Der deutsche Steuerstaat, so hört und liest man, stecke in einer Krise. Steuerhinterziehung, Steuerflucht und Schattenwirtschaft nähmen zu; Internationalisierung und Europäisierung der Steuerpolitik ließen den Staat "zerfasern". Um die aktuellen Probleme zu erfassen, die von vergangenen finanzpolitischen Entscheidungen herrühren, muss man den langen Aufstieg des Steuerstaats verfolgen. Dieser erstreckte sich über etwa vier Jahrhunderte, verlief weder gradlinig noch kontinuierlich und blieb trotz seiner "Pfadabhängigkeit" zukunftsoffen.
Steuer und Staat bedingen sich wechselseitig: Moderne Staatlichkeit und Besteuerung sind von Anfang an miteinander verknüpft. Das drückt der Begriff "Steuerstaat" aus. Als einer der ersten verwendete ihn 1895 der Finanzwissenschaftler Albert Schäffle. Der Steuerstaat finanziere sich, indem er die private Wirtschaft mit Abgaben belege. Das mache die Besteuerung zu einer eminent politischen Frage, bedürfe jene doch zu ihrer Legitimation einer Vertretung und Mitwirkung der Besteuerten. Auch bleibe, wie immer sich das Verhältnis von Finanz- und Privatwirtschaft ausforme, der Steuerstaat von dieser abhängig. Der Nationalökonom Joseph Schumpeter nahm Schäffles Gedanken auf und trug entscheidend dazu bei, den Begriff Steuerstaat in der Wissenschaft zu etablieren. Dessen Inhalt blieb freilich ungenau, führte es doch kaum weiter, darunter einen Staat zu verstehen, der sich überwiegend durch Steuern finanziert. Obwohl mehrfach versucht wurde, den Terminus präziser zu fassen, fehlt bis heute eine allgemein verbindliche Definition. Eine solche könne es gar nicht geben, meint der Staatsrechtler Josef Isensee. Denn als "Staatstypus" sei der Steuerstaat "zugleich Ergebnis wie Ursache einer bestimmten, geschichtlich gewachsenen Ordnung von Staat und Wirtschaft".
Anfänge
Die Anfänge des Steuerstaats fallen in das 16. und 17. Jahrhundert, in eine Zeit der Krisen und Kriege, die geprägt war durch Reformation und Gegenreformation, "Türkengefahr" und Dreißigjährigen Krieg, wirtschaftliche Probleme und soziale Konflikte. Die wachsenden Herausforderungen zwangen die Territorialstaaten, nach außen wie nach innen nicht nur mehr, sondern auch neue Aufgaben zu übernehmen und dazu innovative Formen der Finanzierung zu erproben. Dabei entwickelten sie eigene Ideen und griffen auf Anregungen von außen zurück. In diesem kompetitiven und imitativen Prozess, den ein Transfer von Wissen und Personen begleitete, entstand der Steuerstaat.
Zwar galt noch bis ins 19. Jahrhundert die Rechtsauffassung, der Herrscher habe die Ausgaben für sich, den Hof und die Regierung des Landes aus den Erträgen des Kammerguts zu bestreiten. Dazu zählten nicht nur die Einnahmen aus Domänen, Forsten und anderen Gütern (also die Erwerbseinkünfte in heutiger Terminologie), sondern auch jene aus nutzbaren Rechten wie dem Maut-, Zoll-, Münz- und Bergregal sowie aus den landesherrlichen Monopolen etwa bei Salz oder Tabak. Nur wenn diese Kameraleinkünfte nicht ausreichten, durfte ein Herrscher Steuern erheben, und das geschah anfangs nur in Not- und Ausnahmefällen wie Kriegen oder Katastrophen. Auf jeden Fall benötigte der Regent dafür die Zustimmung der Steuerzahler oder ihrer Vertreter, der Landstände. Wegen des steigenden Bedarfs der stehenden Heere und wachsenden Bürokratien sowie der expandierenden öffentlichen Aufgaben wandelte sich die Steuer allmählich von einer subsidiären, unregelmäßigen und freiwilligen zu einer am Ende unverzichtbaren ständigen Zwangsabgabe.
