Warum sind wir bereit, unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern das Wahlrecht zuzubilligen, während Ausländer hiervon ausgeschlossen sind? Warum sind viele bereit, anderen Menschen unserer Nation im Katastrophenfall mit Steuergeldern und Privatspenden aus der Not zu helfen, während sie zögern, dies auch Menschen im entfernten Ausland anzubieten? Warum vertrauen wir unseren Nachbarn und misstrauen wir Fremden? Die Antwort auf diese Fragen ergibt sich nicht aus der Hoffnung auf Gegenleistungen, welche die Begünstigten erbringen würden, wenn wir selbst einmal in Not geraten sollten. Sie ergibt sich auch nicht aus dem Hinweis auf Zwang und die Erwartung von Bestrafungen, wenn wir keine Hilfe gewähren würden. Es geht hier nicht um Versicherungszusammenhänge oder um Sanktionssysteme. Auch der Verweis auf einen Konsens über gemeinsame Werte führt hier nicht weiter. Jeder Versuch konkrete Werte- und Normenkonsense auszuformulieren, führt unweigerlich zu Streit – und offenbart gerade den vagen und prekären Charakter kollektiver Identitäten. Das haben die Diskussionen um die Ausformulierung einer deutschen Leitkultur genauso gezeigt wie die Versuche, eine europäische Verfassung zu formulieren.
Eine überzeugendere Antwort verweist hingegen auf soziale Grenzen zwischen dem Innen und Außen einer Gemeinschaft, auf Zugehörigkeit, Gemeinschaftlichkeit und kollektive Identität. Wenn wir von kollektiver Identität sprechen, so behaupten wir eine gewisse Ähnlichkeit der Angehörigen einer Gemeinschaft im Unterschied zu den Außenstehenden. Die Rede von kollektiver Identität ist allerdings umstritten.
Beide – die individuelle Identität einer Person und die kollektive Identität einer Gemeinschaft – weisen allerdings eine ähnliche Struktur auf: Sie verbinden die äußerste Selbstsicherheit mit weitgehender Intransparenz. Das heißt: Wir sind absolut sicher, dass wir existieren, aber wir sind unfähig, eine erschöpfende Beschreibung unserer eigenen Identität als Person oder etwa unserer Identität als Nation, Familie oder ethnischer Gruppe zu geben. Jeder Versuch zu einer solchen Beschreibung kann als unvollständig und verzerrt zurückgewiesen werden.
Insofern gehen wir davon aus, dass kollektive Identität eine unaufhebbar uneindeutige und vage Angelegenheit ist. Damit meinen wir nicht nur, dass immer unklar ist, was unter der Identität der jeweiligen Gemeinschaft genau zu verstehen ist. Wir meinen damit vielmehr, dass sich Kulturen selbst opak sind,
Undarstellbares darstellen
Aber trotz oder gerade wegen dieser Intransparenz muss kollektive Identität repräsentiert, imaginiert und erzählt werden: Ursprungsmythen und rituelles Gedenken, Ikonen und Lieder, Märsche und Denkmalsbesuche stellen das an sich Undarstellbare dar.
Die signifikante Leere verhindert die kollektive Identität also gerade nicht – so als ob es sich hier einfach um den Irrglauben beziehungsweise das Opium des Volkes handeln würde. Kulturelle Mythen sind nicht nur Hirngespinste, denen man die Dinge entgegenhalten könnte, so wie sie "wirklich" sind. Alle sozialen Beschreibungen beruhen auf imaginären Erfindungen, was jedoch nicht heißt, dass sie nur Einbildungen und damit nicht real wären. Gerade weil uns die kollektive Identität grundsätzlich verschlossen ist, ist sie uns permanent zur Aufgabe gemacht. Die Leere erzwingt beständiges Wiedererzählen, und die individuelle Auslegung der kulturellen Mythen macht uns alle zu fabulierenden Wesen.
