Von allen Staaten des sogenannten westlichen Balkans hat Kroatien die größten Fortschritte gemacht. Binnen weniger Jahre wurde aus einer Postkonfliktgesellschaft ein EU-Beitrittsstaat. Aber kann Kroatien auch einen Schlussstrich unter seine jugoslawische Vergangenheit ziehen? Kroatien wird auch in Zukunft noch in starkem Maße von der Stabilität seiner Nachbarn abhängen. Viele konkrete Probleme, die sich aus dem Zerfall Jugoslawiens ergaben, sind noch nicht abschließend geklärt. Dazu kommen die noch nicht aufgearbeitete Geschichte des Vielvölkerstaats und die Nachwirkungen des Zerfallskrieges. Aus ureigenem Interesse wünschen sich die Kroaten gute Beziehungen zu den Nachbarn, allerdings keine zu engen, und schon gar keine erneuten politisch-institutionellen Verbindungen. Jahrelang standen Befürchtungen im Raum, es könne zu einer irgendwie gearteten Neuauflage des jugoslawischen oder eines neuen südosteuropäischen Staatsverbandes kommen – und das womöglich als Alternative zur EU-Mitgliedschaft. Kroatien bemühte sich daher um ein konstruktives, jedoch distanziertes Verhältnis zu den Ländern der Region. Nicht zuletzt galten gute nachbarschaftliche Beziehungen als eine wichtige Bedingung im EU-Beitrittsprozess. Weil aber auch die anderen Westbalkan-Staaten auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hinarbeiten und die Vergangenheit baldmöglichst hinter sich lassen wollen, haben sich die zwischenstaatlichen Verhältnisse normalisiert. Lediglich das Verhältnis von Serbien und Kosovo bleibt gespannt. Die regionale Zusammenarbeit hat gute Fortschritte gemacht, zum Beispiel durch Freihandelsabkommen und gemeinsame Infrastrukturprojekte. Nichtsdestoweniger bleiben auch für Kroatien noch bilaterale Probleme zu lösen. Sie betreffen vor allem die Nachbarn Slowenien, Bosnien-Herzegowina und Serbien.
Slowenien
Mit Slowenien, das am selben Tag wie Kroatien seine Unabhängigkeit erklärte, ergaben sich drei große Konflikte. Das langwierigste Problem ist seit 1991 die Demarkation der Staatsgrenze. Sie gelang erst nach jahrelangen Expertenverhandlungen und ist in einigen Details bis heute nicht abgeschlossen.
Heftiger Streit entbrannte um die Seegrenze im Golf von Piran, die zu jugoslawischer Zeit nie demarkiert wurde. Slowenien erhob Anspruch auf die gesamte Bucht, während Kroatien die Grenze nach dem international üblichen Prinzip der Äquidistanz in der Mitte ansiedelte. Da sich nach dieser Regelung die kroatische und die italienische Seegrenze direkt vor der Küste kreuzen würden, hätte es bedeutet, dass Slowenien keinen direkten Zugang zu internationalen Gewässern erhalten hätte. Die Regierung in Ljubljana warf den Kroaten daher unrechtmäßige Ansprüche auf slowenisches Territorium vor. Der Streit ging so weit, dass die slowenische Regierung 2008 ein Veto gegen die Fortsetzung der EU-Verhandlungen mit Kroatien einlegte.
Neben Symbolpolitik ging es vor allem um Fischereirechte für Tiefseegebiete sowie die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten des slowenischen Adria-Hafens Koper, der stark mit dem kroatischen Hafen Rijeka konkurriert.
