Tango. Dieses einzige Wort hat es zuwege gebracht, dass ältere, ganz vernünftige Menschen plötzlich Tanzstunde nehmen, dass eine ganze Gesellschaftsklasse ihre Zeiteinteilung verändert hat, um zu tanzen, dass Lokale plötzlich zu eng wurden, um alle Tango-Enthusiasten zu placieren, dass verstaubte Tanzmeister Protest bliesen"
Das einleitende Zitat entstammt dem Buch "Tanz-Brevier", das erste seiner Art, das im Jahr 1913 erschien. Darin beschreibt der Autor Franz Wolfgang Koebner
Tango-Debatte
In Ländern wie Deutschland, Frankreich und den USA entfachte die erste Tanzwelle eine heftige Debatte.
"Wer es bisher liebte, sich leidenschaftlich in politische oder gar Kunstgespräche zu verstricken, tritt nun in die Reihen der Tangopassionisten", meldete eine große Berliner Illustrierte 1913.
Tango als Körperkultur
Doch in Europa hat der Tango gar nicht als Provokateur Einzug gehalten, sondern als sportliche Disziplin: Wie beim Tennis, das ebenfalls gerade zur Freizeitbetätigung der feinen Gesellschaft geworden war, gab es bald exklusive Clubs und Turniere nach englischem Vorbild, ein deutlicher Hang zu Snobismus und Dekadenz inklusive. Der erste deutsche Tanzclub war 1911 in Berlin gegründet worden. Nur eine Saison später fanden sich dort bereits genügend Paare, die im Admiralspalast auf einem Turnier antraten, bei dem der Tango die Hauptattraktion bildete. Nebeninteressen wie Klatsch und Flirts wurden nun als unerwünschte Ablenkung empfunden. Die "Elegante Welt", Berlins gerade gegründetes Gesellschaftsblatt, das den Tanzsport propagierte, hielt es für unmöglich, "mit aufgeweichtem Kragen, klebenden Haaren, dem Temperamente Luft zu machen. Die ‚wirkliche Bewegung‘ ist abgetan."
Ausgerechnet am Tango entwickelten die Sportenthusiasten ihre Idealvorstellung eines reinen Tanzes. Die Überwindung des Körpers, seit dem Walzer auch ein Grundmotiv des bürgerlichen Gesellschaftstanzes, wurde nun zielstrebig umgesetzt. Deshalb sprach auch für den Tango, dass "es gottseidank unmöglich geworden ist, die Tangomusik so schnell nachzusingen, wie es die Trivialität der früheren Tänze gestattete".
Sport und Tango fusionierten als zwei Erscheinungsformen der Moderne. Sie berührten jedoch noch ein völlig anderes Konzept, das in jener Zeit entstand: die Idee der "Körperkultur". Die damals in Deutschland sehr verbreitete "Lebensreform"-Bewegung propagierte eine natürliche, einfache Lebensweise, oft nicht ohne eine kräftige Portion Esoterik und Vereinsmeierei. Man aß gesunde Rohkost, trug bequeme "Reformkleidung" und frönte der "Freikörperkultur". Mit dem dekadenten Tango hatten die Lebensreformer gewiss wenig im Sinn. Aber im Zuge ihrer Bestrebungen gelangten Gymnastik und Tanz automatisch in den Fokus des allgemeinen Interesses. Dazu gehörte dann eben auch, dass Nackttänzerinnen auf Cabaret-Bühnen auftraten und – stets unter der auch an den Staatsanwalt adressierten Versicherung, es handele sich dabei um eine Präsentation ästhetischer Vollkommenheit – ein beliebtes Skandalthema bildeten. Das war ebenso Teil einer Gemengelage, in der eine prüde, in ihren Konventionen eingeschnürte Gesellschaft sich am Tabubruch versuchte.
Als eine weitere Neuheit der Vergnügungsbühnen wurden professionelle Tanzpaare ins Repertoire aufgenommen, allen voran solche, die Tango tanzten. Sie trugen fremd klingende Namen, wie etwa das "brillante Tango-Duett Carry & Leon" oder die "famous brasilian Tango-dancers Chitty Dolores and Partner".