So beruhen die Mythen, die der kollektiven Identität zugrunde liegen, nicht allein auf den Geschichten lebender Personen, sondern sie werden auch in fiktiven Figuren verdichtet und repräsentiert. Hervorzuheben ist hier insbesondere der Held, der ins Unbekannte aufbricht, dort Abenteuer bestehen und Versuchungen standhalten muss und schließlich triumphierend heimkehrt.
Sowohl die Geschichten des Helden wie auch die der Opfer finden sich im Kern ethnischer oder nationaler Mythen. Für die einen stehen Sklaverei und Kolonialismus, Vertreibung und Genozide wie der armenische Völkermord, für die anderen die verschiedenen Mythen der Gründung und der Eroberung, aber auch der Revolution und des Aufstands, in denen ein Volk die Ketten der Unterdrücker zerbricht, in einen Naturzustand zurückkehrt und gewaltsam die Macht ergreift.
In den vergangenen Jahrzehnten taucht in westlichen Konstruktionen von Identität eine neue mythische Figur auf: der Täter. Im Unterschied zum triumphierenden Helden, dessen Gewalttat die Bewunderung der Gemeinschaft auf sich zieht, bleibt der Täter ohne diese Bewunderung; seine Gewalttat ruft Verachtung und Hass hervor. Stellvertretende Schuldbekenntnisse für die Gemeinschaft der Täter werden zu zentralen Ritualen der postmodernen Politik. Modell hierfür ist der berühmte Kniefall des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt am Denkmal des Warschauer Gettoaufstandes 1970. In dieser berühmten Geste treten individuelle und kollektive Identität auseinander: Brandt handelte stellvertretend für die deutsche Nation, obwohl er selbst ein Verfolgter der Nazideutschen war. Er vollzog dabei eine christliche Geste, obwohl er selbst keinerlei christliche Erziehung durchlaufen hatte.
Da die kollektive wie die eigene Identität sich stetig im Wandel befinden, müssen die Mythen ständig neu erfunden werden: Die Arbeit an der gemeinsamen Identität ist immer auch Arbeit am Mythos.
Der Inhalt des Mythos, auf dem eine kollektive Identität beruht, befindet sich in einer Zwischenlage: Er ist allgemein genug formuliert, um allen als gemeinsame Bezugsbasis dienen zu können. Gleichzeitig ist er aber so vage, dass er einen Konsens über konkrete Aussagen nicht zulässt und zu ständigen Missverständnissen und Debatten führt. Im Gegensatz zur Vermutung, dass jede Gesellschaft auf einem Minimum an geteilten Werten und Normen beruht, steht im "Zentrum" jeder Kultur das Uneindeutige – die Zwischenlage
Jedoch führen diese Versuche zu endlosen Auseinandersetzungen, die an den Erzählungen zweifeln und damit den Signifikanten einer Kultur beständig wieder leeren. Die Versuche zur Bestimmung kollektiver Identität, der Streit um deren Definitionsmacht sowie die allseitige Kritik bilden gerade das Zentrum dessen, was eine kollektive Identität ausmacht. Dabei untergraben diese öffentlichen Debatten nicht die Erzählungen der kollektiven Identität. Vielmehr verstärken sie den Eindruck, dass es tatsächlich möglich sei, sie eines Tages abschließend zu erzählen. Das macht es tendenziell für alle anderen unmöglich, keine Meinung zu haben. Wir finden uns in der paradoxen Situation, weder Identität abschließend bestimmen zu können, noch die Frage nach ihr für belanglos zu halten.
