Der 24. Mai 1913 war ein sonniger Tag in Berlin, Tausende waren schon früh auf den Beinen, um am Straßenrand die besten Plätze bei einem großen Spektakel zu ergattern: der Hochzeit der einzigen Tochter Kaiser Wilhelms II., Viktoria Luise, mit Herzog Ernst August von Braunschweig-Lüneburg. Zahllose gekrönte und ungekrönte Angehörige des europäischen Hochadels versammelten sich an diesem Tage in Berlin, um mitzufeiern, darunter der englische König Georg V., ein Cousin des Kaisers, sowie Zar Nikolaus II., ein angeheirateter Cousin. Nun ist es zwar normal, dass Verwandte und Freunde sich treffen, wenn es etwas Außergewöhnliches zu feiern gilt. Gleichwohl hatte dieses Treffen eine besondere Note: Seit Jahren hatten sich die Spannungen zwischen den Ländern, die sie regierten, und dem Deutschen Reich, dessen Kaiser sie nun zur Hochzeit der einzigen Tochter gratulieren wollten, verschärft. Immer neue Krisen in verschiedenen Teilen der Welt hatten ein gefährliches Wettrüsten in Gang gesetzt; Militärs auf allen Seiten hatten begonnen, ihre Aufmarschpläne mit dem Ziel eines möglichst schnelles Sieges zu überarbeiten, und Pressekampagnen hatten zunehmend die Stimmung vergiftet. Nun aber, aus einem vergleichsweise "banalen" Anlass, trafen sich die Rivalen ungeachtet aller Krisen, Konflikte und Interessengegensätze, so als ob sie von jeher die besten Freunde gewesen seien und es auch weiterhin bleiben wollten. Angesichts der schwierigen außenpolitischen Lage des Reiches war es daher auch nicht erstaunlich, dass die Reichsleitung hoffte, dieses private "Event" ausnutzen, ein politisches Zeichen setzen zu können. "Gilt ihre Anwesenheit auch nur einem Familienfeste, so bildet doch die damit bekundete Herzlichkeit der persönlichen Beziehungen unter den drei Monarchen ein wertvolles Imponderabile für die Sicherheit des wechselseitig ungestörten Fortschritt der großen Kulturnationen Europas," hieß es hoffnungsvoll in der offiziösen "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung".
Die Hoffnung, durch den "Fortschritt der großen Kulturnationen" die Lage entspannen und damit den von vielen als unvermeidlich angesehenen, von manchen inzwischen sogar heiß ersehnten Krieg verhindern zu können, war sicherlich ehrlich gemeint. Wilhelm II., bei dem, wie der Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg nicht ohne Spott meinte, "der Himmel voller Geigen" hänge, glaubte sogar, bei dieser Zusammenkunft "mit seinem Vetter das Balkanproblem gelöst" zu haben.
Krisen und Kriege
Bei jeder Betrachtung des Jahres 1913 stehen zunächst die Krisen und Kriege im Vordergrund, in die fast alle europäischen Mächte direkt oder indirekt verwickelt waren. Anlass dafür war der im Oktober 1912 ausgebrochene Krieg auf dem Balkan. Zwar hatten alle Kabinette damit gerechnet, dass die Balkanstaaten die Schwäche des Osmanischen Reiches ausnutzen würden, um die von ihnen beanspruchten Gebiete zu "befreien"; das Ergebnis war für manche dann aber doch eine Überraschung. Innerhalb weniger Wochen verdrängten die Armeen Serbiens, Bulgariens, Griechenlands und Montenegros das Osmanische Reich aus fast allen seinen europäischen Besitzungen.
