Versetzen Sie sich für einen Moment in die Lage eines Journalisten oder einer Journalistin in einer tagesaktuellen Zeitungsredaktion: Sie bekommen drei Stunden vor Redaktionsschluss die Meldung einer Nachrichtenagentur auf den Tisch, in der über den Verdacht von Plagiaten in der Doktorarbeit des beliebten Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg berichtet wird. Auch die Online-Ausgabe der "Süddeutschen Zeitung" – Ihre Konkurrenz – verbreitet die Nachricht bereits, mit Hinweis auf einen Jura-Professor aus Bremen, der Plagiate entdeckt haben soll. Sie wissen, dass diese Geschichte wichtig werden könnte und suchen im Internet rasch nach weiteren Informationen. Sie finden die Seite des Guttenplag-Wikis,
Können Sie den Angaben auf der Internetseite trauen? Wer steckt dahinter? Ist das eine Kampagne gegen den Verteidigungsminister? Sind die dokumentierten Plagiatsfälle echt? Die Doktorarbeit Guttenbergs und die angegebene Literatur sind in so kurzer Zeit nicht zu beschaffen, der Professor aus Bremen und der Minister sind für Sie gerade nicht zu sprechen. Sie haben Glück und stoßen im Guttenplag-Wiki auf eine Mailadresse. Sie bekommen von einem der Aktiven sogar eine kurze Antwort. Der Absender: PlagDoc – ein Pseudonym. Wer dahinter steckt, solle bitte nicht öffentlich werden. Auch alle anderen Aktiven in diesem Wiki wollen anonym bleiben. Können Sie diesem PlagDoc und seinen Angaben trauen? Müssen Sie ihm Anonymität gewähren? Eine schwierige Situation, denn schließlich kann sich alles zu diesem Zeitpunkt auch als Fake oder gelenkte Attacke gegen Karl-Theodor zu Guttenberg herausstellen.
Kai Gniffke, der Chefredakteur der zentralen Nachrichtenredaktion der ARD (ARD-aktuell), war Mitte Februar 2011 in solch einer Situation: "Mir hat nicht eingeleuchtet, wem diese Anonymität nutzt, und normalerweise ist es mit anonymen Absendern bei uns so, dass die Dinge eher nicht verwendet werden. In dem Fall haben wir es als Recherche-Impuls genommen, haben stichprobenartig Dinge nachgeprüft. Und diese Überprüfung hat ergeben, dass es seriös ist, und dann haben wir auch darauf Bezug genommen."
Beispiel Guttenplag
Anhand der Situation aus dem Jahr 2011 lässt sich gut zeigen, vor welchen Herausforderungen Journalisten im Zeitalter digitaler, vernetzter Öffentlichkeiten stehen: Phänomene wie anonyme Schwärme, "geleakte" Dokumente, die anonym auf Enthüllungsplattformen hochgeladen werden, oder anonyme, digitale Redaktionsmailboxen werden als Informationsquellen immer wichtiger. Ginge es nach Guttenplag-Gründer PlagDoc und "Zeit"-Journalist Martin Kotynek, wäre die anonyme Crowd-Recherche im Netz längst schon als neue Instanz für mehr Transparenz in der Netzöffentlichkeit institutionalisiert.
Anonymität beziehungsweise Pseudonymität wie bei Wiki-Aktivist PlagDoc scheint dabei eine Voraussetzung für die erfolgreiche Arbeit solcher kollaborativen Rechercheplattformen zu sein. Bei der Verwendung eines Pseudonyms wird die wahre Identität zwar verborgen, aber journalistische Beobachter können zumindest die Spuren des Pseudonyms verfolgen und eventuell ein Profil erkennen. Ohne diesen Schutz der Privatheit würden sich wohl nicht viele Nutzer an der Plagiate-Suche und Dokumentation beteiligen. Das Gleiche gilt für das anonyme Hochladen von brisantem Material auf Enthüllungsplattformen wie Wikileaks. Wenn Journalisten diese Anonymität aufheben, indem sie Namen von Wiki-Aktivisten und Informanten recherchieren und nennen, würden sie die Arbeit solcher Plattformen wohl gefährden und das Engagement für viele Aktive unmöglich machen.
Gerade Projekte, bei denen die Akteure aus der Anonymität oder Pseudonymität heraustraten
Journalisten haben in solchen Situationen trotzdem Möglichkeiten, einiges über den anonymen Schwarm in Erfahrung zu bringen: durch den Einsatz sozialwissenschaftlicher Methoden, wie ihn der amerikanische Journalismus-Professor Philip Meyer schon vor über 40 Jahren in seinem Ansatz des "Präzisionsjournalismus" gefordert hat.