Leerer, geheimnisvoller Signifikant
Wir wissen zwar, dass Identität immer auch in Anführungszeichen zu setzen und genau genommen ein leerer Signifikant ist, wir wissen, dass sowohl unsere eigene Identität als auch die unserer Kultur weitestgehend eine Angelegenheit der Imagination ist – aber das befreit uns keineswegs davon, diese Leere immer wieder neu mit Mythen und Fabeln füllen zu müssen und zu wollen. Gerade die Intransparenz der Identität – der individuellen wie der kollektiven – zwingt uns dazu, sie permanent neu zu erfinden. So wie die Magie beständig neue Götter, Geister und unpersönliche Kräfte erfindet, denen sie Handlungsmacht und Verantwortung zuweist, schaffen wir die Vorstellung einer kollektiven Identität und repräsentieren diese durch Bilder und Embleme (Flagge, Wappen), Rituale und Denkmäler, mythische Erzählungen und Lieder.
Es heißt, dass in Demokratien alle Gewalt vom Volk ausgeht, aber genaugenommen ist das Volk ein leerer Signifikant und weitestgehend imaginärer Natur: Niemand hat es je gesehen, und es lässt sich nicht genau identifizieren. Der Politische Theoretiker Claude Lefort behauptet, dass sich Demokratien gerade dadurch definieren, dass sie die letztlichen Machtträger nicht benennen.
Was in dieser aufklärerischen Theorie jedoch übersehen wird, ist die Tatsache, dass die Leere der Macht im öffentlichen Bewusstsein auf ganz spezifische Weise thematisiert wird. Der leere Ort der Macht und die nur kommissarische Übernahme der Macht "im Namen" des Volkes führt gerade nicht zu der Vorstellung, dass niemand die Macht innehat. Im Gegenteil: Sie macht den Ort der Macht in einem viel größeren Maße erreichbar und damit zu einem geheimnisvollen Ort der Faszination und Attraktion. Wenn in monarchischen Gesellschaften der König eine jenseitige Figur ist, die beispielsweise durch Abstammungslinien und Gottesgnadentum vom Volk getrennt werden muss, dann ist der Ort der Macht dort zwar auch geheimnisvoll, aber eben körperlich außer Reichweite. Die demokratische Entleerung dieses Ortes und die Ersetzung des Königs durch Jedermann ("das Volk") gibt dem leeren Signifikanten eine viel dramatischere Wendung, weil nun zwar alle prinzipiell Zugang haben, aber niemand genau weiß, wo die Macht ist, wer sie gerade hat und wie sie zu erlangen ist.
Die mythischen und konkurrierenden Erzählungen, die den leeren Signifikant im Zentrum einer kollektiven Identität zu füllen beanspruchen, verleihen ihm zugleich die Aura des Geheimnisvollen. Dabei unterscheiden wir das Geheimnis jedoch nicht primär vom Be- und Gekannten,
Das ist zugleich der Grund, warum der Ort der Macht auch ein Ort der Erzählungen und Imaginationen ist. Er ist die vermeintliche Hinterbühne der Gesellschaft, von der aus die unsichtbaren Hände die Gesellschaft organisieren. Die Vermutung, dass es möglich ist, dorthin zu gelangen, die Hintermänner zu benennen und herauszufinden, wie Macht funktioniert, verleiht der Politik den Charakter des Geheimnishaften und Skandalösen. Demokratische Politik gerät dann nicht selten zu dem fortgesetzten Bemühen, Skandale aufzudecken und private Interessen hinter der öffentlichen Fassade zu vermuten. Dabei spielen nicht nur die Imaginationen der Zuschauer eine wichtige Rolle, sondern auch die Experten, die vermeintlich wissen, was und wie dort gespielt wird und damit die Überzeugung aufrechterhalten, dass es nicht nur mysteriös zugeht, sondern dass man den Inhalt des Geheimnisses der Macht wissen kann. Und dann sind es nicht zuletzt die auf der Hinterbühne aktiv Beteiligten (die Macht- und Entscheidungsträger), die den Mythos von den fabelhaften Spielen der Macht weitererzählen, obwohl sie weitestgehend in nicht enden wollenden Verfahren zur unpersönlichen Legitimation der Macht verstrickt sind.