Diese Region, die den Staatsmännern Europas bereits in den 1870er und 1880er Jahren erhebliches Kopfzerbrechen bereitet und das Risiko eines "großen Krieges" heraufbeschworen hatte, drohte erneut zum "Pulverfass" zu werden; ein kleiner Funke würde genügen, den Kontinent in die Luft zu jagen. Die Gründe lagen auf der Hand: Jede Veränderung in diesem sensiblen Teil Europas verschob die politischen, vor allem aber die militärischen Gewichte aus regionaler wie auch aus internationaler Perspektive. Ein erheblicher Machtzuwachs Serbiens drohte den ohnehin kriselnden Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn mit seinen sieben Millionen Südslawen weiter zu schwächen. Die serbischen Nationalisten im "Piemont" des Balkan – so eine serbische Zeitung in Anlehnung an die Rolle des kleinen Königreichs bei der Einigung Italiens im Kampf gegen Österreich ein halbes Jahrhundert zuvor – machten gar keinen Hehl daraus, dass sie nach der Vertreibung der Osmanen aus serbischen Gebieten ihre Stoßrichtung nun nach Norden gegen Österreich-Ungarn richten würden. Ein militärisch starkes Serbien verbesserte darüber hinaus schlagartig die Position Russlands, der Schutzmacht aller Slawen. In einem großen Krieg auf dem Kontinent würde die Donaumonarchie nunmehr nicht nur an einer, sondern an zwei Fronten kämpfen müssen. Dieses Szenario hätte wiederum fatale Folgen für das Deutsche Reich, den einzigen verlässlichen Verbündeten, gehabt. Da Russland Serbien bei einem österreichischen Angriff unweigerlich unterstützen würde, hätte dies den casus foederis für Deutschland bedeutet. Eine deutsches Eingreifen gegen Russland wiederum hätte Frankreich auf den Plan gerufen, das seit 1892/1894 ein immer wichtigerer Bündnispartner des Zarenreiches war. Selbst wenn man die ungewisse Haltung Großbritanniens bei einem solchen Konflikt außer Acht lässt, kann man sich leicht die Schrecken ausmalen, die dieser Krieg auf dem Kontinent zur Folge haben würde.
Genau dieses Szenario war es, das manchen Politiker und Militär in Wien veranlasste, über einen Präventivkrieg nachzudenken, bevor es tatsächlich zu spät sei: "Unsere wirklichen Lebensinteressen für die Zukunft sind ohne Machteinsatz und ohne Kampf nicht zu bewahren", hieß es in einer Denkschrift des k.u.k. Generalstabs.
So sehr die deutsche Seite bereit war, ihren Bündnispartner bei einem Konflikt mit Russland zu unterstützen, so wenig wollte sie Österreich zu diesem Zeitpunkt wegen der unabsehbaren Konsequenzen jedoch zu einem lokalen Krieg gegen Serbien raten. Aus dem Krieg zwischen den Balkanstaaten und der Türkei wurde daher am Ende kein europäischer Krieg, da Österreich – schweren Herzens – auf einen Waffengang gegen Serbien verzichtete. Gleichwohl, die Spannungen blieben. Kaum hatten die Balkanstaaten am 30. Mai 1913 nach zähen Verhandlungen ihren Frieden mit dem Osmanischen Reich gemacht, fielen sie im Streit um die Beute übereinander her. Dieses Mal beteiligte sich auch Rumänien am Krieg. Am 10. August 1913 wurde der Balkan im Frieden von Bukarest erneut aufgeteilt, nun zu Lasten Bulgariens.
Nach diesen Kriegen, deren Kennzeichen bis dahin ungekannte Grausamkeiten gegen Soldaten und Zivilisten sowie ethnische Säuberungen großen Ausmaßes waren, kam es immer wieder zu Spannungen zwischen einzelnen Mächten, vor allem aber zwischen Österreich auf der einen und Serbien und dem Zarenreich auf der anderen Seite. Auch zwischen Deutschland und Russland kriselte es im Herbst des Jahres. Und als wenn es nicht schon genug Konflikte gab, verschärften sich am Ende des Jahres die Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei im Streit um Inseln in der Ägäis.
Aufrüstung und Kriegspläne
Angesichts der Krisen und Kriege war es im Grunde natürlich, dass die verantwortlichen Militärs ihren Regierungen empfahlen, wie eh und je in der Geschichte auch den Krieg als Mittel der Politik ins Kalkül zu ziehen beziehungsweise sich auf diesen bestmöglich vorzubereiten, und das hieß aufzurüsten. Dass die Donaumonarchie in ihrem Konflikt mit Serbien die Ultima Ratio in Erwägung zog, haben wir schon gesehen.
Besonders bemerkenswert ist das Agieren des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg. Obgleich er der Forderung des Generalstabschefs nach einem "je eher, desto besser" ablehnend gegenüberstand, hielt er es für notwendig, für den Eventualfall gerüstet zu sein. In dieser Beziehung verließ er sich ganz auf die Beurteilung der Lage durch die militärische Führung: "Am schwersten hat mich der Einblick belastet, den mich die Militärs in unsere Stärkeverhältnisse für den Fall eines Krieges haben tun lassen", schrieb er später einem engen Vertrauten.
Entscheidender als die numerische Verstärkung der Truppen war der Wandel in den Doktrinen und den Plänen, mit denen diese in den Krieg ziehen sollten. Bis 1912 hatte allein das Deutsche Reich einen vom legendären Generalstabschef Alfred Graf von Schlieffen entworfenen, von seinem Nachfolger Moltke weiterentwickelten offensiven Kriegsplan gehabt: Ein schneller Sieg im Westen sollte den Krieg im Osten unnötig machen beziehungsweise zumindest erleichtern.
