Die Erhebung von Steuern beziehungsweise Abgaben hat allein schon aufgrund ihres Gewichts gemessen an der Wirtschaftsleistung einen bedeutenden Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft. So wurden im Jahr 2011 im Durchschnitt der 27 EU-Mitgliedstaaten (EU 27) 26,1% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Steuern eingenommen und von der öffentlichen Hand (in Form von Transfers) an die privaten Haushalte beziehungsweise (in Form von Subventionen) an die Unternehmen verteilt oder für die Finanzierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen verausgabt. Einschließlich der Sozialversicherungsbeiträge, die in die Finanzierung der einzelnen Zweige der sozialen Sicherung fließen, beträgt die Abgabenquote für die EU 27 39% des BIP. In Deutschland erreichen die Steuerquote 23,1% (in Österreich 27,5%) und die Abgabenquote 38,9% (42,1%) des BIP. Somit läuft ein bedeutender Anteil der jährlichen Produktion von Gütern und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft durch die öffentlichen Haushalte. Von dem solchermaßen öffentlich organisierten Verbrauch beziehungsweise der Umverteilung der jährlichen Wirtschaftsleistung sind erhebliche Auswirkungen auf die Ressourcenverteilung in einer Gesellschaft ebenso wie auf die ökonomischen Entscheidungen der Steuerpflichtigen zu erwarten.
Gleichzeitig sieht sich die Politik mit bedeutenden langfristigen gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert.
Zweitens nimmt in fast allen entwickelten Industrieländern die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen zu.
Drittens wird die abzusehende Alterung der Gesellschaft das Arbeitsangebot deutlich verknappen.
Viertens bestehen in Europa beziehungsweise in der OECD nach wie vor teils erhebliche, wenn auch länderspezifisch unterschiedlich gravierende Defizite in der Gleichstellung der Geschlechter. Dass die Gleichstellung von Frauen und Männern vor allem bezüglich Bildung, Beschäftigung und unternehmerischer Aktivitäten eine Reihe positiver ökonomischer Effekte auslöst, erörtert die OECD ausführlich in einer aktuellen Studie.
Ebenso ungleich wie die bezahlte Arbeit ist die unbezahlte Arbeit zwischen den Geschlechtern verteilt. So ist im OECD-Durchschnitt das tägliche Pensum der Frauen an unbezahlter Arbeit mit 279 Minuten pro Tag um 2,1 Mal höher als jenes der Männer. In Deutschland und Österreich arbeiten die Frauen im Durchschnitt jeweils 269 Minuten täglich unbezahlt, das entspricht dem 2-Fachen (Österreich) beziehungsweise dem 1,6-Fachen (Deutschland) der von Männern erbrachten unbezahlten Arbeit.
Gesellschaftliche Zielsetzungen von Steuersystemen
Steuer- und Abgabensystemen werden in der finanzwissenschaftlichen und steuertheoretischen Literatur eine Reihe unterschiedlicher Zielsetzungen auf unterschiedlichen Ebenen zugewiesen. Steuern sollen zunächst einen fiskalischen Zweck erfüllen und ausreichend Aufkommen zur Finanzierung der Aufgaben der öffentlichen Hand erzielen. Sie sollen einfach, leicht administrierbar, transparent und praktikabel sein, sodass Steuererhebungs- und -befolgungskosten für Steuerpflichtige und Steuerverwaltung minimiert werden. Steuern sollen ökonomische Entscheidungen auf sonst effizienten Märkten (etwa Entscheidungen der Unternehmen über Investitionen und Arbeitsnachfrage oder der Individuen über das Arbeitsangebot) nicht verzerren. Tritt dagegen Marktversagen auf, etwa in Form negativer Externalitäten (wie Umweltverschmutzung), so können Steuern Lenkungszwecke erfüllen, indem sie die mit negativen Externalitäten verbundenen Konsum- oder Produktionsaktivitäten verteuern und auf diese Weise eindämmen.
Darüber hinaus können Steuern die Stabilisierungsaufgabe des Staates unterstützen: Als automatische Stabilisatoren oder in Form von diskretionären Steueränderungen können sie im konjunkturellen Abschwung oder einer Rezession zur Konjunkturbelebung sowie in einer konjunkturellen Überhitzung (Boom) zur Konjunkturdämpfung eingesetzt werden. Auch (notwendigerweise normative) Gerechtigkeitsüberlegungen spielen eine Rolle: Aus ihnen können sowohl die Zielsetzung einer "gerechten" Verteilung der Steuerlast als auch die Forderung nach dem Einsatz von Steuern als Umverteilungsinstrument abgeleitet werden. Schließlich gewinnt das Ziel der Beachtung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit beziehungsweise der internationalen Rahmenbedingungen aufgrund der zunehmenden internationalen Integration von Kapital- und Gütermärkten an Bedeutung.