Bei dem Geheimnis, das im Zentrum der kulturellen Identität steht, handelt es sich um eine Form des Nichtwissens. Beispiele gesellschaftlicher Geheimnisse sind die bereits erwähnten Fragen politischer Macht, aber auch die des ökonomischen Reichtums und des persönlichen Glücks – alles hochkontingente Zustände, die der individuellen Planung weitestgehend entzogen sind. Jedoch ist man immer in der Lage, konkrete Einzelpersonen zu identifizieren, die des Rätsels Lösung vermeintlich gefunden haben und den Weg zur Macht, zu Reichtum und zum Glück kennen – Angela Merkel, Warren Buffett, der Dalai Lama.
Dies erklärt zugleich den geheimnisvollen Charakter dieser Themen: Gäbe es keine exemplarischen Wissensträger, die den Weg weisen könnten, dann gäbe es keine Geheimnisse. Dabei muss sowohl das Geheimnis als auch die Geheimnisträgerschaft inszeniert werden.
Um etwa ehemalige Spitzensportler (wie Oliver Kahn oder Günter Netzer) als Experten und Wissensträger für Erfolg auch im außersportlichen Bereich plausibel erscheinen zu lassen, müssen sie für Managerseminare und Vorträge nicht nur einen glaubwürdigen "Kleiderwechsel" vornehmen, sondern sie müssen vor allem zeigen, was sportliche Leistungen mit Erfolg in der Wirtschaft und der Macht in der Politik verbindet ("Erfolg beginnt im Kopf"). Und wenn die mathematischen Modelle von Finanzmarktinvestoren nicht profitabler sind als die Amateurentscheidungen von Affen,
Dieses Problem beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Wege zur Macht, sondern betrifft auch andere Teilbereiche der Gesellschaft. Indem bestimmte Themen jedem prinzipiell offenstehen, werden sie zugleich immer stärker Gegenstand der kulturellen Identität.
Kollektive Identität: Arbeit am Geheimnis
Im Zentrum der Gesellschaft und im Zentrum der kollektiven Identität steht die Arbeit am Geheimnis. Wie wir gezeigt haben, taucht ein solches Geheimnis in verschiedenster Form auf, etwa als die Frage nach persönlichem Glück und individuellem Reichtum. Ein Geheimnis setzt die Vorstellung einer prinzipiellen Aufklärbarkeit voraus, es beruht auf der grundlegenden Unterscheidung in diejenigen, die wissen, und diejenigen, die nicht wissen.
Diejenigen, die wissen, sind die Figuren auf der Hinterbühne und in den Hinterzimmern der Macht, die Experten einer umfangreichen Ratgeberliteratur zum glücklichen Leben und die Börsengurus mit ihren Empfehlungen für die Finanzmarktinvestitionen. So besteht die Funktion der Experten und Intellektuellen gerade auch darin, das Geheimnis auszulegen, und das gilt im Besonderen für die Fragen der Kultur.
Für die Beratenen, die Schüler und Konsumenten spielt die tatsächliche Erreichbarkeit nicht die entscheidende Rolle, denn selbst an der Peripherie dreht sich alles um das mystische Zentrum: entweder durch das Anschmiegen und Umschleichen derjenigen, die Wege zur Macht, zu Wohlstand und Glück vermeintlich kennen, durch das freischwebende Entlarven und Aufklären der Macht in der Wissenschaft, durch politischen Aktionismus oder in Ratgeberliteratur. Darüber hinaus bleiben noch Gespräche am Küchentisch, Stammtisch oder die Kompensation der Exklusionserfahrungen in Verschwörungstheorien.
Immer jedoch konstruiert gerade der entlarvende, aufklärerische beziehungsweise verschwörungstheoretische Blick das Zentrum des Geheimnisses als solches und hält es latent: So werden immer nur die konkreten Interpretationen kultureller Identität kritisiert, nicht aber die Vorstellung, dass so etwas wie kollektive Identität überhaupt möglich sein soll.