionalisierung und den entsprechenden sozialen Rollen wird auch die "Macht des Wissens" zu einem ausdrücklichen Thema, etwa als Kanonisierung von Wissen, das regelmäßig vermittelt werden soll, oder als Nihilierung beziehungsweise Ausschluss von Wissen durch Zensur. Welches Wissen als Sonderwissen institutionalisiert und welches kanonisiert wird, ist, wie erwähnt, mehr oder weniger eng mit den Herrschaftsverhältnissen und der praktischen oder legitimatorischen "Nützlichkeit" des Wissens für bestimmte soziale Gruppen verknüpft. Fast notwendig folgen daraus auch Konflikte zwischen Wissensexperten um die Anerkennung ihres Wissens. Die Art der Institutionalisierung des Wissens, etwa in Gestalt von Akademien, Kirchen, Werkstätten oder Schulen, kann als Wissensordnung betrachtet werden, wobei die von den Herrschaftsverhältnissen gestützten Institutionen des Wissens ein Wissensregime bilden. Die Wissensordnung ist jedoch schon wegen der genannten Konkurrenz, aber auch aufgrund des Generationswechsels Konflikten ausgesetzt und deswegen einem Wandel unterworfen. Dazu kommt, dass die Frage, wem Sonderwissen vermittelt wird und wer Zugang zu den Rollen der Experten hat, sehr exklusiv oder sehr inklusiv behandelt werden kann.

Da Sonderwissen strukturell zumeist Selektion erfordert, steht die Verteilung des Wissens in einem engen Zusammenhang mit der sozialen Ungleichheit. Dieser Zusammenhang wird nicht nur von deren dominierender Form geprägt, also etwa Kasten, Klassen, Schichten oder Milieus. Die Wissensordnung muss nämlich soziale Ungleichheit keineswegs abbilden oder verstärken, das Wissen kann auch zur Modifikation sozialer Ungleichheit oder zu ihrer Abschwächung beitragen. Man denke nur an die traditionelle Durchlässigkeit hoher katholischer Ämter selbst für Bauernkinder, an die tragende Rolle des protestantischen Pfarrhauses für die deutschen Intellektuellen in der protestantisch dominierten deutschen Kultur des 19. Jahrhunderts oder an die bedeutende Rolle von Gelehrten aus der ansonsten marginalisierten deutsch-jüdischen Bevölkerung in der deutschen Wissenschaft bis zum Nationalsozialismus.

Während die soziale Ungleichheit in allen Gesellschaften auf unterschiedliche Weise mit den Wissensordnungen verknüpft ist, hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass die Institutionalisierung des Wissens in den westlichen Gesellschaften einem Muster folgt, das Max Weber als Rationalisierung bezeichnet. Das wissenschaftliche Wissen etwa setzt sich vom religiösen Wissen ebenso deutlich ab wie die Politik eigenständige sinnhafte Orientierung ausbildet und vermittelt. Diese wird im 19. Jahrhundert mit der Herausbildung des Nationalstaates bekanntlich so dominant werden, dass sie gelegentlich (als Nationalismus) religiöse Züge annimmt. Rationalisierung umfasst neben der Spezialisierung auf besondere Aufgaben beziehungsweise der funktionalen Differenzierung auch eine typisch westliche Tendenz zur analytischen Behandlung, systematischen Ordnung und instrumentellen Ausrichtung von Handlungen, die sich in der okzidentalen Wissenschaft, Technik oder in der westlichen Fassung des Kapitalismus ausdrückt.

