Verteilungsfragen haben in den steuer- und sozialpolitischen Debatten der vergangenen Jahre wieder an Gewicht gewonnen. Tatsächlich ist die ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre gewachsen. Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen legten im Trend zu, während die Masseneinkommen stagnierten und die niedrigen Erwerbseinkommen gesunken sind. Die Umverteilungswirkung von Steuern und sozialen Sicherungssystemen hat diese Wirkungen gemildert, ist aber ebenfalls leicht reduziert worden. Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen wurden gesenkt, die indirekten Steuern angehoben und Sozialtransfers abgebaut. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Notwendigkeiten der Haushaltskonsolidierung durch Finanzkrise und Schuldenbremse ist in den vergangenen Jahren die Forderung nach höheren Steuern auf hohe Einkommen oder Vermögen lauter geworden.
Zunehmende Einkommensungleichheit
Die zuverlässigste Quelle zur Entwicklung der Einkommensverteilung am aktuellen Rand und im Zeitverlauf ist das Sozio-oekonomische Panel (SOEP).
Ausgangsgröße für die Einkommensverteilung sind die Markteinkommen der Haushalte, also die Erwerbs- und Vermögenseinkommen vor staatlichen Steuern und Transfers. Hier zeigt sich ein spürbarer Anstieg der Einkommensungleichheit von 1991 bis Mitte der 2000er Jahre, gemessen am Gini-Koeffizienten, dem Standardmaß für die Einkommensungleichheit (vgl. Abbildung 1 in der PDF-Version 1).
In Ostdeutschland war der Anstieg ausgeprägter, aber auch im Westen gingen die Einkommen auseinander, vor allem von 1999 bis 2005. Maßgebliche Gründe für diese Entwicklung sind die steigende Arbeitslosigkeit, geringe Zuwächse bei den Lohneinkommen und staatlichen Transfers, eine Spreizung der Lohneinkommen sowie steigende Unternehmens- und Vermögenseinkommen, die vor allem bei den wohlhabenden Haushalten konzentriert sind. Ferner wurde die Einkommensungleichheit moderat erhöht durch Veränderungen in der Haushaltsstruktur, etwa Zuwächse bei den Single-Haushalten oder von Alleinerziehenden, sowie durch steigende Teilzeitarbeit.
Detailliertere Untersuchungen unter Einbeziehung der Top-Einkommen aus der Einkommensteuerstatistik zeigen, dass von 1992 bis 2005 nennenswerte reale Einkommenszuwächse nur bei den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung angefallen sind.
Steuerlastverteilung: moderat progressiv
Bei den verfügbaren Haushaltseinkommen, also den Nettoeinkommen nach der staatlichen Umverteilung durch Sozialtransfers (wie Renten, Arbeitslosengeld, Grundsicherung und andere staatliche Geldleistungen) sowie Steuern und Sozialabgaben, ist der Anstieg der Einkommensungleichheit bis 2005 weniger ausgeprägt, aber ebenfalls spürbar, vor allem im Zeitraum seit 1999 (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version). Die staatliche Umverteilung konnte also die zunehmende Einkommensungleichheit teilweise auffangen. Allerdings hat die Umverteilungswirkung des Steuer- und Transfersystems leicht abgenommen. Die Steuerreformen seit Mitte der 1990er Jahre haben hohe Einkommen und Vermögen entlastet. Die Vermögensteuer wird nicht mehr erhoben, die Einkommensteuerspitzensätze sowie die Unternehmensteuern wurden gesenkt und die Kapitalerträge werden seit 2009 nur noch mit pauschal 25 Prozent Abgeltungsteuer belastet.
Ferner wurden die indirekten Steuern mehrfach angehoben. Dies betrifft vor allem die Mehrwertsteuer, aber auch die Energiesteuern. Diese Steuern wirken "regressiv" bezogen auf die verfügbaren Einkommen, das heißt, sie belasten die armen Haushalte in Relation zum Einkommen deutlich stärker als die wohlhabenden Haushalte, die einen größeren Teil ihres Einkommens sparen und einen geringeren Anteil für Energie ausgeben.
Die Sozialreformen haben dagegen die Ungleichheit nur wenig beeinflusst. So hat etwa die Einführung der Grundsicherung 2005 zwar für viele Bezieher der früheren Arbeitslosenhilfe finanzielle Nachteile gebracht. Zugleich wurden aber die Grundsicherungsleistungen teilweise ausgeweitet.
Analysen zur Steuerlastverteilung zeigen, dass die Einkommensbesteuerung tatsächlich deutlich progressiv ist, also bei höheren Einkommen steigende Steuerbelastungen bewirkt.
Allerdings sind die Steuerbelastungen der Topverdiener durch die Steuersenkungen bis 2005 spürbar gesunken. Die Einkommen- und Unternehmensteuern machen zudem nur die Hälfte des gesamten Steueraufkommens aus. Die andere Hälfte entfällt auf die indirekten Steuern, die in den vergangenen Jahren gestiegen sind. Diese belasten die ärmeren Bevölkerungsschichten relativ gesehen stärker. Daher ist die gesamte Steuerlastverteilung nur moderat progressiv.
