Der Kulturwissenschaftler Claus Leggewie stellt mit Blick auf eine seiner Ansicht nach unzureichende europäische Identität ernüchternd fest, dass die Europäische Union "vergessen (habe), ihren Bürgern eine funktionierende Geschichte zu erzählen". Dieses Zitat verweist darauf, dass politisch verfasste Gemeinschaften ein einigendes Band vor allem durch kollektive Identität bedürfen. Ein solches "Wir-" und Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht nicht zwangsläufig, sondern erst nachdem ein Bedürfnis hierzu durch eine "funktionierende Geschichte" – die erklärt, warum man sich als Gemeinschaft empfinden soll – entwickelt wird. Hier kommt der Erinnerungskultur eine bedeutende Rolle zu, denn solche "funktionierenden Geschichten" werden durch ihre jeweiligen Elemente vermittelt. Als letztere werden vielfältige, zugleich aber auch historisch-kulturell variable Konzepte und Praktiken verstanden, die zu den grundlegenden Formen menschlicher Vergesellschaftung gehören, weil sie diese integrieren, Kohärenz und Legitimation schaffen. Daher sind insbesondere für moderne, weder religiös noch ständisch legitimierte Gesellschaften Erinnerungskulturen von immenser Bedeutung, weil sich durch sie eine als Schicksalsgemeinschaft empfundene soziale Großgruppe selbst darstellen und erklären kann.
Ein wichtiges Element von Erinnerungskulturen sind politische Mythen, weil sie als Sinngeneratoren für eine politisch verfasste Gemeinschaft wirken. Jede soziale Großgruppe besitzt daher ein gewisses Repertoire an politischen Mythen, das im Laufe der gesellschaftlich-politischen Veränderungen den jeweiligen Gegebenheiten entsprechend angepasst wird und je nach gesellschaftlicher Situation besonders aktiviert werden kann. Dieses gilt auch für demokratisch verfasste Gesellschaften, sodass die häufig geäußerte Vorstellung, dass politische Mythen ein Charakteristikum lediglich nicht-demokratisch verfasster Gesellschaften seien, ein Irrtum ist. Wie im Folgenden gezeigt wird, sind "deutsche Mythen" konstitutiv für den "gesellschaftlichen Zusammenhalt" in Deutschland.
Vorweg bleibt anzumerken, dass die Analyse politischer Mythen nicht die einzelnen Ereignisse oder Personen infrage stellt, sondern den narrativen Umgang mit dem behandelten Ereignis oder der verklärten Person und dessen Entwicklung in historischer Perspektive analysiert. Sie hinterfragt diese mythisch interpretierte Narration mit Blick auf die Funktionen für eine Gesellschaft; sie will aber nicht persönliche Schicksale und Gefühle infrage stellen oder gar anprangern. Unter dieser Prämisse folgen nach einer knappen theoretischen Grundlegung Überlegungen zur Entwicklung und dem Wandel "deutscher Mythen". Hierbei wird bewusst auf eine umfangreiche Aufzählung und Darstellung verzichtet. Vielmehr wird anhand jeweils exemplarisch verstandener "deutscher Mythen" versucht, zum Verständnis "deutscher Identität" beizutragen.
Wenn auch im heutigen Sprachgebrauch "Mythos" zahlreich und wenig reflektiert genutzt wird, so ist ein politischer Mythos klar zu definieren. In Abgrenzung zum religiösen, der eine transzendentale Komponente hat, lässt sich "politischer Mythos" als stereotypisiertes, verfestigtes Geschichtsbild und zugleich als emotional konnotierte Narration zur Erklärung der Ursprünge und Gründung einer sozialen Großgruppe definieren. Ein Mythos ist also immer dann ein politischer, wenn er sich auf eine wie auch immer verfasste politische Gemeinschaft bezieht und ihre Entwicklung und ihr Wesen definiert: "Vor der Folie vergangener Erfahrungen erklären politische Mythen damit gegenwärtige und gesellschaftliche Probleme und leiten daraus verbindliche Aussagen und Ziele für die Gemeinschaft ab und (stellen) die ältere und/oder jüngere Vergangenheit selektiv (…) und idealisierend" dar. Da die Vergangenheit somit "mythisch gelesen" wird, beruhen politische Mythen auf einem historischen Kern, verklären aber Ereignisse und Entwicklungen im Sinne der intendierten kommunikativen Ziele.
