In der wirtschaftspolitischen Diskussion werden die Begriffe Konjunktur und Wachstum häufig synonym gebraucht. Das scheint auf den ersten Blick auch plausibel: Wenn die Konjunktur anspringt, steigt auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Tatsächlich sind Konjunktur und Wachstum nicht identisch, insbesondere wenn langfristiges Wachstum gemeint ist. Die konjunkturelle Lage beschreibt den aktuellen Auslastungsgrad des Produktionspotenzials, das heißt der Produktionskapazitäten einer Volkswirtschaft.
Das Produktionspotenzial ist – zumindest kurzfristig – gegeben. Denn es wird durch das Arbeitsangebot der Erwerbsbevölkerung, dem Stand der Technik und dem Kapitalstock der Unternehmen (Realkapital wie etwa Maschinen) bestimmt. Diese Größen verändern sich nur langfristig. Folglich ist auch das Produktionspotenzial kurzfristig konstant. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage bestimmt dann den Auslastungsgrad. Abhängig davon kann sich die Wirtschaft in einem Aufschwung, einem Boom, einem Abschwung oder einer Rezession befinden. Dies ist die kurzfristige, keynesianisch geprägte Perspektive.
Entscheidend bei der Betrachtung der Konjunktur ist, dass sich hierbei das Produktionspotenzial nicht verändert, sondern nur seine Auslastung. Die verschiedenen Stadien des Konjunkturzyklus’ sind durch kurzfristige Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage bedingt. Folglich können staatliche Konjunkturprogramme auch nur solche vorübergehenden Ungleichgewichte bekämpfen, vor allem einen kurzfristigen Einbruch der Nachfrage. Entsprechend zeigen empirische Untersuchungen, dass die Wirkung von Konjunkturprogrammen umso größer wird, je schwerwiegender eine Rezession ist. Umgekehrt nimmt die belebende Wirkung ab, je milder die Rezession ausfällt, denn dann werden in zunehmendem Maße private Aktivitäten verdrängt. Außerdem nimmt die Wirkung eines Konjunkturprogramms ab, je länger es zurückliegt.
Für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum muss vor allem das gesamtwirtschaftliche Produktionspotenzial wachsen. Dies geschieht grundsätzlich analog zum Wachstum eines Unternehmens: durch mehr Einsatz von Arbeit (wie Neueinstellungen) und/oder Kapital (wie mehr Maschinen) und/oder eine höhere totale Faktorproduktivität (wie bessere Produktionsprozesse, technischer Fortschritt, Bildung). Damit wird das Wachstum des Produktionspotenzials vom Angebot an Produktionsfaktoren und Produktivitätssteigerungen bestimmt. Dies erfordert die Bildung von Ersparnissen, um Investitionen tätigen zu können – in Sach- und in Humankapital, aber auch in Forschung und Entwicklung. So lautet die langfristige, neoklassisch geprägte Perspektive.
Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die Konjunktur von der Nachfrage nach Gütern, das Potenzialwachstum und damit auch das langfristige Wirtschaftswachstum aber vom Angebot an Produktionsfaktoren bestimmt wird. Ob und, wenn ja, über welche Interaktionsmechanismen die Konjunktur dann das langfristige Potenzialwachstum beeinflussen kann, ist wissenschaftlich noch nicht endgültig geklärt. Nach der Mehrzahl der bekannten ökonomischen Theorien lautet die Antwort: gar nicht.
In einem gewissen Rahmen sind Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage auch schon allein aufgrund des Strukturwandels unvermeidbar. Es scheint jedenfalls nicht angemessen, permanent von gravierenden Ungleichgewichten auszugehen, die stete staatliche Interventionen erfordern. Diese Bedingung müsste aber erfüllt sein, damit staatliche Eingriffe positive Effekte auf das Potenzialwachstum haben können. Denn dann bestünde die Chance, mögliche negative Auswirkungen übermäßiger Konjunkturschwankungen zu begrenzen. Es ginge also nicht darum, zusätzliches Potenzialwachstum zu generieren, sondern sein Abflachen zu vermeiden. Allerdings werden konjunkturelle Ungleichgewichte mitunter auch erst durch staatliche Maßnahmen verursacht, wie etwa im Rahmen politischer Konjunkturzyklen.