Internationale der Schieber
Um 1907 war der Tango in Paris von Mitgliedern der argentinischen jeunesse dorée, der wohlhabenden, stets nach Vergnügen suchenden Jugend, erstmals vorgeführt worden, um, in Verbindung mit den ebenfalls gerade aufkommenden Tangoklängen, die Salons mit ein wenig Lokalkolorit zu dekorieren. Bald stellte sich heraus, dass die Mischung aus reizvoll verzögerten Rhythmen und Melancholie etwas ganz Besonderes war. Geschäftstüchtige Tanzlehrer griffen dies auf und sezierten den neuen Tanz flugs in bis zu zwanzig verschiedene Figuren. Derart gestutzt wurde der Tango in Deutschland zunächst für eine Pariser Modetorheit gehalten – was er nun im Grunde ja auch war. Als die Herkunft aus schwülen Gefilden durchsickerte, führte dies zur sentimentalen Verklärung. Das Bewusstsein, sich im Takt einer Musik zu bewegen, die aus den "Lasterhöhlen" von Buenos Aires und Montevideo kam, gehört seitdem zum festen Bestandteil der Tango-Romantik.
Bis heute erscheint der Tango als weitgehend singuläres Phänomen, was sich nicht zuletzt in umfangreicher Literatur niedergeschlagen hat. Dabei ist offensichtlich, dass zwischen der Entstehung des Tango und der anderer Schiebetänze in Europa und Amerika deutliche Parallelen bestehen.
Im Übrigen war die "Schiebermütze" – englisch flat cap, französisch casquette – ebenfalls kosmopolitisch. Tatsächlich kommt die ambivalente Bedeutung der neuen Tänze gerade im berlinerischen Begriff des "Schiebers" gut zum Ausdruck. Der Begriff, der ursprünglich für den Vorarbeiter geprägt wurde, ist später auf kleine Gauner, Krisengewinnler und Zuhälter übertragen worden. Aber natürlich steckt darin auch eine Anspielung auf den Geschlechtsakt. Dass der proletarische Ursprung der Tanzmode auch später latent mitschwang, ist aus einem Gedicht herauszuhören, das damals in einer Berliner Tageszeitung erschien: "Mensch, was nützt dir Rang und Titel,/Schönheit, Schick und reiche Mittel,/wenn du nicht das eine kannst,/wenn du noch nicht Tango tanz’st?!/Jeder Gimpel ist dir über,/der ein richt’ger Tango-Schieber."
Biegsam, wie es der Tanz erfordert
Dem proletarischen Tango wurde die zweifelhafte Ehre zuteil, von Europas Lebewelt mit Kusshand adoptiert zu werden. "Gegen Morgen, nachdem Fässer voll Champagner geleert worden waren und ich selbst mich in gehobenster Stimmung befand, hatte ich die Idee, den Apachentango mit einem wunderschönen jungen Menschen zu tanzen", verriet Isodora Duncan, die als von Gewändern umhüllte Barfuß-Ballerina dem modernen Tanz den Weg ebnete.
Private déjeuners, thés und soupers, damals Fixpunkte des gesellschaftlichen Lebens, wurden nun vom Tango erobert. "Wo man sonst zu einem Souper gebeten wurde, steht auf der Karte: Kaltes Büfett und Tango", staunte die Presse.
Natürlich schwenkte auch die Mode auf das Thema ein. Das typische Tango-Kleid wurde vom Knie abwärts immer dünner. Exzentrische Modelle zeigten dort nur mehr Fransen und erlaubten, der ungehinderten Bewegung der Beine wegen, Einblicke, die auf der Straße als skandalös empfunden wurden.
Frauenrechtlerinnen, Künstler und Kunstgewerbler hatten sich seit Beginn der 1890er Jahre mit einer weiblichen "Reformkleidung" beschäftigt. So wollten sie die Frauen von der bis viele Pfunde schweren Unterwäsche befreien, insbesondere vom Korsett, das die Luft abschnitt. Mochten die neuen Entwürfe noch so praktisch sein, sie wurden häufig als plump abgelehnt. Nachdem aber die Pariser Modeschöpfer, angeführt von Paul Poiret, korsettlose Silhouetten mit ihrem Raffinement versahen und selbst Tango-Kleider lancierten, konnten sich auch die Damen der Oberwelt für den einfachen Schnitt begeistern. Statt Korsett bot nun der Handel leichtere "Leib-Träger", laut Hersteller so "biegsam, wie es der Tanz erfordert".