Die Rationalisierung, die mit der Spezialisierung des Wissens und ihrer Institutionalisierung einhergeht, hat die Frage aufgeworfen, in welcher Weise moderne Gesellschaften die damit verbundene Aufspaltung des Wissens und der Handlungsorientierungen überbrücken und ihre Mitglieder integrieren können. Wissenssoziologisch wird diese Frage durch den Blick auf gemeinsame und geteilte Wissensbestände beantwortet, wie sie als kollektives Gedächtnis, Allgemeinwissen oder, noch grundlegender, durch den Begriff der Lebenswelt bezeichnet werden. Dabei kommt es jedoch zu sehr unterschiedlichen Diagnosen: Während die einen davon ausgehen, dass die geteilten Wissensbestände zunehmend schrumpfen, die Handelnden entsprechend freigesetzt werden und ihren subjektiven (Geschmacks- oder Erlebnis-) Präferenzen zunehmend selbstständig und damit auch eklektisch folgen, sehen andere etwa in der gemeinsamen "soziokulturellen Lebenswelt" oder in neuen "Gemeinschaften" einen Gegenentwurf zur "funktionalen" Aufspaltung des Wissens der spezialisierten Institutionen.

Wissensgesellschaft

Zwar wurde die Annahme, dass die westliche Form der Rationalisierung notwendig zur "Modernisierung" gehört, durch verschiedene Entwicklungen in Zweifel gezogen. Dazu gehört die Beobachtung einer "zweiten", "reflexiven" oder "Post"-Moderne, der anhaltende Bestand, ja die neue Konjunktur religiösen Wissens und die im Zuge der Globalisierung unübersehbare Durchsetzung von "multiplen" Formen der Moderne mit den verschiedenen kulturellen Ausprägungen des Kapitalismus. Das Konzept der Wissensgesellschaft kann man als ein wissenschaftliches Modell ansehen, das jedoch selbst handlungsleitend wirksam wurde und dabei dieser kulturellen Pluralisierung und Relativierung eine westliche Fassung entgegenhält. Auch wenn die Wissensgesellschaft mit dem dramatischen Wandel von der industriell dominierten Warenproduktion zur "Wissensarbeit" und "Wissensökonomie" einhergeht, so folgt sie doch sehr deutlich dem westlichen rationalistischen Fortschrittsglauben an das wissenschaftliche "positive" Wissen und an die Möglichkeit der stetigen Akkumulation des Wissens. Dieser Glaube hat durchaus reale Folgen, denn das Konzept der Wissensgesellschaft wurde als "Wissenspolitik" recht zielstrebig verfolgt, mit hohen Kosten finanziert und breit legitimiert. Man muss dazu nur an die geplante schulische "Bildungsrevolution" denken, wie sie von den Vereinigten Staaten in den 1950er Jahren initiiert wurde, den ebenso geplanten Ausbau des Wissenschaftssystems in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren oder die mannigfaltigen politischen Maßnahmen zur Durchsetzung der globalen Wissensgesellschaft seit den 1990er Jahren. Der mit dieser Ausweitung einhergehende Versuch der Durchsetzung einer westlich geprägten, "wissensgesellschaftlichen" "Weltkultur" kommt in den vergangenen Jahren etwa in der Standardisierung von Schulleistungen (unter anderem im Gefolge von PISA), der Übernahme der angelsächsischen Studienformen und der Einführung globaler wissenschaftlicher Leistungsevaluation besonders deutlich zum Ausdruck.

Die Wissensgesellschaft zeichnet sich zum einen durch eine starke Orientierung am wissenschaftlichen, "positiven" und "objektiven" Wissen aus. Offensichtlich spielt die Wissenschaft eine große Rolle zur Bestimmung und Legitimation des Wissens; sie hat auch gewissen Einfluss auf den Zugang zu zunehmend professionalisierten (keineswegs notwendig "wissenschaftlichen") Berufskarrieren; dennoch kann man die Wissenschaft keineswegs als die dominierende Institution im Regime der Wissensgesellschaft ansehen. So führte die Ausbreitung des Neoliberalismus und des damit verbundenen "New Public Management" auch in den Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen dazu, dass diese ökonomischen Forderungen nach (außerwissenschaftlicher) Nützlichkeit ausgesetzt sind und zunehmend privatisiert werden. Damit verbunden beobachten wir tendenziell eine Veränderung der Wissenschaft selbst von disziplinären, analytischen und hierarchisch organisierten zu transdisziplinären, synthetischen und heterarchischen Arbeits- und Organisationsformen. Die Ziele der wissenschaftlichen Wissensproduktion werden keineswegs von der Wissenschaft allein, der Politik oder der Wirtschaft formuliert, sondern auch von der medialen Öffentlichkeit und dem demokratischen Mitspracherecht der zivilgesellschaftlichen Institutionen.