Auch in einem weiteren Streit setzte Slowenien seine Veto-Macht für die Durchsetzung seiner Interessen gegen Kroatien ein. Diesmal ging es um "verschwundene" Spareinlagen kroatischer Bürger bei der slowenischen Ljubljanska Banka nach dem Zerfall Jugoslawiens. Etwa 132.000 kroatische Devisensparer hatten ihre Einlagen verloren, als das Kreditinstitut Ende der 1980er Jahre bankrottging. Slowenien und Kroatien streiten seit Jahren, wer für den Verlust aufkommen muss: Slowenien als Eigentümer der Bank oder die Teilrepubliken einschließlich Kroatiens im Rahmen der Sukzessionsverhandlungen zwischen den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Seitdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Slowenien dazu verurteilt hat, die Spareinlagen bei den Auslandsfilialen der Bank zurückzuerstatten, schwelt der Streit zwischen Kroatien und Slowenien um die Rechtskraft des Urteils. Slowenien drohte, die Ratifikation des Beitrittsvertrages mit Kroatien zu verzögern, sollte sich keine Einigung im Streit um die Ljubljanska Banka abzeichnen. Erst Anfang Februar 2013 fand sich ein Kompromiss.
Ein dritter Streitpunkt erscheint von geringerer politischer Brisanz: der um das Atomkraftwerk Krško, das zu jugoslawischer Zeit gebaut wurde und auf slowenischem Territorium etwa 20 Kilometer von der Grenze zu Kroatien entfernt liegt. Der 1981 in Betrieb genommene Reaktor gehört den beiden Republiken zu gleichen Teilen, aber es kommt immer wieder zu Streit über die Aufteilung der Kosten und über die Nutzung. Anders als im Fall von Grenzen und Spareinlagen hat Slowenien in diesem Fall allerdings nie mit der Blockade des kroatischen EU-Beitritts gedroht.
Serbien
Mit Serbien und den Serben verbindet Kroatien eine ambivalente Beziehung. Sprachlich und kulturell ist man eng miteinander verwandt und hat in vielen Regionen Kroatiens Jahrhunderte lang eng und gut zusammengelebt. Von allen Bevölkerungsgruppen Jugoslawiens haben Kroaten und Serben am häufigsten Ehen miteinander geschlossen.
Das Schicksal der serbischen Minderheit in Kroatien bildet das zentrale Thema in den bilateralen Beziehungen. 1991 waren mehr als 581.000 Einwohner (12 Prozent der Bevölkerung) Kroatiens serbisch. Unmittelbar nachdem Kroatien am 25. Juni 1991 seine Unabhängigkeit erklärt hatte, brachen in der Banija, in Dalmatien und in Slawonien Kämpfe zwischen bewaffneten Serben und kroatischen Sicherheitskräften aus. Die Serben betrachteten die Unabhängigkeit Kroatiens mit Sorge, da sie Verfolgungen wie zu Zeiten des faschistischen Ustascha-Staates in den 1940er Jahren fürchteten. Sie wollten in ihrer Mehrheit lieber mit ihren Landsleuten in einem gemeinsamen Staat bleiben.
Die Jugoslawische Volksarmee unterstützte die serbischen Aufständischen, woraufhin die kroatische Regierung am 14. September 1991 entschied, die Kasernen der Volksarmee anzugreifen. Der jugoslawische Generalstab reagierte mit einer Großoffensive in Ostslawonien. Jugoslawische Truppen und serbische Paramilitärs umzingelten und beschossen die Stadt Vukovar, überfielen Stadt und Umland und vertrieben Tausende aus ihren Häusern. Auch Dubrovnik, die "Perle der Adria", wurde im Oktober 1991 angegriffen. Innerhalb weniger Wochen nahmen die Serben die umkämpften Gebiete unter Kontrolle. Die kroatische Bevölkerung, insgesamt über eine halbe Million Menschen, wurde systematisch vertrieben. Am 19. Dezember 1991 wurde die "Republik Serbische Krajina" mit der Hauptstadt Knin ausgerufen. Die Serben hielten bereits ein Drittel Kroatiens besetzt, als die Vereinten Nationen vorschlugen, eine Blauhelmtruppe in die umkämpften Gebiete zu entsenden. Die Jugoslawische Volksarmee zog sich daraufhin aus Kroatien zurück, Anfang 1992 rückte die UNPROFOR in sogenannte Schutzzonen ein.