Die territorialstaatlichen Steuersysteme entwickelten sich vielgestaltig, wiesen aber einige Gemeinsamkeiten auf. So lasteten die direkten Steuern – unter Bezeichnungen wie Kontribution, Schatzung oder Landsteuer erhoben – überwiegend auf dem Grundbesitz. Das entsprach zwar der Steuerkraft in einer agrarischen Wirtschaft, begünstigte aber Gewerbe, Handel und Kapital. Auch regional waren die Steuern ungleich verteilt. Zudem genossen Adel und Klerus Steuerprivilegien. Solange aber solche großen Unterschiede in der Abgabenbelastung bestanden, ließ sich das Aufkommen der Steuern nur begrenzt steigern, wollte man nicht Teile der Pflichtigen überbürden. So wichen die Territorialstaaten auf Verbrauch- und Verkehrsteuern aus, die in unterschiedlicher Form und unter mannigfachen Bezeichnungen erhoben wurden. Solche indirekten Steuern waren weniger spürbar und doch ergiebig, trafen auch die Privilegierten und ließen sich, oft an den Landständen vorbei, leichter durchsetzen und ausgestalten.
Durchbruch
In der deutschen Staatenwelt des Ancien Régime sind bis ins ausgehende 18. Jahrhundert nur Frühformen des Steuerstaats auszumachen. Erst in den Jahrzehnten um 1800 erfolgte dessen Durchbruch, wiederum in einer Zeit der Krisen und Kriege. Eine Finanzkrise hatte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts abgezeichnet. In vielen Territorien des Heiligen Römischen Reichs stiegen die Ausgaben rascher als die Einnahmen, wachsende Haushaltsdefizite und Schulden waren die Folge. An den Rand des Bankrotts gerieten die Staaten durch die Revolutions- und napoleonischen Kriege, die von 1794 an über zwei Jahrzehnte fast ununterbrochen geführt wurden. Hinzu kamen die Gebietsveränderungen, welche die französische Expansion auf dem Kontinent mit sich brachte. Nicht zuletzt zwang das nachrevolutionäre Frankreich die deutschen Staaten zu einschneidenden Reformen, wollten sie sich im napoleonischen Europa behaupten.
Die Finanzreformen beruhten teils auf eigenen Plänen, teils orientierten sie sich am Vorbild des französischen Finanz- und des englischen Steuersystems. Im Zentrum der Reformen stand das Steuerwesen. Dass die Steuerprivilegien fallen sollten, entsprach den Idealen der Zeit. Breiter und gleichmäßiger, mithin gerechter verteilte Abgaben ließen sich gegenüber dem Steuerzahler besser rechtfertigen und brachten auch mehr ein. Außerdem vereinheitlichten und vereinfachten die Reformer das historisch gewachsene, vielgestaltige, durch die Gebietsveränderungen noch unübersichtlicher gewordene Steuersystem. Überall im Staat sollten dieselben, dabei möglichst wenige und ergiebige Steuern erhoben sowie nach der Leistungsfähigkeit der Pflichtigen bemessen werden. Glichen sich die Ziele, wiesen die Ergebnisse der Steuerreform erhebliche Unterschiede auf.
Die süddeutschen Staaten setzten unter französischem Einfluss auf Objektsteuern, die den reinen Ertrag von Liegenschaften, Gebäuden und Gewerben zum Maßstab steuerlicher Leistungsfähigkeit nahmen. Diese Ertragsteuern wurden durch eine Personalsteuer ergänzt, mit der die Einkünfte von Beamten und freiberuflich Tätigen, aber auch Pensionen und Kapitalerträge erfasst werden sollten. Zu den direkten kamen indirekte Steuern wie Zölle und spezielle Verbrauchsteuern zumeist auf alkoholische Getränke.
In Preußen blieb eine ähnlich durchgreifende Reform aus. Hier wurden die Steuerfreiheiten erst im Laufe des 19. Jahrhunderts schrittweise abgebaut. Zudem ließen sich die unterschiedlichen Steuersysteme weder vereinheitlichen noch zu einer Ertragbesteuerung fortbilden. Der Versuch, statt einer solchen Objekt- eine Einkommen- als Personalsteuer nach englischem Vorbild einzuführen, scheiterte an erhebungstechnischen Schwierigkeiten. Die Zeit war noch nicht reif. Übrig blieb eine nach äußeren Merkmalen in fünf Klassen gestaffelte Personalsteuer. Während diese Klassensteuer nur auf dem Land erhoben wurde, fiel in den Städten die Mahl- und Schlachtsteuer auf den Konsum von Brot, Backwaren und Fleisch an. Hinzu kamen spezielle Verbrauchsteuern auf alkoholische Getränke, Tabak und Salz sowie an den Grenzen erhobene Zölle. Insgesamt führte das Steuersystem weniger aus den gewohnten Bahnen heraus als in den süddeutschen Staaten. Dafür ersparte sich Preußen zeitaufwendige und kostspielige Reformen, die nicht ohne Widerstand der Besteuerten umgesetzt worden wären.