Die seit Comte betonte "Positivität" von Wissen hat denn auch keineswegs nur eine wissenschaftliche Denotation; sie verweist auf den Charakter des Wissens als Produkt und auf seine Herstellung als Wissensproduktion. Wissen dient nicht mehr nur zum Handeln, sondern wird selbst ein Handlungsprodukt: Es ist etwas, das man besitzen kann, das getauscht und "transferiert" werden und damit zur Ware werden kann. Mit der Wissensgesellschaft ist schon seit den 1960er Jahren die Annahme verbunden, dass eine eigene "Wissensklasse" entstanden sei, die durch die massive Bedeutungszunahme der Bildung für die soziale Ungleichheit eine gewisse Stütze erfährt. Wissen ist nicht einfach mehr Teil des Handelns, vielmehr zielt das Handeln auf das Wissen als sein Produkt. Die Wissenssoziologie ist reflexiv, weil sie Wissen als das betrachtet, was den von ihr erforschten Akteuren als Wissen gilt. Die Wissensgesellschaft könnte man in einem ganz anderen Sinne reflexiv nennen, dass sie von der schieren Existenz von Wissen (und Nichtwissen) ausgeht und ihre Reflexion auf die Produktion des Wissens richtet, das die Anerkennungsprozesse des Wissens, also die Evaluation, mit einschließt.

Wissenskommunikation, Autodidaktisierung und populäres Wissen

Die halbwegs erfolgreiche Ausbreitung der Wissensgesellschaft ist jedoch mit einer weiteren Entwicklung verbunden, die häufig übersehen wird. So "objektiv" Wissen auch sein mag, bedarf seine gesellschaftliche Nutzung als "Produkt" doch der Vermittlung. Man kann diese Vermittlung euphemistisch als "Transfer" bezeichnen, als handele es sich um ein Paket, das verschickt wird. Genauer betrachtet geht es bei der Vermittlung von Wissen aber immer und notwendig um Kommunikation. So sehr die Herstellung, Objektivierung und Vermittlung von Wissen auf Kommunikation angewiesen ist, ruht auch die Ausbreitung der Wissensgesellschaft auf der Veränderung der gesellschaftlichen Kommunikation. In der Tat geht der Ausbau der Wissensgesellschaft einher mit dem parallelen Ausbau der "Informationsgesellschaft". Die "Informationsgesellschaft", die seit den 1960er Jahren mit einem enormen finanziellen Aufwand angetrieben wird, betont sicherlich die Technisierung des Wissens, die es als Objekt, Produkt und Ware verfügbar macht; ihre Bedeutung für die Wissensgesellschaft beruht auf der Nutzung von Informationstechnologie zu Zwecken der Kommunikation, also der weitgehenden Fusion von Informations- mit Kommunikationstechnologien der vergangenen zwei Jahrzehnte.

Die rasche Ausbreitung der neuen Kommunikationstechnologien hat nicht nur eine massive Vermehrung, ja Vervielfältigung der Kommunikation zur Folge, können doch nun selbst die alltäglichen Vollzüge der Kommunikation en masse, aber individualisiert etwa als Video, Fotografie oder Audiodatei selbst wieder (als "Information") kommuniziert werden. Dass sich dabei auch die Nutzungsweisen und die Formen der Kommunikation ändern, hat auch Auswirkungen auf die Wissensgesellschaft oder genauer: die Kommunikation des Wissens. Zudem entstehen neue kommunikative Formate und Gattungen der Wissenskommunikation. Ein Beispiel dafür ist die Powerpoint-Präsentation. Auch wenn sie an Formen anschließt, die in der Wissenschaft wie auch in Wirtschaftsorganisationen verbreitet waren, belegt ihre explosionsartige und globale Ausbreitung in alle gesellschaftlichen Bereiche nicht nur die Geschwindigkeit der Veränderung. Die Verbindung von gespeicherter und weltweit vernetzter Information und technisch unterstützter lokaler Vorführung macht auch die Mediatisierung des Wissens deutlich: Im Unterschied zur Umcodierung des Wissens in neue Medien werden damit auch die Änderungen der Handlungs- und Kommunikationsformen bezeichnet. Denn Wissen ist nun als Information im Rahmen weltweiter interaktiver Netzwerke verfügbar und zugleich Teil von lokalen Vorführungen, in denen, wie etwa bei den Powerpoint-Folien, zum einen die Information interaktiv realisiert und dabei deren reduzierter Sinn situativ und praktisch "repariert" wird. Zum anderen wird diese Information auf die Akteure zuschreibbar, die durch die Performanz ihre subjektive Kreativität unter Beweis stellen und die Information damit als ihr "Wissen" deklarieren können.