Hierbei rekurrieren sie auf den "ewigen Kampf zwischen Guten und Bösen", wodurch es zu einer Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden kommt. Die erinnerten Ereignisse werden stark vereinfacht, auf die jeweilige Botschaft hin zugespitzt und idealisiert, indem sie nicht passende Aspekte ausblenden. Schwer Erklärbares kann so für jeden Angehörigen einer Gemeinschaft klar nachvollziehbar werden – nur so kann die mythische Narration Sinn stiften und Orientierung geben.
Während Erinnerungsorte (lieux de mémoire) vor allem Assoziationen hervorrufen und eine Sammlung durchaus unterschiedlicher nicht zielgerichteter Narrative darstellen, sind politische Mythen "auf das politisch-soziale Geschehen (gemünzt) und (verleihen) diesem Geschehen eine spezifische Bedeutung", woraus sich im Wesentlichen legitimierende, integrierende und Kohärenz vermittelnde Funktionen einerseits, andererseits aber kommunikative und mobilisierende Funktionen ableiten lassen, die im Einzelnen zu kontextualisieren und zu differenzieren sind. Durch die Sinngebungs- und Orientierungsfunktion erleben politische Mythen daher gerade in Phasen gesellschaftlicher Unsicherheit, in Umbruchs- und Krisenphasen, die von gesellschaftlichen Integrations-, Identitäts- und Legitimationsdefiziten begleitet werden, Konjunkturen. Hierbei lässt sich das Mythenrepertoire als gesellschaftliche "Leistungsschau" beschreiben. Dadurch weisen die Botschaften politischer Mythen auf die Befindlichkeiten der in der Gesellschaft regierenden Kräfte hin, denn sie vermitteln nicht nur ein Geschichtsbild, sondern auch Werte und Anschauungen.
Politische Mythen sind wegen ihrer semantischen Struktur wandelbar, sodass ihre Narration an die jeweiligen Verhältnisse angepasst werden kann. Sie bauen auf analogen Grundmustern auf, wobei die genaue inhaltliche Ausgestaltung vom jeweiligen Kontext abhängig ist, um verstanden werden zu können. Denn wenn die Zielgruppe, also die Angehörigen der jeweiligen Gesellschaft, mit dem narrativen Kern nicht vertraut ist, kann der Mythos seine kommunikative und mobilisierende Kraft nicht entfalten. Sie müssen daher fest im kollektiven Gedächtnis verankert werden, indem beispielsweise Denkmäler, politische Symbole (etwa Briefmarken) und Gemälde sie visualisieren, politische Feiern sie ritualisiert umschreiben und sie auf verschiedene Weise und unterschiedlichem intellektuellen Niveau beispielsweise durch Straßennamen, Literatur, Schul- und Geschichtsbücher, aber auch durch Filme narrativ paraphrasiert werden. Sie können ihre Wirkung nur entfalten, wenn sie innerhalb der sozialen Großgruppe unumstritten sind. Hierfür ist es von Bedeutung, dass die Mythenmacher und -förderer die Deutungsmacht innehaben, die wiederum nur von denen ausgeübt werden kann, die politische Führung innehaben. Gegennarrative zur "offiziellen" Narration konnten sich zwar jeweils in der eigenen Gruppe (etwa in der Arbeiterbewegung) etablieren, eine Verankerung im gesamtgesellschaftlichen Mythenrepertoire haben sie jedoch nicht gefunden – sie zeigen aber deutlich, wie kohärent oder gespalten eine Gesellschaft ist.
Entwicklung und Wandel "deutscher Mythen"
"Deutsche Mythen" sind diejenigen, die als sinnstiftende und Orientierung gebende Narration das kollektive Bewusstsein der deutschen Gesellschaft, wie auch immer sie aufgefasst wurde und wird, beeinflussen wollen. Wie in anderen Großgruppen auch, bildet dieses sich ergänzende, teilweise voneinander abhängende narrative Repertoire ein Mosaik, das aufeinander aufbaut. An den unten ausgewählten Beispielen lassen sich wesentliche Sujets, Erzählmuster und Botschaften, aber auch Konjunkturen und Kontinuitäten deutscher Mythen feststellen, welche die "deutsche Identität" beeinflusst haben.
Im Zuge des Entstehens der modernen Nationsgesellschaften erlebten politische Mythen in ganz Europa eine Konjunktur. Sie halfen, den Zusammenbruch des Ancien Régime zu verarbeiten, aber auch die Ablösung der alten Eliten durch neue gesellschaftliche Gruppen und somit die jeweilige Nation zu begründen. Ereignismythen wurden dabei als besondere Leistungen der jeweiligen Gesellschaft verstanden, während der Rückgriff auf Helden die Entwicklung personalisierte.