Bei allen Unterschieden waren im Norden wie Süden der deutschen Staatenwelt um 1800 in einer "Finanziellen Revolution" die Grundlagen moderner öffentlicher Finanzen und mit ihnen eines Steuersystems gelegt worden, das die Prinzipien von Allgemeinheit und Gleichheit sowie der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu verwirklichen suchte. Auf dieser Linie entwickelten sich die Steuersysteme in den folgenden Jahrzehnten weiter: im Süden mit einem Schwerpunkt auf Objekt-, im Norden mehr auf Personalsteuern.
Im Ancien Régime hatte die Macht der Landstände auf einem Zusammenspiel von Steuern, Kredit und Repräsentation beruht. Nachdem diese mit dem Heiligen Römischen Reich 1806 untergegangen, die deutschen Staaten souverän sowie zu einer eigenen Rechtsperson geworden waren und sich die Finanzgewalt in der Hand des Staats konzentriert hatte, mussten neue Institutionen und Verfahren gefunden werden, um Eingriffe in das Eigentum der Bürger zu legitimieren. Deshalb gaben sich die süddeutschen Staaten, voran Bayern, Württemberg und Baden, zwischen 1818 und 1820 Verfassungen. Diese räumten einer Volksvertretung das Recht ein, Steuern wie Kredite zu bewilligen und dazu den Staatshaushalt zu prüfen.
Einige norddeutsche Staaten zogen in den 1830er Jahren nach, während Preußen erst in der Revolution 1848/1849 in den Kreis der konstitutionellen Staaten aufstieg. Zwar kam es um die Zustimmungs- und Mitwirkungsrechte der Parlamente noch zu heftigen Auseinandersetzungen, die etwa im preußischen Verfassungskonflikt der 1860er Jahre kulminierten; auf lange Sicht aber sorgten die Parlamente dafür, dass die Abgaben sich trotz aufflammender Steuerproteste und verbreiteter Steuerhinterziehung zu einer akzeptierten Form öffentlicher Finanzierung entwickelten.
Expansion
Die Wendeepoche am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert löste eine Expansion des Steuerstaats aus. Möglich wurde diese zum einen durch eine "Aufholjagd" der Staaten, zum anderen durch eine Zentralisierung des Finanz- und Steuersystems sowie schließlich durch einen Funktionswandel der Finanz- und Steuerpolitik. Mit einer "Aufholjagd" wollten sich die Staaten aus dem Dilemma befreien, in das sie die Industrialisierung zu bringen drohte. Denn die Umstellung der Wirtschaft auf fabrikmäßige Produktion und die sozialen Folgen, welche diese zeitigte, luden ihnen einerseits viele neue Aufgaben auf, sodass die öffentlichen Ausgaben rapide anstiegen. Andererseits erlaubten weder die Ertragsteuersysteme im Süden noch die Personalbesteuerung im Norden, dass die Einnahmen mit dem Wachstum der Wirtschaft Schritt hielten. Hier wie dort zwangen die wachsenden Ausgaben dazu, eine moderne Einkommensteuer einzuführen.
Den Anfang machte 1878 das industrialisierte Sachsen. Preußen folgte 1891/1893 mit der Miquelschen Finanzreform. Die neu eingeführte Einkommensteuer erfasste mit einer geänderten Veranlagungs- und Erhebungstechnik alle Arten von Einkommen, die den Steuerpflichtigen aus genau bezeichneten Quellen zuflossen. Zugleich setzte sich mit einer noch milden Progression der Steuersätze von 0,7 bis 4 Prozent, einem steuerfreien Existenzminimum und der Möglichkeit steuermindernder Abzüge das Prinzip durch, alle Besteuerten nach ihrer individuellen Leistungsfähigkeit zu veranlagen. Preußen wurde mit dieser Reform zum Vorbild für viele Staaten mit Ertragsteuern, die sich nur zögerlich für die neue Besteuerung entschieden. Den Anfang machte Baden 1884. Die Einkommensteuer sollte eigentlich nur die Ertragsteuern ergänzen, entwickelte sich aber rasch zur wichtigsten Steuer. In Württemberg verlief die Entwicklung nach 1903 ähnlich. Nur Bayern hielt noch lange an seinen Ertragsteuern fest und ergänzte diese erst 1912 durch eine Einkommensteuer.