Die technische Auslagerung von Wissen als Information und deren mediatisierte Einbettung und Nutzung in neuen Kommunikationszusammenhängen führen auch zu neuen Formen der Aneignung von Wissen. Neben der technischen Auslagerung von Wissenselementen, die auch in der Situation relevant sind (wie etwa das geografische Wissen durch GPS), und der Abkoppelung der interaktiven Wissensvermittlung von lokalen interaktiven Prozessen (beispielsweise Videovorlesungen) scheint es zu einer zunehmenden Autodidaktisierung zu kommen, also erhöhten Anforderungen an die "selbstständige" Wissensaneignung. Man könnte von einer Selbstsozialisation in Sonderwissensbereiche sprechen, denn die Autodidaktisierung stellt erhöhte Anforderungen an das Selbst, die einen vermehrten Bedarf an Beratung und vermutlich auch eine Reihe psychologischer Folgeprobleme nach sich zieht.

In Verbindung mit den Forderungen nach öffentlicher Zugänglichkeit des Wissens können diese Veränderungen der Kommunikation dazu führen, dass sich das Wissen von der Struktur der auf Sonderwissen spezialisierten Institutionen, den damit verbundenen Rollen (Spezialisierte, Experten, Professionelle) und der von ihnen getragenen Wissensordnung ablöst und zum populären Wissen wird. Mit populärem Wissen meine ich nicht nur die gezielten Popularisierungen der Wissenschaft, die sich um einen "Transfer" ihres Sonderwissens bemühen. Denn wie sich etwa an der Wissenschaft zeigt, ändert sich das Wissen, wenn es zum Transfer anders kommuniziert werden muss; zudem sind eine Vielzahl an wissenschaftlichen Formen der Kommunikation gerade durch die Ausbreitung der Wissensgesellschaft so sehr in den Alltag eingegangen, dass man sie als populär beschreiben kann (von der Statistik über die Multiple-Choice-Frage bis zum "Seminar"); und schließlich entwickeln sich außerhalb der Wissenschaft eigene populäre Formen der Wissenskommunikation, die deutlich auf die Wissenschaft zurückwirken ("Video-Tutorials", Leistungsrankings oder science slams).

Diese Entwicklungstendenzen sind jedoch eingebettet in eine bestehende institutionelle Struktur, die ihnen durchaus Widerstand entgegenstellt. Das zeigt sich sehr deutlich am Beispiel der Wissenschaft. Weil die Wissenskommunikation immer mehr eigene Formen findet, die keiner wissenschaftlichen Legitimation bedürfen, entsteht hier ein Konflikt um Grenzen, Entgrenzung und Autonomie der Wissenschaft. Dieser Konflikt rührt durchaus an den Grundfesten des Wissens, geht es doch um die Frage, ob Wissen strukturierten und entsprechend geordneten Prinzipien folgt, die den begründeten Kriterien einer institutionalisierten wissenschaftlichen Kritik unterworfen werden können, oder ob das Wissen entgrenzt wird, sodass es zwar, wenigstens innerhalb demokratischer Gesellschaften, immer mehr soziale Kreise einbezieht und jedem "zur Verfügung" steht, seine Inhalte und die Kriterien seiner Bewertung aber in der Kommunikation verflüssigt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für ausführlichere Erläuterungen zur Entwicklung der Wissenssoziologie und ihrer Forschung vgl. Hubert Knoblauch, Wissenssoziologie, Konstanz 2010. Für ihre wertvollen Hinweise möchte ich mich bei Barbara Goll, Boris Traue, René Tuma und René Wilke bedanken.