Durch diese neuen Akteure im Netz entsteht ein kompliziertes Beziehungsgeflecht von Informationen, Informanten und Journalisten, das Einfluss auf das Vertrauen in den Journalismus und in Institutionen sowie auf die Transparenz hat. In diesem Beziehungsgeflecht nehmen Journalisten eine Schlüsselrolle ein. Ihre ehemalige Sonderstellung als gatekeeper für relevante Informationen ist durch die Entwicklung des Social Web einerseits geschwächt, andererseits werden journalistische Aufgaben wie Erklären, Einordnen und Verifizieren in der digitalen Unübersichtlichkeit immer wichtiger. Im Folgenden soll daher der journalistische Umgang mit Anonymität, Pseudonymität und die Auswirkungen auf Vertrauen und Transparenz genauer besprochen werden.
Anonyme Quellen – für Journalisten nichts Neues
Anonyme Informanten und zugespielte Informationen mit verschleiertem Absender sind für den Journalismus nichts Neues. Der amerikanische Journalismusforscher Matt Carlson weist darauf hin, dass anonyme leaks – die Geschäftsgrundlage der Enthüllungsplattform Wikileaks – in den USA schon seit dem ersten Präsident George Washington bekannt sind. Ab den 1970er Jahren wurde der Umgang mit anonymen Informanten für den investigativen Journalismus immer bedeutender. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung stellte die "Watergate-Affäre" dar, bei der es um das angeordnete Ausspionieren von Mitgliedern der Demokratischen Partei durch Gefolgsleute des republikanischen Präsidenten Richard Nixon ging. Die investigativen Recherchen und Veröffentlichungen der "Washington Post"-Journalisten Carl Bernstein und Bob Woodward, deren Hauptquelle ein anonymer Informant war ("Deep Throat"), trugen wesentlich zum Rücktritt Nixons bei.
Doch diese journalistische Praxis hat auch Schattenseiten. Der Journalist läuft Gefahr, sich in seiner Arbeit mehr an seinen Informanten auszurichten als an den Lesern oder Zuschauern seiner Beiträge. Der amerikanische Professor für Broadcast Journalism, Mark Feldstein, spricht von einem "faustischen Pakt", den Journalisten mit ihren ungenannten Quellen eingingen.
Das Hauptproblem aus Sicht der Leser und Zuschauer ist, dass sie bei dieser Praxis nicht einschätzen können, ob der Gebrauch der Anonymität gerechtfertigt ist. Auch dass Quellen teilweise auf Anonymität bestehen, die mit öffentlichen Geldern bezahlt werden, ist problematisch, denn sie sind der Öffentlichkeit ja eigentlich Rechenschaft schuldig. Journalismusforscher sehen es außerdem kritisch, wenn anonyme Quellen mit Meinungen zitiert werden. Dann wird der Journalist leicht zum Handlanger, der es jemandem erlaubt, im Schutze der Anonymität einen anderen öffentlich zu attackieren.
Vertrauensfragen
Das Zurückhalten der Quellenidentität im Journalismus berührt immer Fragen des Vertrauens und der Glaubwürdigkeit, weil dadurch ein Teil der journalistischen Arbeit für die Öffentlichkeit unsichtbar wird. Journalisten bauen sozusagen eine black box um ihre Konstruktion von Wirklichkeit.
Gleichsam berührt die Praxis der Anonymität das Vertrauensverhältnis in zwei Richtungen. Zum einen ist das Vertrauen zwischen Quelle und Journalist betroffen, zum anderen zwischen Journalist und Leser beziehungsweise Zuschauer. Wenn Journalisten die Identität einer Quelle verheimlichen, ist das einzige, was ihnen bleibt, den Leser um Vertrauen zu bitten: Vertrauen, dass die Quelle existiert, dass sie glaubwürdig ist und die Wahrheit sagt. Außerdem müssen die Journalisten der anonymen Quelle vertrauen. David Boeyink, emeritierter Professor für journalistische Ethik an der Indiana University, sieht in der Abhängigkeit des Journalismus vom Vertrauen deshalb eine verwundbare Stelle. Er nennt sie die "Halsschlagader des Journalismus".
Transparenzprobleme aus Sicht der Nutzer
Die Vertrauensverhältnisse zwischen Rezipienten und Journalisten sowie zwischen Journalisten und ihren Informanten sind wiederum an Transparenz gekoppelt. Transparenz reduziert Unsicherheit, vor allem durch nachvollziehbare Informationen mit Quellenangaben und nachvollziehbares Wissen.
Auch Vertrauen reduziert Unsicherheit und ist dabei sogar effizienter, weil Vertrauen die Such-, Dokumentations- und Informationskosten senkt.
Trotzdem steigt die gesellschaftliche Transparenz durch Internetplattformen wie Guttenplag erheblich. Matt Carlson sieht durch die gesteigerte Transparenz im Netz die alte, eingespielte Praxis des Umgangs mit anonymen Quellen im Stile von "Deep Throat" unter erheblichem Veränderungsdruck. Die journalistische Praxis der ungenannten Quelle wird im freien Netz durch die Nutzer immer weniger akzeptiert. Auch Journalisten-Legende Woodward gerät heute zunehmend in die Kritik, weil immer mehr Details ans Licht kommen, die zeigen, dass er die black box wohl auch dazu verwendete, um Details wegzulassen oder Situationen zu sehr auszuschmücken.
