Wer auf das Jahr 1913 zurückblickt, tut dies mit großer Wahrscheinlichkeit im Bewusstsein dessen, was darauf folgte: das Jahr 1914 mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, der "Urkatastrophe Europas", die den "zweiten Dreißigjährigen Krieg" in Europa einleitete und damit auch das "Zeitalter der Extreme". Das Jahr 1913 wird daher häufig als letztes "Normaljahr" verklärt, als letztes Jahr einer vermeintlich unbeschwerten Zeit und stabilen Ordnung, die anschließend unwiederbringlich verloren gingen.
Tatsächlich kann diese Sicht allenfalls für den westlichen Teil Europas gelten. Auf dem Balkan tobten bereits seit 1912 zwei verlustreiche Kriege um das Erbe des zerfallenden Osmanischen Reiches, welche die Schrecken einer gesamteuropäischen Auseinandersetzung erahnen ließen. In Westeuropa hingegen herrschte seit über vierzig Jahren Frieden, und der dadurch ermöglichte technische Fortschritt sowie die enge wirtschaftliche Verflechtung zwischen den Nationen verleiteten einige zu dem Glauben, dass ein "großer Krieg" zwischen ihnen ausgeschlossen sei.
Doch zugleich konkurrierten die europäischen Großmächte um Kolonien und Weltgeltung, instrumentalisierten die Konfliktparteien auf dem Balkan für ihre jeweiligen Interessen und rüsteten ihre Flotten und Armeen auf – freilich nur für den "Verteidigungsfall". Militarismus und sozialdarwinistische Denkfiguren waren weit verbreitet; es ist kein Zufall, dass Heinrich Manns Roman "Der Untertan" gerade in ebenjener Zeit entstand. Trotzdem waren die Entwicklungen bis zum Kriegsausbruch keineswegs zwangsläufig. Die tragische Erkenntnis, dass Vorkriegsjahre stets erst als solche erkannt werden, wenn es bereits zu spät ist, bleibt somit als Mahnung: dass selbst das Undenkbare denkbar ist und jeder Frieden fragil.