  2. Vgl. Karl Popper, Logik der Forschung, Tübingen 1959.

  3. Nicht nur wissenschaftliche Fehler sind demnach soziologisch erklärbar, sondern auch das "wahre" Wissen sogar der Mathematik. Vgl. David Bloor, The Strengths of the Strong Program, in: James Robert Brown (ed.), Scientific Rationality: the Sociological Turn, Dordrecht 1984, S. 75–94.

  4. Vgl. Karin Knorr Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, Frankfurt/M. 1984.

  5. Vgl. Thomas Luckmann, Über die Grenzen der Sozialwelt. Lebenswelt und Gesellschaft, Paderborn 1980, S. 56–92.

  6. Vgl. Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1970.

  7. Vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003; Hans-Georg Soeffner/Jürgen Raab, Sehtechniken. Die Medialisierung des Sehens, in: Werner Rammert (Hrsg.), Technik und Sozialtheorie, Frankfurt/M. 1998, S. 121–149.

  8. Vgl. Nadia Zaboura/Jo Reichertz (Hrsg.), Akteur Gehirn – oder das vermeintliche Ende des handelnden Subjekts, Wiesbaden 2006.

  9. Vgl. Lorraine Daston, Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt/M. 2001.

  10. Vgl. Monique De Saint Martin/Pierre Bourdieu, La sainte famille, in: Actes de la recherche en sciences sociales, 44 (1982), S. 2–53; Martin Greiffenhagen, Das evangelische Pfarrhaus, Stuttgart 1984; Erhard R. Wiehn (Hrsg.), Juden in der Soziologie, Konstanz 1989.

  11. Vgl. Ronald Hitzler/Anne Honer/Michaela Pfadenhauer (Hrsg.), Posttraditionale Gemeinschaften, Wiesbaden 2008.

  12. Vgl. Peter Berger, The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics, Grand Rapids 1999; Sergej N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000; Peter A. Hall/David Soskice (eds.), Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001.

  13. Vgl. Nico Stehr, Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens, Frankfurt/M. 2003.

  14. Vgl. Richard Münch, Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey & Co., Frankfurt/M. 2009.

  15. Vgl. ders., Akademischer Kapitalismus, Berlin 2011.

  16. Vgl. Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons, Re-Thinking Science. Knowlegde and the Public in an Age of Uncertainty, London 2001.

  17. Vgl. Peter Weingart/Martin Carrier/Wolfgang Crohn, Nachrichten aus der Wissenschaft, Weilerswist 2007.

  18. Vgl. Hubert Knoblauch, Informationsgesellschaft, Workplace Studies und die Kommunikationskultur, in: Günther Hirschfelder/Birgit Huber (Hrsg.), Die Virtualisierung der Arbeit, Frankfurt/M. 2004, S. 357–380.

  19. Vgl. Hubert Knoblauch, Powerpoint, Communication, and the Knowledge Society, Cambridge 2013; Bernt Schnettler/ders. (Hrsg.), Powerpoint-Präsentationen. Neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation von Wissen, Konstanz 2007.

  20. Vgl. Friedrich Krotz/Andreas Hepp (Hrsg.), Mediatisierte Welten, Wiesbaden 2012.

  21. Vgl. Donald MacKenzie, The Credit Crisis as a Problem in the Sociology of Knowledge, in: American Journal of Sociology, 116 (2011) 6, S. 1778–1841.

  22. Vgl. Boris Traue, Das Subjekt der Beratung, Bielefeld 2010.

  23. Ich schließe hier an dem Konzept der populären Religion an. Vgl. Hubert Knoblauch, Populäre Religion, Frankfurt/M.–New York 2009.

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Dr. rer. soc., geb. 1959; Professor für Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Berlin, Institut für Soziologie, Fraunhoferstraße 33–36, 10587 Berlin. E-Mail Link: hubert.knoblauch@tu-berlin.de