Der Tanz selbst wurde ebenfalls zum Geschäft. Tango-Koryphäen waren als Lehrer bald so gefragt, dass sie von der feinen Kundschaft bis zu zweihundert Mark Stundenhonorar verlangt haben sollen, weit mehr als ein guter Monatslohn. Allein die prägnantesten Figuren des Tango, darunter der "Corte" (bereits von den Step-Tänzen als "Break" bekannt) und die "Schere" (Kreuzlauf der Füße) erschienen kompliziert genug, um mäßig talentierte Schüler längere Zeit bei der Stange zu halten. Nebenbei wurden, um das Geschäft weiter zu beleben, Tango-Ableger lanciert, die es in dessen Schlepptau jeweils jedoch nur zu kurzlebiger Publizität brachten. Solche künstlichen Kreationen, die Phantasienamen wie TaoTao, Furlana, Rouli Rouli oder Chichipanga trugen, blieben zumeist reine Bühnentänze. Einzig die brasilianische Maxixe setzte sich zeitweise als Turniertanz durch. Sie alle zu erlernen, war für Normaltänzer viel zu mühevoll, zumal man oft schon mit dem Tango überfordert war. "Der größte Teil der Tangofreunde", urteilte Koebner, "ist rein theoretischer Natur."
Schwofende Avantgarde
Mit seiner neuartigen Rhythmik, seiner Sentimentalität und erotischen Dramaturgie riss der Tango die Bürger aus ihrem Phlegma. Das war aber noch nicht alles. "Jeder Tango muß verschieden getanzt werden", erklärte der Experte.
Tango war etwas grundsätzlich anderes. Und dieses Andere bestand darin, dass er gerade keine bis ins Letzte fixierte Choreografie hatte, sondern eine offene Struktur. Diese Offenheit, die er mit anderen modernen Tänzen gemein hatte, lag nicht zuletzt in seiner Entstehung begründet. Er war eben nicht erdacht, sondern hatte sich wie von selbst auf der Tanzfläche entwickelt, da, wo niemand den Taktstock schlug. "Wie die Völker tanzen, das bringen ihnen keine Schulen bei. Sie lernen es selber. Tänze kommen wie die neuen Zeiten von ganz allein", bemerkte dazu eine berühmte Bühnentänzerin.
Ein weiterer Grund für die Besonderheit der neuen Tänze waren ihre multiethnischen Wurzeln – im Falle des Tango die von Einwanderern unterschiedlichster Herkunft besiedelten Schmelztiegel rund um den Rio de la Plata. Der Tango kam als transkultureller Tanz über den Atlantik, ein Mischling aus europäischen, amerikanischen und afrikanischen Anteilen. Gerade auch daher rührte seine besondere, offene Struktur, die der Individualität freien Raum ließ und jede feste Ordnung auf der Tanzfläche unmöglich machte – und das war der eigentliche Skandal. Dass der Tango auf Individualität und Innovation angelegt war, darin glich er nicht nur dem modernen Bühnentanz, der sich als "Ausdruckstanz" gerade ebenfalls herausbildete. Es waren auch Merkmale, die sich damals in der modernen Kunst wie auch im modernen Design Bahn brachen. Beim freien Tango, könnte man zugespitzt sagen, gehörte jeder zur Avantgarde.
"Die Mörder tanzen Tango"
Aufgrund seiner Geschlechtssymbolik hatte der Tango trotzdem einen lasziven Ruf. Dem Irrtum, diese Darstellung mit dem Dargestellten zu verwechseln, saß insbesondere die Polizei auf. In München gab man 1914 die Parole aus: "Die Polizeidirektion wird auch heuer gegen anstößige Tänze entschieden vorgehen, mögen sie eine Bezeichnung führen, wie sie wollen. Auch der sogenannte Tango wird im allgemeinen zu diesen Tanzarten gehören."
Im Februar des Jahres 1913 meldete die Wiener Presse eine Bluttat: Ein Ehemann, Prokurist und Sohn aus angesehener Familie, hatte seine Frau aus Eifersucht erschossen. Was der Sache die Würze gab: Die beiden, bekannte Figuren der Wiener Salons, waren als Tänzerpaar auf Elitebällen beklatscht worden. Der Täter wurde aufgrund eines Gutachtens, das ihm vorübergehende Verwirrung bescheinigte, bald auf freien Fuß gesetzt und konnte bereits in der nächsten Saison wieder als Tango-Held glänzen. "Das Leben starb. Die Mörder tanzen Tango", bemerkte der Wiener Publizist Karl Kraus in einer Satire zu diesem skandalösen Fall.
Der Tanz ging tatsächlich weiter. Die feine Gesellschaft, mithin "Die oberen Zehntausend", tanzten getreu nach dem Titellied dieser Berliner Revue so lange, bis 1914 bei Kriegsbeginn ein allgemeines Tanzverbot dem Treiben offiziell ein Ende setzte und das große Töten begann: "Wir tanzen auf einem Pulverfaß/und grad das, grade das, grade das macht Spaß!/Man tanzt – und wenn schon die Lunte brennt –/man tanzt – man tanzt – bis zum letzten Moment!"