Aus den skizzierten langfristigen gesellschaftlichen Herausforderungen lassen sich vertiefend folgende gesellschaftliche Zielsetzungen für Steuern als Instrumente gesellschaftlicher Steuerung ableiten:
"eine verteilungsbewusste Ausgestaltung von Steuersystemen (Abmilderung der steigenden Spreizung der Primärverteilung von Einkommen und Vermögen);
eine ökologisch verträgliche Ausgestaltung von Steuersystemen (Einsatz von Steuern als umweltpolitisches Instrument und Verzicht auf ökologisch kontraproduktive steuerliche Regelungen);
eine beschäftigungsförderliche Ausgestaltung von Steuersystemen, vorwiegend durch den Verzicht auf steuerliche Regelungen mit einer dämpfenden Wirkung für Arbeitsangebot beziehungsweise -nachfrage;
eine gleichstellungsförderliche Ausgestaltung von Steuersystemen, primär die Beseitigung von steuerlichen Hindernissen für die Gleichstellung von Frauen und Männern".
Aktuelle Ausgestaltung und Wirkungen
Im Folgenden werden in der gebotenen Kürze einige aktuelle relevante europäische Trends sowie die spezifischen Entwicklungen in Deutschland und Österreich skizziert.
Entwicklung des Umverteilungspotenzials der europäischen Abgabensysteme.
Generell hat die Umverteilungswirkung der europäischen Steuersysteme längerfristig tendenziell eher abgenommen. Hohe Einkommen und Vermögen wurden tendenziell entlastet, sodass die Steuerpolitik die steigende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen eher gefördert hat, anstatt ihr entgegenzuwirken. Dieser Trend ist allgemein in den entwickelten Industrieländern zu beobachten.
Erstens wurde die gesamte Progressivität der persönlichen Einkommensbesteuerung reduziert. EU-weit wurden die Spitzensteuersätze in der Einkommensteuer gesenkt: im Durchschnitt der EU 27 zwischen 1995 und 2012 um neun Prozentpunkte auf 38,3%.
Gleichzeitig sind in fast allen EU-Ländern die Einkommensteuersysteme mehr oder weniger konsequent dualisiert worden: Alle oder zumindest ein Teil der Kapitaleinkünfte (Einkünfte aus Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinnen) werden mit einem einheitlichen Kapitalertragsteuersatz an der Quelle besteuert, unterliegen also – anders als Arbeits- und sonstige Einkünfte – nicht mehr der progressiven Einkommensteuer. Obwohl im Rahmen der jüngsten Konsolidierungspakete die Kapitalertragsteuern in einer Reihe von EU-Ländern erhöht wurden, liegt der durchschnittliche Steuersatz für Kapitaleinkünfte (bildet man einen Durchschnitt aus den Steuersätzen für Zinserträge, Dividendeneinkünfte und Veräußerungsgewinne) in der EU 27 mit 25,6% deutlich unter dem durchschnittlichen Niveau der Spitzensteuersätze (EU 27: 38,3%). Darüber hinaus wenden sieben EU-Länder (Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, Tschechien und Ungarn) statt einer direkt progressiven Einkommensteuer eine Flat Tax mit einem relativ geringen Einheitssteuersatz an.
Zweitens ist auch das Umverteilungspotenzial der vermögensbezogenen Steuern langfristig gesunken.
Drittens wurde die Umverteilungswirkung der europäischen Abgabensysteme auch durch einen steigenden Anteil der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer, welche die unteren Einkommen vergleichsweise höher belastet als die oberen, an den gesamten Abgabeneinnahmen abgeschwächt.
Ökologisierung der europäischen Abgabensysteme.
In einigen europäischen Ländern wurden in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre (auch) ökologisch orientierte Abgabenstrukturreformen eingeführt. Sie hatten das Ziel, eine doppelte Dividende zu verwirklichen: die Erzielung einerseits von positiven Umwelteffekten durch die Anhebung von Umweltsteuern und andererseits von positiven Beschäftigungseffekten durch die Verwendung der zusätzlichen Umweltsteuereinnahmen zur beschäftigungsförderlichen Abgabenentlastung des Faktors Arbeit.
Umweltbezogene Steuern haben in der EU 27 nach einem tendenziellen Bedeutungsverlust seit Mitte der 2000er Jahre – gemessen an ihrem Anteil an den Gesamtabgabeneinnahmen – in den vergangenen Jahren wieder etwas an Gewicht zugelegt und machten 2010 im Durchschnitt 7,4% der Gesamtabgabeneinnahmen aus.