Seither bereitete sich die Kroatische Armee auf die Rückeroberung der Krajina vor, immerhin ein Drittel kroatischen Staatsgebiets. Im August 1995 gelang es ihr mit der Operation Oluja (Sturm), die von Serben gehaltenen Gebiete einzunehmen. 150.000 bis 200.000 Menschen wurden dabei systematisch vertrieben, fast 700 umgebracht. Serbisches Eigentum wurde zerstört.
Der "Heimatkrieg" und die Vertreibung der Serben stehen bis heute im Zentrum der kroatisch-serbischen Beziehungen. Die serbische Bevölkerung, die 1991 noch 12 Prozent der Einwohnerschaft Kroatiens ausmachte, ist heute auf 187.000 zusammengeschrumpft. Nach Angaben des UNHCR ist nur der geringere Teil der Vertriebenen, nämlich um die 50.000 Menschen, dauerhaft nach Kroatien zurückgekehrt. Weitere 70.000 kamen lediglich temporär zurück, um Staatsangehörigkeits- und Eigentumsfragen zu klären.
Die Frage, wer für Krieg und Kriegsverbrechen verantwortlich ist, bleibt umstritten. Belgrad räumt Kriegsverbrechen ein, weist jedoch die Alleinschuld am Zerfallskrieg und den Vorwurf der Aggression von sich. Kroatien und Serbien beschuldigen sich gegenseitig und haben jeweils Anklagen auf Genozid beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag erhoben. Vorstöße Belgrads, die Anklagen beidseitig zurückzuziehen, blieben in Zagreb ungehört. Denn in Kroatien ist die Kriegsvergangenheit noch unmittelbar präsent: etwa in den Familien von 12.000 im "Heimatkrieg" Getöteten und 37.000 Verwundeten. Ferner ist das Schicksal von etwa 1.000 kroatischen Vermissten ungeklärt.
Die Kroaten sehen sich mehrheitlich als Opfer serbischer Aggression, gegen die es einen legitimen Verteidigungskrieg zu führen galt. Vor diesem Hintergrund erscheint in der Öffentlichkeit die Frage zweitrangig, ob es dabei auch auf serbischer Seite Opfer gab. Die Anklage des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien gegen den kroatischen General Ante Gotovina und weitere Verantwortliche wegen "ethnischer Säuberungen" in der Krajina empfanden viele als empörend und ungerecht. Nach einer Umfrage der kroatischen Tageszeitung "Jutarnji list" betrachteten 81,4 Prozent der Kroaten Gotovina als Helden, als er 2005 festgenommen wurde.
Im Berufungsverfahren sahen es die Richter dann allerdings nicht mehr als erwiesen an, dass die Armee zivile Ziele mit exzessivem Artilleriebeschuss überzogen hätte. Am 16. November 2012 sprach die Berufungskammer des Haager Gerichtshofs die Angeklagten frei. Während auf Kroatiens Straßen 100.000 Menschen feierten, wurde das Urteil in Belgrad als Schlag ins Gesicht der serbischen Opfer aufgenommen. Tausende Demonstranten zogen protestierend durch die Innenstadt und verbrannten kroatische Fahnen. Man sah sich bestätigt, dass das Den Haager Tribunal ein politisches Instrument zur Abstrafung der Serben sei. In Kroatien wurde das Urteil hingegen als kollektiver Freispruch aufgefasst – als habe es überhaupt keine Verbrechen auf kroatischer Seite gegeben.
In beiden Ländern leistet das Urteil einer Kultur der Leugnung Vorschub und belastet die Beziehungen zwischen den beiden Staaten – auch wenn seit 2003 in Kroatien Prozesse gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher in eigener Jurisdiktion stattfinden. Anfang März 2011 kam es aus Anlass der gerichtlichen Verfolgung von rund 300 kroatischen Veteranen zu tagelangen Demonstrationen und Krawallen – es wurde hier immer wieder auch "Ja zu Kroatien, nein zur EU" skandiert. Kroatiens Premierminister Zoran Milanović beeilte sich daher nach dem Freispruch von Ante Gotovina zu betonen, dass die kroatische Justiz die während des "Heimatkrieges" begangenen Verbrechen noch nicht umfassend aufgearbeitet habe. Weder seien die Schuldigen bestraft noch die Opfer entschädigt.