Aufgrund der Bedeutung der Befreiungskriege waren Mythen über die Antike als Verteidigungsmythen ein wichtiger Topos im 19. Jahrhundert. So bot sich der Rückgriff auf den Cheruskerfürsten Arminius (Hermann) geradezu an: Als Sieger der Varusschlacht gegen die Römer habe er die vaterländische Freiheit verteidigt. Dieses Motiv findet sich etwa bei den ersten Planungen des Detmolder Hermann-Denkmals 1819 wieder. Der Arminius-Mythos wandelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts und verweist so auf die Entwicklung der zugrunde liegenden Nationsidee: Während der rund 60-jährigen Errichtungsphase verschwanden ursprünglich großdeutsche Intentionen zugunsten der ideellen Begründung der Reichsgründung durch Preußen und dessen Führungsrolle im Reich; die Idee einer Verbrüderung der freien Nationen wurde durch ein starkes antifranzösisches Moment ersetzt, das letztlich auch die Vorstellung von der "Erbfeindschaft" zu Frankreich beeinflusste. Bis in die Zeitgeschichte wirkte der Arminius-Mythos: So wurde das Hermann-Denkmal zum "Symbol deutscher Einheit" und Freiheit und visualisierte "Abgrenzung zu äußeren und inneren Feinden".
Eine zentrale Rolle für die Nationswerdung kommt dem Germanen-Mythos im 19. Jahrhundert zu. Er basiert auf einem konstruierten Gegensatz zu Rom, der zu einer Abgrenzung gegenüber Frankreich genutzt wurde – ein Motiv, dessen Entwicklung sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt und das die Ursprünge der "deutschen Nation" erläutert. Dieses Narrativ formulierte 1807/1808 Johann Gottlieb Fichte in seinen "Reden an die deutsche Nation" prägnant und legte die Grundlagen für dessen Weiterentwicklung: Die deutsche Nation habe sich die Ursprünglichkeit der Germanen ("Urvolk") bewahrt, wodurch sie eine besondere Mission erhielten. Der Germanen-Mythos, etwa durch Denkmäler (wie das Niederwalddenkmal der "Germania"), Festumzüge, Literatur und Museen kommuniziert, definierte somit nicht nur das Verständnis von "deutsch", sondern entwickelte sich auch zu der zentralen narrativen Grundlage der völkischen Rasseideologie.
Jedoch bietet sich der Rückgriff auf die nähere Vergangenheit in noch größerem Maße für Gründungserzählungen an. So wurde die Reichsgründung durch die mythische Verklärung des Kriegs von 1870/1871, der letztlich die Befreiungskriege vollendet habe, legitimiert. Daher wurde der Krieg zum "Schauplatz des nationalen Gemeinschaftswerks", wodurch die vorherigen politischen Debatten um eine groß- oder kleindeutsche Staatsbildung ausgeblendet wurden. Dieses Motiv wurde in der Erinnerungskultur verankert, beispielsweise waren die Feiern zum Sedan-Tag ein wichtiges Ritual mit letztlich akklamativem Charakter.
Eng mit diesem Gründungsmythos ist der Mythos von Bismarck als Reichsgründer und "Eiserner Kanzler" verbunden, der sich nach dessen Entlassung 1890 und insbesondere nach dessen Tod zu einem politischen Kult (verstanden als soziale Praxis politischer Mythen) entwickelte. Das Narrativ vom "Erlöser territorialer Zerrissenheit" zeigt einerseits, wie politische Mythen das jeweilige Narrativ abhängig vom Kontext nuanciert darstellen, andererseits, dass der Kampf um die Deutung eines politischen Mythos eben auch ein politischer Kampf um Macht ist: Beim Übergang zur Weimarer Republik wurde der Bismarck-Mythos zu einer "Chiffre für das, was das Deutsche Reich durch einen von ‚inneren Reichsfeinden‘ begangenen ‚Verrat‘ verloren" habe, die sich mit der Vorstellung paarte, dass die einstige Größe Deutschlands nicht dem Parlamentarismus, sondern einem Führer – damals Bismarck – zu verdanken gewesen sei. Gerade die konkurrierenden Debatten um die konservative (ein positiv konnotierter Bismarck-Mythos) und links-liberale (negativ konnotierter Bismarck-Mythos) Deutung machen klar, dass die politische Kultur der Weimarer Republik nicht auf einen erinnerungskulturellen Minimalkonsens bezüglich der Deutung der Vergangenheit und Gegenwart rekurrieren konnte – der "Bürgerkrieg der Erinnerungen und historischen Symbole" unterstreicht die "extreme ideologische Aufspaltung". Insofern gelang es auch nicht, ein Narrativ etwa über die Revolution 1918 gesellschaftlich zu verankern, das der Republik Legitimität verschafft hätte. Die antidemokratische Botschaft des Bismarck-Mythos unterstützte schließlich den nationalsozialistischen Aufstieg, in dem er den Parlamentarismus als nicht-deutsche Staatsform interpretierte und zugleich den Führergedanken stärkte.