Vermögen stark konzentriert
Die Vermögen sind wesentlich stärker konzentriert als die Einkommen. Das gilt jedenfalls für die Sach- und Finanzvermögen im engeren Sinne wie Immobilien-, Geld- und Finanzvermögen, Unternehmensbeteiligungen, abzüglich Schulden auf die Vermögenswerte (Nettovermögen). So ergeben Analysen auf Grundlage des Sozio-oekonomischen Panels einschließlich einer Zuschätzung für die sehr wohlhabenden Personen, dass vom gesamten Nettovermögen der privaten Haushalte (ohne Altersvorsorgevermögen und Hausrat) im Jahr 2007 zwei Drittel auf die reichsten zehn Prozent entfallen, 36 Prozent auf die reichsten ein Prozent und noch 23 Prozent auf die reichsten 0,1 Prozent.
Höhere Vermögen dieser Art vermitteln Sicherheit, Unabhängigkeit sowie gegebenenfalls auch wirtschaftlichen und sozialen Einfluss. Hierin wird häufig eine besondere steuerliche Leistungsfähigkeit gesehen, die eine zusätzliche Besteuerung höherer Vermögen oder Vermögenseinkommen begründen kann. Die Vermögensverteilung im weiteren Sinne, bei der auch die Lohneinkommen zum "Humankapital" oder die Sozialtransfers zum "Sozialvermögen" kapitalisiert werden, nähert sich naturgemäß der Einkommensverteilung an.
Vorschläge für höhere "Reichensteuern"
Vor dem Hintergrund der gestiegenen Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen sowie angesichts der Notwendigkeiten der Haushaltskonsolidierung durch Finanzkrise und Schuldenbremse werden in den vergangenen Jahren höhere "Reichensteuern" vorgeschlagen. Mögliche Anknüpfungspunkte hierfür sind der Einkommensteuerspitzensatz, die Unternehmen- und Kapitaleinkommensteuern, die Erbschaftsteuer, die Wiederbelebung der Vermögensteuer oder der Erhebung einer einmaligen Vermögensabgabe. Inzwischen gibt es sogar Initiativen von Millionären, die höhere Steuern auf höhere Einkommen und Vermögen für gerechtfertigt halten.
Beim Spitzensatz der Einkommensteuer dürfte es in Deutschland wieder Spielraum nach oben geben.
Allerdings werden die "wirklich Reichen" mit "millionenschweren" Unternehmensbeteiligungen von einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes nicht belastet. Denn die Gewinne von Kapitalgesellschaften unterliegen auf Unternehmensebene nur der Gewerbe- und Körperschaftsteuer und werden bei der Ausschüttung an die Inhaber nur noch mit 25 Prozent Abgeltungsteuer plus Solidaritätszuschlag belastet. Die progressive Belastung der Kapitaleinkünfte bei der persönlichen Einkommensteuer wurde 2009 abgeschafft. Wer also die hohen Einkommen stärker belasten will, muss diese Regelungen ändern oder hohe Vermögen belasten.
Angesichts der starken Vermögenskonzentration können Steuern auf hohe Vermögen oder Vermögenseinkünfte ein spürbares Steueraufkommen erzielen, auch wenn sie mit hohen Freibeträgen auf die wirklich Wohlhabenden beschränkt werden.
Wirtschaftliche Wirkungen beachten, Steuervermeidung einschränken
Kritiker von "Reichensteuern" befürchten Anpassungs- und Ausweichreaktionen der Steuerpflichtigen, die das Mehraufkommen begrenzen und nachteilige wirtschaftliche Wirkungen auslösen. Dies ist auch der Grundgedanke der berühmten "Laffer-Kurve", die seit den 1980er Jahren die steuerpolitischen Debatten stark beeinflusst hat.
Neuere empirische Studien zeigen, dass es tatsächlich spürbare Anpassungsreaktionen geben kann, die das Mehraufkommen bei Steuererhöhungen begrenzen.
Die meisten Steuergestaltungsmöglichkeiten sind aber nicht naturgegeben. Sie beruhen auf Unzulänglichkeiten bei der Einkommensermittlung und beim Vollzug der Besteuerung, expliziten Steuervergünstigungen oder Steuerarbitrage zwischen Gebietskörperschaften. Diese Unzulänglichkeiten können zumindest längerfristig weiter begrenzt werden, politischer Wille und steuertechnische Möglichkeiten vorausgesetzt. Hieran hat die Steuerpolitik in den vergangenen Jahren bereits gearbeitet. Angesichts der zunehmenden Internationalisierung erfordert dies auch eine stärkere internationale Koordinierung der Steuerpolitik und Zusammenarbeit der Finanzbehörden.