Trotz der Belastungen aus der Kriegszeit bemühen sich Kroatien und Serbien um eine Normalisierung ihrer Beziehungen. Bereits 1996 haben sich die beiden gegenseitig diplomatisch anerkannt. Ab 2003, während der Regierung von Ivo Sanader in Kroatien und Vojislav Koštunica in Serbien, gab es weitere Fortschritte. Kroatien hob damals die Visumspflicht für Reisende aus Serbien auf. 2010 reiste der kroatische Staatspräsident Ivo Josipović zu einem historischen Besuch nach Belgrad. Mit seinem damaligen Amtskollegen Boris Tadić nahm er Fragen der praktischen Zusammenarbeit in Angriff, behandelte aber auch heikle Tehmen wie Rückkehr von Flüchtlingen, Grenzstreitigkeiten und Minderheitenrechte.
Eine neue Eiszeit schien anzubrechen, als der Kandidat der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) Tomislav Nicolić im Mai 2012 die Präsidentschaftswahlen in Serbien gewann. Zwar vertritt Nicolić eher einen moderat rechten parteipolitischen Kurs. Rhetorisch wird er aber immer wieder ausfällig, schwadroniert vom "Traum von Groß-Serbien" und davon, dass Vukovar immer eine serbische Stadt gewesen sei. Der kroatische Präsident Ivo Josipović blieb – ebenso wie sein bosnischer Kollege – der Amtseinführung Nicolićs fern.
Erst Mitte Januar 2013 trafen die Premierminister Kroatiens und Serbiens wieder in Belgrad zusammen. Beide Staaten sind gleichermaßen daran interessiert, Fortschritte bei der Bewältigung der Kriegsfolgen sowie in Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der europäischen Integration zu erzielen. Wenn Kroatien am 1. Juli 2013 der EU beitritt, wird es aus dem Mitteleuropäischen Freihandelsabkommen (CEFTA) ausscheiden, dem es seit 2002 angehört. Daher liegt es im Interesse beider Staaten, einen neuen rechtlichen Rahmen für ihre Handelsbeziehungen zu spannen.
Anders als auf Regierungsebene ist das Verhältnis zwischen den Bevölkerungen nicht von Pragmatismus bestimmt. Eine neuere empirische Studie aus Serbien zeigt, dass ethnozentrische Geschichtsbilder weit verbreitet sind. Jeder Zweite glaubt, dass die Serben schon immer in Serbien gelebt haben und dass Dubrovnik und Thessaloniki einmal serbische Städte waren. 70 Prozent sind überzeugt, dass die Serben in der Geschichte immer gerechte Kriege geführt haben. Von den Verbrechen der 1990er Jahre will eine große Mehrheit nichts wissen oder gewusst haben.
Bosnien-Herzegowina
Anders als gegenüber Serbien, dem die Kroaten "auf Augenhöhe" begegnen, pflegen sie gegenüber Bosnien-Herzegowina ein eher paternalistisches Verhältnis. Nationalistisch denkende Kroaten betrachten das "alte Herz" Jugoslawiens als ursprünglich kroatisches Land. Tatsächlich ist die Bevölkerung dort gemischt. 1991 lebten dort rund 756.000 Kroaten, etwa 17,3 Prozent der Bevölkerung. Rund 43 Prozent waren Bosniaken, 31 Prozent Serben, der Rest "Jugoslawen" und andere.
Auch die Beziehungen zu Bosnien-Herzegowina werden durch die Nachwirkungen des Zerfallskrieges belastet. Kämpften Muslime und Kroaten in Bosnien-Herzegowina zunächst gemeinsam gegen die Serben, kam es bald zur Auseinandersetzung über den künftigen Staatsaufbau. Der nationalistische Flügel der bosnischen Kroaten drängte auf den Anschluss an Kroatien und rief am 3. Juli 1992 einen separaten Staat "Herzeg Bosna" aus. Kroatische Streitkräfte begannen, Muslime aus den beanspruchten Gebieten zu vertreiben; es kam im Oktober 1992 zum "Zweiten Krieg" zwischen den ehemaligen Verbündeten. Präsident Franjo Tuđman, der mit dem Anschluss Herzegowinas an Kroatien liebäugelte, schickte Truppen, um die bosnischen Kroaten militärisch zu unterstützen.