In der Konsequenz erhöhte dieser Wandel wiederum den Druck auf die verantwortlichen Militärs und Politiker, sich in einer als existenzgefährdend empfundenen Krise für den Präventivkrieg und nicht für Verhandlungen zu entscheiden. Jeder Verlust an Zeit für Mobilisierung, Aufmarsch und Angriff, so die einfache Rechnung, drohte die Niederlage, nicht den Sieg wahrscheinlicher zu machen. Als besonders fatal sollte es sich erweisen, dass der deutsche Generalstab die Politik zunehmend drängte, im Hinblick auf eine in fernerer Zukunft möglicherweise ungünstigere Konstellation (das heißt die erwartete Fertigstellung der russischen Westbahnen und die Vollendung der russischen beziehungsweise französischen Armeeverstärkungen), so schnell wie möglich den Krieg zu suchen, ohne wirklich zu wissen, ob der worst case tatsächlich eintreffen würde.
Stimmungen
Krisen und Kriege, Aufrüstung und das Schmieden von Präventivkriegsplänen sind jedoch nur ein Aspekt des letzten Jahres vor Ausbruch des dann wirklich großen Krieges. Auffallend ist vielmehr, dass am Ende des Jahres 1912 und während des ganzen Jahres 1913 die führenden Mächte der sich seit Längerem argwöhnisch einander beäugenden Blöcke in Europa – der Triple Entente (Frankreich, Großbritannien, Russland) und dem Dreibund (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Italien) – deutlich machten, dass sie kein Interesse hatten, aus einem lokalen einen kontinentalen, geschweige denn einen Weltkrieg entstehen zu lassen.
Um den großen Konflikt zu verhindern, hatten daher auf dem Höhepunkt der Balkankrise 1913 sowohl das Kabinett in London als auch die Reichsleitung in Berlin mäßigend auf ihre jeweiligen Partner eingewirkt. Damit verhinderten sie den großen Krieg und brachten den kleinen, so mühselig die Verhandlungen auf der Londoner Botschafterkonferenz letztlich waren, zu einem, wenn auch nur vorläufigen Ende, wie sich bald herausstellen sollte. An dieser Strategie, ganz nach alter diplomatischer Tradition, das Konzert der Mächte wiederzubeleben, um Konflikte am Konferenztisch und nicht auf dem Schlachtfeld zu lösen, hielten sie auch fest, als neue Krisen zwischen den Balkanmächten, aber auch zwischen Österreich und Russland im Frühjahr, Sommer und Herbst des Jahres noch einmal das Gespenst eines großen Krieges heraufbeschworen.
Anders als in den Jahrhunderten zuvor hatten die Verantwortlichen, ob es sich nun um Politiker oder Militärs, ja selbst um Monarchen handelte, bei ihren Entscheidungen die Stimmung der öffentlichen Meinung, vor allem aber die der jeweiligen Parlamente in Rechnung zu stellen. Je größer die Erfolge der Verantwortlichen waren, umso größer waren ihre Spielräume in der Politik – nach innen, aber auch nach außen. Erfolg bedeutete insofern Wiederwahl, Geld für jedwede Projekte, Prestige und – nicht zuletzt – Stabilität des Systems. Zugleich erlaubten Erfolge kraftvolles Auftreten nach außen in dem Bewusstsein, eine starke Mehrheit hinter sich zu haben oder, umgekehrt, sie konnten einer kritischen Öffentlichkeit den Beweis liefern, dass das bestehende System in der Lage war, Macht und Prestige, Reichtum und Wohlstand zu garantieren.
Diese komplizierte Gemengelage gilt es bei der Betrachtung des Jahres 1913 zu berücksichtigen. Alle Regierungen sahen sich im Zeitalter des Nationalismus und rivalisierender Imperialismen sowie, damit einhergehend, einem inzwischen tief verwurzelten sozialdarwinistischen Denken gegenüber – ob es sich dabei um den vielbeschworenen Kampf des Slawen- gegen das Germanentum oder anders begründete Groß- beziehungsweise Weltmachtphantasien handelte. Das Fatale dieser Phantasien war, dass sie die Bereitschaft enthielten, für den gegenwärtigen Status als Groß- beziehungsweise Weltmacht zu kämpfen. "Die Frage", so erklärte beispielsweise Großadmiral Alfred von Tirpitz in einer Geheimrede vor seinen Offizieren im Oktober 1913, "(…) ob Deutschland sich seine Weltstellung wenn nötig England gegenüber erkämpfen soll – mit dem großen Einsatz, den dieser Kampf in sich schließe – oder ob es sich auf die Stellung als europäische Kontinentalmacht 2. Ordnung von vornherein beschränken soll, diese Frage ist letzten Endes Sache des politischen Glaubens. Schließlich scheint es einer großen Nation würdiger, um das höchste Ziel zu kämpfen und vielleicht ehrenvoll unterzugehen als ruhmlos auf die Zukunft zu verzichten."