Mit der Besteuerung des Einkommens koppelten sich die Staaten an die Dynamik der Wirtschaft an. Gleiches bewirkte die Umsatzsteuer, die im Ersten Weltkrieg als Bruttoallphasensteuer in Höhe von 0,5 Prozent eingeführt und bis zur Umstellung auf ein Mehrwertsteuersystem in der Bundesrepublik 1967 erhoben wurde. Mit Einkommen- wie Umsatzsteuer erschlossen sich die Staaten ergiebige Steuerquellen, die das Aufkommen, vor allem aber den Anteil der Steuern an den Staatseinnahmen weiter steigerten.
Zentralisierung des Steuersystems
Dagegen folgte die Verteilung der Steuern auf Gemeinden, Bundesstaaten und Zentralstaat, seit 1871 das Deutsche Reich, weiterhin der föderalen Tradition. Diese wies dem Reich die weniger ergiebigen Verbrauch-, den Einzelstaaten dagegen die ertragreiche Einkommensteuer zu. Erst die desolate Lage der öffentlichen Finanzen in der Weimarer Republik zwang dazu, das Finanz- und Steuersystem zu zentralisieren. Im Ersten Weltkrieg war die deutsche Gesellschaft verarmt und ein Schuldenberg von 150 Milliarden Mark aufgehäuft worden. Zu Buche schlugen außerdem die Kosten der Demobilmachung, die territorialen und wirtschaftlichen Verluste durch den Versailler Vertrag sowie die Leistungen für die Kriegsopfer und die Reparationszahlungen an die Alliierten. Die finanziellen Folgen des verlorenen Kriegs verlangten mehr staatliche Interventionen, trieben den Anteil der öffentlichen Ausgaben am Volkseinkommen in die Höhe und vergrößerten das Defizit in den Haushalten.
Um die entstandenen Probleme zu lösen, peitschte Reichsfinanzminister Matthias Erzberger zwischen Juli 1919 und März 1920 ein Reformpaket durch die Entscheidungsgremien, welches das Finanz- und Steuersystem von Grund auf umgestaltete. An die Stelle des herrschenden Finanzföderalismus trat ein entschiedener Unitarismus. Künftig lag die Finanzhoheit beim Reich, sodass sich jetzt unter dem Reichsfinanzministerium eine zentrale Finanzverwaltung organisieren ließ. Diese sorgte dafür, dass alle Abgaben nach einheitlichen Prinzipien, Verfahren und Sätzen erhoben werden konnten.
Zum anderen änderte sich die Verteilung der Steuern. Von nun an hingen die Länder, die den Zugriff auf die Einkommensteuer eingebüßt hatten, am Tropf des Zentralstaats und nicht mehr dieser an ihrem. Erzberger schnürte ein Bündel aus neuen und bestehenden, aber gründlich umgearbeiteten Steuern. Dazu zählten die Kriegsabgaben vom Einkommen- beziehungsweise Vermögenszuwachs, vor allem aber das "Reichsnotopfer", eine progressive Vermögensteuer mit Spitzensätzen von 65 Prozent.
Zu den einmaligen kamen laufende Abgaben: eine zupackende Erbschaftsteuer, weitere Verbrauchsteuern und nicht zuletzt die neu gestaltete Reichseinkommensteuer. Diese erfasste das Einkommen natürlicher Personen sowie die Kapitalerträge und die Gewinne von Kapitalgesellschaften mit einem scharf progressiven Tarif, dessen Sätze von 10 auf 60 Prozent stiegen. Die Steuern dienten nicht nur fiskalischen Zielen; sie sollten auch für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen und so für die junge Republik werben.
Funktion der Steuerpolitik
Die Expansion des Steuerstaats beruhte nicht nur auf der Einkommen- und Umsatzsteuer sowie der Zentralisierung des Finanz- und Steuersystems, sondern auch auf einer veränderten Funktion der Finanz- und Steuerpolitik. Ausgaben wie Einnahmen des Staats, zumal die Steuern, wirkten stets auf Wirtschaft und Gesellschaft ein. Diese Effekte standen aber lange Zeit nicht im Zentrum der Finanzpolitik. Bewusst und in größerem Umfang zu einem Mittel der Umverteilung entwickelten sich die Steuern erst seit den 1880er Jahren, zu einem konjunkturpolitischen Instrument seit den 1920er Jahren, vor allem aber seit den 1960er Jahren, und zu einem Hebel der Umweltpolitik am Ende des 20. Jahrhunderts.