Heute ist Bosnien-Herzegowina für Kroatien ein wichtiger, aber auch schwieriger Nachbar. Durch den Vertrag von Dayton wurde das Land 1995 mit einer komplizierten Verfassung ausgestattet. Zwei Entitäten mit weitreichenden Befugnissen stehen einer relativ schwachen Zentralregierung gegenüber. Der Staat gilt als hochgradig dysfunktional, da Interessen und Ziele der drei großen Bevölkerungsgruppen, der Bosniaken, Serben und Kroaten, unvereinbar erscheinen. Auf allen Ebenen dominieren partikulare, ethnische Machtinteressen. Sämtliche Versuche der Staatengemeinschaft, die Dayton-Verfassung zu reformieren, scheiterten. Die politische Klasse Sarajevos hat nur wenige Anstrengungen unternommen, die Funktionalität und Effektivität der staatlichen Institutionen zu verbessern. Zwischen 2007 und 2010 konnte die Staatsregierung nur 40 Prozent ihrer angekündigten Vorhaben umsetzen. 2012 wurden nur vier neue Gesetze vom Parlament verabschiedet.
Ursache der Dysfunktionalität ist die Tatsache, dass Bosnien-Herzegowina ethnisch, politisch, institutionell und mental tief gespalten ist. Der Dayton-Vertrag hat zwar den heißen Krieg beendet, aber die tiefer liegenden Konflikte um Identität, Staatsverständnis, Verfassung und Machtaufteilung lediglich eingefroren. Ein gemeinsames Staatsverständnis gibt es nicht. In den vergangenen Jahren hat sich das Klima innerhalb des Staates zusätzlich verschlechtert. Die politische Klasse der bosnischen Serben ist offen vom Gesamtstaat abgerückt, propagiert unverblümt und rhetorisch aggressiv dessen Auflösung.
Zagreb wünscht sich eine Stabilisierung des Nachbarstaats, hat aber auf die inneren Zustände nur geringen Einfluss, und das gilt auch für die kroatischen Landsleute. Die bosnischen Kroaten fühlen sich seit jeher durch den Dayton-Vertrag benachteiligt, der sie in eine ungeliebte Föderation mit den Bosniaken zwang, während die Serben ihre eigene "Serbische Republik" erhielten. Sie fordern daher immer wieder die Schaffung einer dritten, kroatischen Entität. Da dies auf Kosten der Bosniaken geschehen und die wenigen verbliebenen gemischten Regionen auseinanderreißen würde, gibt es für dieses Projekt bislang keinerlei Unterstützung, weder national noch international.
Die meisten bosnischen Kroaten sehen seit den 1990er Jahren ihr Mutterland Kroatien als eigentliche Schutzmacht an. Der Dayton-Vertrag ließ es zu, dass Kroatien und Serbien besondere Beziehungen zu ihren Landsleuten in Bosnien-Herzegowina unterhalten, unabhängig von der Zentralregierung in Sarajevo. Kroatien hat diese systematisch gepflegt und den bosnischen Kroaten beispielsweise die kroatische Staatsbürgerschaft verliehen. Heute besitzen praktisch alle bosnischen Kroaten die doppelte Staatsbürgerschaft. Nach Kroatiens EU-Beitritt werden diese stillschweigend zu EU-Bürgern.