Die möglichen Interaktionsmechanismen zwischen Konjunktur und Wachstum sind hochgradig komplex. Für die Frage, ob weiteres Wachstum möglich ist, gilt dies nicht minder. Hier ist aber nicht der Raum für ihre Beantwortung. Allerdings prophezeien selbst Skeptiker keinen unmittelbaren Stopp. Deshalb wird von hinreichenden Wachstumsspielräumen ausgegangen, die genutzt werden sollten. Denn ein langfristiges Wirtschaftswachstum hat ungeachtet aller Kritik viele positive Effekte. Der wichtigste ist, dass das BIP die Grundlage der inländischen Einkommen bildet. Weitere positive Effekte sind eine entspannende Wirkung auf den Arbeitsmarkt, höhere Steuereinnahmen und die erleichterte Bedienung staatlicher Schulden.
Wirtschaftswachstum und Staatsverschuldung
Eine wichtige Voraussetzung für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum ist eine maßvolle staatliche Verschuldung.
Damit sich die langfristige Wachstumsperspektive nicht eintrübt, ist daher ungeachtet aller Sorgen um die Konjunktur eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zumindest mittelfristig unvermeidbar, auch in Deutschland.
Die Begrenzung der Staatsverschuldung kann als Defensivstrategie, die ein im Vergleich zu anderen Ländern deutlich unterdurchschnittliches Wachstum verhindern soll, interpretiert werden. Eine auf langfristiges Wirtschaftswachstum ausgerichtete Politik sollte aber zusätzlich wachstumsfördernde Rahmenbedingungen setzen. Wie oben erläutert, basiert langfristiges Wirtschaftswachstum auf einem Wachstum des Produktionspotenzials, dessen Grundlagen wiederum ein höheres Angebot an den Produktionsfaktoren Arbeit und (Real-)Kapital sowie Produktivitätssteigerungen sind. Und gerade die totale Faktorproduktivität hat in Deutschland mit Abstand am stärksten zum langfristigen Wirtschaftswachstum beigetragen, gefolgt von einem höheren Kapitaleinsatz. Gleichzeitig ist das Arbeitsvolumen insgesamt leicht zurückgegangen, was das Wirtschaftswachstum gebremst hat.
Aus diesen Erkenntnissen über die Grundlagen des Wachstums lassen sich Leitlinien für eine wachstumsorientierte Politik ableiten. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem Jahresgutachten 2002/2003 empirisch untersucht, welche politischen Einflussfaktoren relevant sind.
Die Empfehlungen für eine wachstumsfreundliche Finanz- und Steuerpolitik haben sich durch die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 nicht geändert. Sie können es gar nicht, denn die Grundlagen für das Wachstum des Produktionspotenzials haben sich ebenfalls nicht geändert. Deshalb ähneln die aktuellen Leitlinien für eine wachstumsorientierte Finanz- und Steuerpolitik grundsätzlich denen des Sachverständigenrates damals: Die Steuern für die Erträge der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sollten gesenkt oder bei starkem Konsolidierungsdruck zumindest nicht erhöht werden. Das Ziel ist weiterhin, durch einen geringen Abgabenkeil die Arbeitskosten zu reduzieren, eine hohe Erwerbsbeteiligung zu erzielen und betriebliche Investitionen zu stimulieren. Sofern bei Reformen Aufkommensneutralität gefordert ist, sollten dann andere Steuern, etwa auf Konsum, erhöht werden.
Nach dieser Skizze bleibt die Frage: Wo steht Deutschland? In der vergangenen Dekade war die Steuer- und Finanzpolitik vor allem durch die Reformen der rot-grünen Regierungskoalition (1998 bis 2005) eindeutig wachstumsorientiert. Zugleich nahmen die Stimmen zu, die eine Abkehr von diesem Kurs fordern, vor allem aus Verteilungsgründen. Speziell in Deutschland war der Trend zu höherer Ungleichheit aber allen Sorgen zum Trotz nicht besonders ausgeprägt. Zwar hat sich zwischen 1998 und 2005 die Ungleichheit der Einkommen erhöht. Danach hat sich diese Entwicklung aber nicht fortgesetzt. Zudem ist die deutsche Mittelschicht im internationalen Vergleich überdurchschnittlich stark besetzt.
Auch zur Finanzierung der öffentlichen Haushalte sind keine Steuererhöhungen erforderlich. Bei den Steuereinnahmen wurde 2012 ein Rekord von voraussichtlich mehr als 600 Milliarden Euro erzielt. Gemäß den Prognosen der Steuerschätzer werden sie bis 2017 auf über 700 Milliarden Euro steigen. Vor allem wird auch die Steuerquote (Anteil der Steuereinnahmen am BIP) spürbar zunehmen.