So wie Tirpitz dachten viele, wie ein Blick in die zeitgenössische Publizistik oder die Reden verantwortlicher und noch mehr unverantwortlicher Politiker zeigt. Es wäre allerdings verfehlt, diesen "Topos vom unvermeidlichen Krieg" (Wolfgang J. Mommsen) allein als ein deutsches Problem zu betrachten. Chauvinistische Ausfälle gab es in anderen Ländern gleichermaßen, auch dort hielten viele Verantwortliche den Krieg zunehmend für unvermeidlich. Vollends kompliziert wurde diese Situation freilich dadurch, dass sich eigentlich alle Regierungen zwar gegenseitig attestierten, diesen angeblich unvermeidlichen Krieg nicht wirklich zu wollen, aber glaubten, dass die jeweils andere Seite aufgrund innerer Zwänge am Ende gar keine andere Wahl hätte, als diesen bald zu führen. "L’Empereur et le Chancelier veulent la paix", berichtete der französische Militärattaché im April 1912, um dann auf den entgegengesetzten Druck der öffentlichen Meinung hinzuweisen.
Dieser Druck war in der Tat immens: "Wir sind nicht der Meinung, daß wir nur und ausschließlich durch einen großen Krieg unsere weltpolitische Zukunft und unseren Anteil an der Welterschließung sichern können. Die überwältigende Mehrheit unseres Volkes wünscht beides im Frieden durchzusetzen", schrieb beispielsweise der einflussreiche Historiker Friedrich Meinecke im Frühjahr 1913, fügte dann aber hinzu: "Wenn uns der Krieg durch unabweisbare Notwendigkeit aufgedrängt wird, dann wollen und müssen wir siegen, um jeden Preis und unbedingt und mit dem äußersten Aufgebot der Volkskraft."
Doch neben diesen düsteren gab es auch erfreuliche Entwicklungen: Alarmiert von der Gefahr eines großen Krieges versammelten sich die Vertreter der Sozialistischen Internationale Ende 1912 in Bern, schworen, das ihnen Mögliche zu tun, um diesen zu verhindern. Aber auch der Alltag war keineswegs so düster wie man meinen könnte. Zwar lahmte die Konjunktur nach fast zwanzig Jahren Aufschwung, aber von einer Wiederholung der "großen Depression" der 1870er Jahre konnte keine Rede sein. Zudem gab es genügend Anlässe, sich zu freuen: Das 25-jährige Thronjubiläum Wilhelms II. im Sommer 1913, das ein großes Volksfest war, war dafür ebenso ein Beispiel wie die großen internationalen Jagden und Segelregatten oder die Sommerfrische, in die zu fahren sich immer mehr Menschen leisten konnten.
"Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende."
"Ich habe voriges Jahr bereits von einem ‚völkerpsychologischen autosuggestiven Zustand‘ gesprochen, in den sich die Völker Europas haben hineinhetzen lassen. Der Prozeß dieses Zustandes ist noch nicht abgeschlossen. Es beginnt sich auch unseres Mittelstandes – und das ist vielleicht die bedenklichste Erscheinung – allmählich die gefährliche Phrase jetzt ernstlich zu bemächtigen: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende", erklärte der bayerische Abgeordnete Ernst Müller-Meiningen im April 1913 während der Reichstagsdebatte über die neue Wehrvorlage.
Das Dilemma freilich war, dass manche Staatsmänner sich diese Einsicht nur ein Jahr später nicht mehr zu eigen machen, eigene Ziele verfolgen sollten, obwohl sich die Lage kaum geändert hatte: Krisen und Kriegsgeschrei, das Drängen von Militärs und Chauvinisten, den Krieg nun doch bald zu führen, Beschwichtigungs- und Entspannungsversuche hielten sich lange Zeit die Waage. Der Reichskanzler, so hieß es noch Anfang Mai 1914 in einem Bericht des offenkundig enttäuschten Marineattachés über dessen Orientreise, "wolle keine Präventivkriege und glaube, in 15 Jahren wären wir so reich, daß unserer Weltpolitik nichts mehr im Wege stände".