Die bosnischen Kroaten spielen in der Innenpolitik Kroatiens eine gewisse Rolle. Präsident Tuđman stützte seine Macht zu guten Teilen auf die "Herzegowina-Lobby", die stets für eine sichere Mehrheit seiner Partei, die Kroatische Demokratische Union (HDZ), sorgte. Seit 1995 durften Auslandskroaten, die Diaspora, offiziell an den Parlamentswahlen in Kroatien teilnehmen. Für sie waren zwölf Sitze im Parlament reserviert. Nach dem Tod Franjo Tuđmans 1999 und der demokratischen Erneuerung der HDZ ist Kroatien auf größere Distanz zu den Landsleuten gegangen. Zwar ist der Schutz der Auslandskroaten immer noch ein wichtiges Staatsziel. In die inneren Angelegenheiten des Nachbarstaats will man sich aber seither nicht mehr einmischen. Staatspräsident Stjepan Mesić erklärte bereits im Jahr 2000, die Hauptstadt der bosnischen Kroaten sei Sarajevo und nicht Zagreb. Seither folgen alle Präsidenten und Regierungen der Linie, die Souveränität und territoriale Integrität Bosnien-Herzegowinas nicht zu gefährden. Präsident Josipović sprach 2010 zudem eine öffentliche Entschuldigung für die im Namen Kroatiens begangenen Verbrechen aus.
Auch die derzeitige sozialdemokratisch geführte Regierung unter Zoran Milovanović hat Bosnien-Herzegowina als eine ihrer außenpolitischen Prioritäten definiert. Mit Bosnien-Herzegowina verbindet Kroatien eine 1.000 Kilometer lange Staatsgrenze, die nach dem Beitritt zur EU-Außengrenze wird. Bosnien-Herzegowina besitzt einen kurzen Küstenstreifen, der das kroatische Staatsgebiet in Dalmatien durchschneidet. Wer mit dem Auto oder Bus nach Süden fährt, muss bei Neum nach Bosnien-Herzegowina ein- und nach zwölf Kilometern gleich auch wieder ausreisen. Die kroatische Regierung war hierüber so empört, dass sie plante, eine Autobahnbrücke um das bosnische Küstenstück herum durch die Adria zu bauen. Das teure Projekt wird aber wahrscheinlich aus Kostengründen nie verwirklicht werden.
Kroatien ist Bosnien-Herzegowinas wichtigster Wirtschaftspartner. Es bestreitet 15,1 Prozent aller Exporte nach Bosnien-Herzegowina; und 15,9 Prozent aller Importe stammen von dort. Kroatien erwirtschaftet mit dem Nachbarstaat einen Handelsbilanzüberschuss von 506 Millionen Euro. Zwischen 1993 und 2010 hat Kroatien 516,9 Millionen Euro dort direkt investiert, überwiegend im Banken- und Versicherungswesen der Föderation. Es ist der bedeutendste ausländische Investor.
2010 wurde die Zahl der reservierten Parlamentssitze für die Diaspora von zwölf auf drei reduziert. Ebenso wurden Privilegien abgeschafft, wie das Recht auf doppelten Wohnsitz, durch das sich viele bosnische Kroaten Sozialleistungen in zwei Staaten verschafften. Nach wie vor werden die Auslandskroaten von Kroatien finanziell unterstützt. Rund 10 Millionen Euro gibt Zagreb jährlich für seine Landsleute in Bosnien-Herzegowina aus.
Fazit
Kroatien hat sich im vergangenen Jahrzehnt um eine konstruktive Gestaltung des Verhältnisses zu seinen Nachbarn bemüht, von Einmischung in innere Angelegenheiten Abstand genommen und seine Rolle während des Zerfallskrieges kritisch reflektiert. Je sicherer sich die Kroaten sein können, bald zur Europäischen Union zu gehören, desto entspannter gestaltet sich die Politik gegenüber den Nachbarn. Dass es Kroatien nun als erstem Westbalkanland gelingt, als Mitglied in die EU aufgenommen zu werden, erfüllt die Kroaten mit Stolz – und auch die Nachbarn: Der erfolgreiche Annäherungsprozess übt eine wichtige Vorbildfunktion in der Region aus. Weil viele Probleme Kroatiens eng mit der Nachbarschaft verzahnt sind, könnte das Land zum Motor einer aktiven Nachbarschafts- und Versöhnungspolitik werden.