Ebenso arbeitete die mythische Verklärung Paul von Hindenburgs als "Sieger von Tannenberg" dem Hitler-Mythos zu. Im Ersten Weltkrieg letztlich als Antwort auf die polnische Verklärung des Sieges über den Deutschen Orden 1410 entstanden, begründete er Hindenburgs Machtfülle. Er erinnerte die nach 1918 gedemütigte deutsche Nation jedoch an ihre (militärische) Stärke und Traditionen, wobei eine Linie zum preußischen Militarismus gezogen werden konnte. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme konnte Hitler in eine Linie zu ihm gesetzt werden, was diesen legitimieren sollte.
Im "Hitler-Mythos" wurde die bisherige deutsche Geschichte auf den "Führer" zugespitzt: Durch ihn sei die Entwicklung des "deutschen Volkes" vollendet worden, wodurch seine Machtübernahme 1933 ebenso legitimiert wurde wie die Errichtung des totalitären Regimes und dessen (Kriegs-)Politik; auch sollte die sozial und politisch gespaltene deutsche Nation integriert werden. Er war ein zentraler Baustein der nationalsozialistischen Ideologie, sodass der Kult die politische Kultur des "Dritten Reichs" dominierte – allein durch diese Bezeichnung wurde der "Führer" in eine historische Kontinuität gesetzt. Mit der Kapitulation verschwand der Hitler-Kult jedoch nicht. Er wirkte insofern in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft nach, als dass "unser Hitler" ambivalent beurteilt wurde – zwar wurden der nationalsozialistische Rassenwahn, die Genozid- und Kriegspolitik als Gründe für die deutsche Katastrophe gesehen, aber "seine Leistungen" wie "Kraft durch Freude", der Autobahnbau, der Wirtschaftsaufschwung und die Vollbeschäftigung wurden von einigen positiv erinnert, wobei die Gründe beziehungsweise der gesellschaftliche "Preis" für diese Maßnahmen ausgeblendet wurden.
Dagegen setzte sich in der DDR unter der Prämisse des "antifaschistischen Widerstands" eine grundsätzlich negative Aufarbeitung des "Hitler-Mythos" durch, der damit letztlich überschrieben wurde: Durch den politischen Mythos des "antifaschistischen Widerstands" sollte die Gesellschaft als gereinigt dargestellt werden. Hierbei war es auch von Bedeutung, dass Hitler nicht nur "einfach" verteufelt wurde, sondern ihm mit Stalin ein positives Gegenbeispiel gegenübergestellt wurde. Die deutsche Teilung brachte insgesamt sich diametral unterscheidende Mythenrepertoires mit sich. Grundlegend war in der DDR das oktroyierte sowjetische Mythennetz, in dem auch von diesem abhängige DDR-Mythen entstanden. Ein "genuiner" DDR-Mythos war in diesem Netz der des "antifaschistischen Schutzwalls", dem auf bundesdeutscher Seite die Vorstellung des "Eisernen Vorhangs" entgegengestellt wurde. Hierdurch betonte das Regime eine herausragende Eigenleistung, den "antifaschistischen Widerstand", dessen Mission sich nach 1945 darauf erstreckte, das Vordringen westlicher Werte und des Kapitalismus zu verhindern. Legitimiert wurde der Aufbau des Sozialismus, also des Regimes, indem dieser Mythos beschrieb, warum die DDR des Sozialismus würdig sei. Zugleich legitimierte er die Teilung und wirkte dem bundesdeutschen Anspruch einer Wiedervereinigung entgegen. Insgesamt wurde das Mythenrepertoire der DDR von der Erzählung sozialistischer Errungenschaften dominiert und aufeinander abgestimmt, sodass entsprechend etwa auch die frühzeilichen Bauernkriege in diese Tradition gesetzt wurden.