Gleichzeitig werden in vielen Ländern nach wie vor in substanziellem Umfang ökologisch kontraproduktive Subventionen vergeben, die auch Steuerermäßigungen mit negativen Umweltwirkungen umfassen. So schätzt die OECD das Volumen von Subventionen für Produktion und Verwendung fossiler Brennstoffe für 24 OECD-Länder auf 45 bis 75 Milliarden US-Dollar.
Beschäftigungs- und Gleichstellungswirkungen von Steuern und Abgaben.
Eine Vielzahl von empirischen Studien legt nahe, dass für bestimmte Gruppen am Arbeitsmarkt ein signifikanter Einfluss von Steuern und Abgaben auf das Arbeitsangebot gegeben ist.
Mithilfe von Simulationsstudien kann darüber hinaus gezeigt werden, dass die gemeinsame Besteuerung von Ehepaaren (Ehegattensplitting) die Erwerbsbeteiligung von Frauen gegenüber einer Individualbesteuerung reduziert. Würde das Ehegattensplitting in Deutschland – wie in der weitaus überwiegenden Mehrheit von Industrieländern üblich – durch die individuelle Besteuerung beider Partner ersetzt, so stiege die Partizipationsrate von Frauen beziehungsweise Müttern, während sich je nach Modellannahmen die Erwerbsbeteiligung von Männern reduzierte.
Generell haben Steuern und Abgaben auf Arbeitseinkommen (im Wesentlichen Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträge) rein quantitativ einen hohen Stellenwert in den europäischen Abgabensystemen. Ihr Anteil am gesamten Abgabenaufkommen nahm zwischen 1995 und 2010 geringfügig von 48,1% auf 47,3% im Durchschnitt der EU 27 ab, wobei in den vergangenen Jahren ein leichter Wiederanstieg zu beobachten war.
Langfristig haben manche Industrieländer die Abgabenlast gerade für die unteren Einkommen reduziert, um die Arbeitsanreize in diesem Segment, das besonders stark auf das Niveau von Steuern und Abgaben reagiert und in dem Frauen überrepräsentiert sind, zu erhöhen.
Effektivere gesellschaftliche Steuerung
Zur Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen kann auch die Steuerpolitik einen wesentlichen Beitrag leisten. Ökologisch nachhaltige, verteilungssensible sowie beschäftigungs- und gleichstellungsförderliche (aufkommensneutrale) Umstrukturierungen der Abgabensysteme beruhen auf drei Eckpunkten.
Steuern sollten erstens wieder stärker als Umverteilungsinstrument genutzt werden. Jüngste empirische Studien der OECD
Vor allem im Bereich der derzeit häufig relativ gering besteuerten Kapitaleinkommen besteht in vielen Ländern – auch in Deutschland und Österreich, wo Kapitalerträge mit 25 Prozent besteuert werden – Spielraum nach oben. So hat Frankreich 2013 den proportionalen Steuersatz von 19 Prozent auf Kapitaleinkommen abgeschafft und bezieht diese in die reguläre progressive Einkommensbesteuerung mit einem Spitzensteuersatz von 45 Prozent ein.
Zweitens müssen zur Erreichung der Klima- sowie weiterer Umweltziele klima- und umweltschädliche Konsum- und Produktionsaktivitäten weltweit massiv eingeschränkt werden, was den verstärkten Einsatz umweltpolitischer Instrumente erfordert. Umweltbezogene Steuern sind wegen ihrer Marktkonformität ein unverzichtbares Element im umweltpolitischen Instrumentenkasten.
Drittens ist die Senkung der Abgaben auf die Arbeit insbesondere im unteren und mittleren Einkommensbereich sowohl beschäftigungs- als auch gleichstellungsförderlich. Zur Förderung der Frauenerwerbsbeteiligung – nicht nur ihrer Arbeitsmarktpartizipation, sondern auch von Vollzeit- beziehungsweise Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen mit hoher Wochenstundenzahl – ist zudem der Abbau von steuerlichen Hemmnissen erforderlich: Hier wird in Deutschland der Ersatz des Ehegattensplittings durch ein Individualsteuersystem diskutiert, in Österreich der Abbau von steuerlichen Barrieren für den Wechsel von geringfügigen in reguläre Beschäftigungsverhältnisse mit einer relativ hohen wöchentlichen Arbeitszeit.
Auf dem Weg hin zu einem ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltigeren Wachstums- und Entwicklungspfad sind viele Politikbereiche gefragt. Der Steuerpolitik kann und sollte jedoch künftig wieder eine aktivere Rolle zur Erreichung gesellschaftlicher Zielsetzungen zukommen.