Was hält die Gesellschaft zusammen? Wichtige "Sinngeneratoren" kollektiver und individueller Identität – etwa dörfliche, familiäre und religiöse Gemeinschaften – verlieren aufgrund von Migrationsprozessen, Individualisierung, Urbanisierung und Säkularisierung an Bindekraft. Seit Geburt der Nationalstaaten bindet das Konstrukt der "nationalen Identität" die in ihren Lebenswelten unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen aneinander. Doch soll diese als emotionales Band dienen, muss sie immer wieder mit nationalen "Erzählungen" oder kollektiven Wohlstands- und anderen Heilsversprechen neu gefüllt und belebt werden. Deren Reiz liegt mitunter darin, dass sie vage und damit Projektionsfläche für unterschiedlichste Ideen und Vorstellungen sind.
Kollektive Identitäten einer res publica können dann mit Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung des Individuums in Konflikt geraten, wenn sie auf sozialen Wandel nicht sensibel genug reagieren und nicht alle in einer Gesellschaft lebenden Menschen einschließen. Daher stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen Gruppen die Adressaten solcher Ansprachen sind: Wer wird ein- und wer wird ausgeschlossen, wer ist "zu integrierendes Subjekt", wem stehen welche Rechte zu und an welche Kriterien sind diese gebunden?
Die im Grundgesetz festgeschriebenen Werte des politischen Gemeinwesens setzen den Rahmen, innerhalb dessen diese Fragen zu beantworten sind. Doch ist ihre Deutung das Ergebnis von Entwicklungs- und Aushandlungsprozessen – und unterliegt somit ebenfalls einem Wandel, wie beispielsweise an den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstellung der Geschlechter oder zu den Rechten Homosexueller zu sehen ist. Um sich möglichen Bezugspunkten und (neuen) Ideen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Solidarität jenseits von "deutschen Sommermärchen" zu nähern, ist es daher vielleicht auch hilfreich, die Frage andersherum zu stellen: Was trennt die Gesellschaft?