Ein wichtiger Punkt in Bezug auf Quellen ist die Motivation, die sie zu bestimmten Äußerungen bringt und zu Informationslecks führt. Oft sind es offizielle Funktionäre, die selbstbewusst Anonymität von Journalisten fordern, um Informationen aus dem inner circle öffentlich zu machen und dabei ein persönliches Ziel verfolgen. Dies birgt das Risiko einer Elite-Elite-Kommunikation über mediale Kanäle, verbunden mit Unfairness gegenüber "niederen" oder "normalen" Quellen, welche die Möglichkeit der Anonymität vielleicht nicht eingeräumt bekommen oder gar nicht danach fragen.
Doch wie lässt sich die Motivation eines Schwarmes fassen? Hier hilft nur intensives Recherchieren auf der Plattform selbst, in Foren, Chats, oder – bei größeren Schwärmen – die sozialwissenschaftliche Methode der Umfrage. Im Fall des Guttenplag-Wikis konnten wir die Motivationen der Aktiven durch unsere Online-Befragung teilweise aufklären. Die Analyse des aktiven Kerns der Aktiven ergab (n = 129), dass 64 Prozent von ihnen vor allem von der Sorge um den Ruf der Wissenschaft und den Wert eines Doktortitels getrieben und etwas über die Hälfte durch eine Abneigung gegen zu Guttenberg und seine Reaktionen auf die Plagiatsvorwürfe motiviert waren. 20 Prozent gaben an, von der Technologie des Wikis und des Crowdsourcings begeistert zu sein. Mehrfachnennungen waren hier möglich, da Motivationslagen sich überschneiden. Bei aller Vorsicht, die bei Online-Erhebungen angebracht ist, gewähren die Daten einen ersten Einblick in die Psychologie dieses Schwarms.
Folgerungen für Journalisten
Wenn der Quellencheck im Zeitalter neuer digitaler Informationsströme schwieriger und komplizierter für Journalisten wird – wie kann eine Lösung aussehen, die das Vertrauen in den Journalismus aufrechterhält, vielleicht sogar verstärkt und trotzdem zu mehr gesellschaftlicher Transparenz führt? Wie viel Vertrauen setzen Journalisten durch eine intransparente Nutzung von Quellen aufs Spiel für welchen gesellschaftlichen Transparenzgewinn? Zusätzlich zu den bereits erwähnten Methoden des "Präzisionsjournalismus" und angelehnt an Ideen der US-Journalismusforscher Bill Kovach und Tom Rosenstiel sowie an prinzipielle Überlegungen von Matt Carlson sollen die folgenden fünf Punkte in knapper Form mögliche Ansätze für einen Umgang des Journalismus mit Informanten und Informationen im digitalen Zeitalter zeigen:
Transparenter Gebrauch von anonymen Quellen:
Es sollte ein Grund für die Nichtnennung der Quelle publiziert werden. Dies ist auch eine Form von Transparenz im Publikationsprozess, die sich gut mit der Einrichtung von Redaktionsblogs verbinden lässt.
Möglichkeit der Offenlegung der Quelle:
Anonymität sollte an bestimmte Bedingungen geknüpft werden, zum Beispiel daran, dass sie auch widerrufen (also die Quelle genannt) werden kann, falls es erforderlich ist.
Rollenbewusstsein:
Journalisten sollten sich auf ihre Rolle als watchdogs besinnen, die ein wichtiges Rad im Getriebe der Demokratie sind. Öffentliche Transparenz sollte aggressiver eingefordert werden, anstatt Aussagen von Funktionsträgern passiv zu akzeptieren.
Mehr Teamwork:
Bei komplexen Problemen, wie sie beim Eintauchen in eine Schwarmdynamik entstehen, werden verschiedene Kenntnisse und Fähigkeiten gebraucht. Derjenige, der die Geschichte am Ende gut schreibt, muss nicht derjenige sein, der im Schwarm "mitschwimmt" und recherchiert. Dies sollte sich auch in Redaktionsstrukturen stärker widerspiegeln: Flexible Teams aus Programmierern, Datenbankmanagern, Rechercheuren sollten mit den Schreibern zusammenarbeiten und die Geschichten gemeinsam veröffentlichen.
Einmischen:
Journalisten sollten viel mehr als bisher die öffentliche Debatte führen, anstatt die Diskussionen nur abzubilden.
Diese Prinzipien und Fähigkeiten bezeichnen Kovach und Rosenstiel als "Handwerk der aktiven Skepsis", das dann zum "Next Journalism" führe.