Auch die bundesdeutsche Gesellschaft schuf Mythen. Maßgeblich für ihr Selbstverständnis war vor allem der Mythos von der "Stunde Null", der über einen Neuanfang einer gereinigten Gesellschaft berichtete und bis heute das deutsche Selbstverständnis prägt: Dem Bombenkrieg, der bedingungslosen Kapitulation und der alliierten Besetzung kamen dabei kathartische Wirkung zu. Als Gründungsmythos legitimierte er die Existenz der Bundesrepublik und blendete aus, dass dieser Neuanfang tatsächlich aus umfangreichen Kontinuitäten bestand. Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung wurde er durch denjenigen vom "Wirtschaftswunder" ergänzt, der die Gesellschaft darin bestätigte, auf dem richtigen Weg zu sein. Komplementär ist der Mythos "Vertreibung", der ein "Ersatzmodell(e) für eine eher indirekte NS-Aufarbeitung" ist und die Entwicklung der bundesdeutschen Erinnerungskultur bis in die Gegenwart beeinflusste. Dieses kathartische Narrativ, eine "Konstruktion kollektiver Unschuld", reagierte auf die Befindlichkeiten der vom Krieg traumatisierten bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in welche die Vertriebenen integriert werden mussten, und legitimierte die im Grundgesetz verankerten Ansprüche auf die verlorenen "deutschen Ostgebiete" und die Politik der Nichtanerkennung Polens. Daher wurde der öffentliche Raum intensiv, beispielsweise durch Straßennamen, die an die verlorenen Ostgebiete und deren Städte erinnern, durch "Heimatstuben", "Tage der Heimat" und im Geschichtsunterricht besetzt. Die erbittert geführten kontroversen Debatten um das geplante "Zentrum gegen Vertreibung", aber auch die vielfältigen Besprechungen zum zweiteiligen Fernsehfilm "Die Flucht" (2007) lassen dies immer noch erkennen, aber ebenso, dass der Konsens über das Narrativ allmählich erodiert und seine Fundierung im kollektiven Gedächtnis schwindet.
Alte Mythen neu interpretieren?
"Deutsche Mythen" entwickelten sich in Phasen, in denen die "Deutschen" Zäsuren zu bewältigen hatten und zu einer kohärenten Gemeinschaft integriert werden mussten. Sie sollten über ihre Ursprünge "aufklären" und so die jeweiligen nationalen Bestrebungen beziehungsweise politischen Systeme rechtfertigen, aber zugleich gemeinsame Werte und Haltungen erzeugen. Aber wie auf der europäischen Ebene auch, wirkt heute keine wirklich "funktionierende Geschichte" in der deutschen Gesellschaft. Eine "gründungsmythische Neufundierung der Republik", also die Legitimierung der Wiedervereinigung und die nachfolgenden Maßnahmen zur Integration der "neuen" Bundesländer durch eigene Mythen, unterblieb jedoch beziehungsweise ist gegenwärtig nicht zu erkennen. Der 9. November, der Tag des "Falls der Mauer", scheint dafür disqualifiziert, weil er auch der Jahrestag der Reichspogromnacht und des Hitler-Putschs 1923 ist. Es herrscht auch ein "weitgehendes Desinteresse an der ‚ostdeutschen Selbstbefreiung‘ vor", und schließlich würde die ehemalige DDR-Bevölkerung die Deutungshoheit über diesen Gründungsakt erhalten, während die Bundesdeutschen "Zuschauer" würden – was der aktiven Integrationspolitik der "alten" Bundesrepublik widersprechen würde. Ging das offizielle DDR-Mythenrepertoire mit dem Staat unter, existieren durchaus noch Relikte in dem kollektiven Gedächtnis ihrer Bevölkerung. Dagegen verloren die "Bonner" Mythen durch die politische Entwicklung und die Ablösung des Symbols des "Wirtschaftswunders" durch den Euro immer mehr Verankerung im kollektiven Gedächtnis. Die gegenwärtige Gesellschaft ist also lediglich mit einem spärlichen, erodierenden Mythenrepertoire ausgestattet, das auf die "alten" Mythen des geteilten Deutschlands rekurriert und nicht die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen berücksichtigt. Stattdessen haben (vorübergehend) Schlagzeilen wie "Wir sind Papst" zumindest zeitweise identitätsstiftende Funktionen übernommen. Dass sie in zukünftigen gesellschaftlichen Krisen- und Umbruchsituationen die Sinngebungs- und Orientierungsfunktion von "deutschen Mythen" tatsächlich auffangen können, scheint höchst zweifelhaft – wahrscheinlicher ist, dass in solchen Phasen alte Mythen neu interpretiert werden.