Selten entsprachen die intendierten den tatsächlichen Wirkungen. Das galt schon für die Umverteilung. Oft wurden die Steuern nicht von jenen getragen, die sie hätten tragen sollen. Denn wie Steuern wirken, hängt zwar auch von den gesetzlichen Regelungen, mehr dagegen von marktvermittelten Prozessen der Steuerüberwälzung ab. Das begünstigt die "Fiskalillusion", die sich über die umverteilende Wirkung einzelner Steuern und erst recht des ganzen Steuersystems täuscht.
Die Veränderungen in den Jahrzehnten um 1900 ließen ein Finanz- und Steuersystem entstehen, das im Zusammenspiel von Ausgaben, Steuern und Schulden den Anteil des Staats am Sozialprodukt in einem Prozess sich selbsttragenden Wachstums schubweise vergrößerte und zugleich die Rangfolge der öffentlichen Ausgaben veränderte.
Die Expansion des Steuerstaats machte vor politischen Systembrüchen nicht halt. In den Jahren der Weimarer Republik schoss die Entwicklung über die wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Nachkriegszeit hinaus. Denn die Finanzpolitik stand nach 1918 vor einem Dilemma. Sie musste in einer Zeit "relativer" Stagnation, also bei schwachem Wirtschaftswachstum, nicht nur die inneren und äußeren Lasten des verlorenen Kriegs bewältigen, sondern auch die wünschbaren staatlichen Leistungen mit den finanziellen Möglichkeiten in Einklang bringen. Darum prägten nationale wie internationale Verteilungskonflikte die Finanzpolitik und drohten, den Steuerstaat mit Aufgaben zu überlasten und finanziell zu überbürden.
Die politische Polyvalenz und Instrumentalisierbarkeit des Steuerstaats führte die nationalsozialistische Diktatur vor Augen, als sie ihn in den Dienst ihrer Gewalt- und Eroberungspolitik stellte. So wurde nicht nur die Besteuerung an der "nationalsozialistischen Weltanschauung" ausgerichtet, sondern auch für die Verfolgung von Juden in den Dienst genommen. Diese standen bald steuerlich unter Sonderrecht, wurden durch die "Judenvermögensabgabe" von 1938 sowie weitere fiskalische Maßnahmen ausgeplündert und, falls sie emigrieren konnten, durch die Reichsfluchtsteuer und die Devisenbewirtschaftung ihres Vermögens beraubt. Auch andere "Reichsfeinde" unterlagen der steuerlichen Diskriminierung.
Von einem funktionsfähigen, demokratisch legitimierten Steuerstaat lässt sich darum erst für die Jahre der Bundesrepublik sprechen. Dieser knüpfte an das bestehende, durch alliierte Einflüsse modifizierte Steuersystem an und profitierte vor allem vom wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahre. Trotzdem blieb die Dynamik des Steuerstaats zunächst gebremst. Diese brach sich erst im Zeichen einer "Expansionskoalition" seit den 1960er Jahren Bahn, die von der Vorstellung getragen wurde, der Staat müsse mehr öffentliche Güter bereitstellen, um den entstandenen Nachholbedarf zu befriedigen. Es ist bezeichnend für den bundesdeutschen Steuerstaat, dass die Staatsquote in den 1970er Jahren auf fast 50 Prozent sprang, während die Steuerquote nur geringfügig anstieg. Durch höhere Sozialabgaben, vor allem aber eine drastische Ausweitung der Nettokreditaufnahme konnten zwar kurzfristig die öffentlichen Ausgaben erhöht werden, ohne die Steuerschraube anziehen und über die Verteilung der Lasten politische Konflikte riskieren zu müssen. Auf längere Sicht zerstob aber die "Schuldenillusion", da der wachsende Schuldenberg den finanziellen Spielraum von Bund, Ländern und Gemeinden zunehmend einengte, sich zu einer immer schwereren Last entwickelte und zukunftsorientierte, investive Ausgaben blockierte.
Krise des Steuerstaats
Die rund 400-jährige Geschichte der Besteuerung mündet über die Finanzierung der deutschen Einheit und die Bemühungen um Haushaltskonsolidierung seit den späten 1990er Jahren in die Gegenwart und die aktuelle Debatte über die Krise des Steuerstaats. Deren Analyse ist ebenso wenig Aufgabe des Historikers wie ein Blick in die Zukunft. Doch mehren sich für ihn zumindest die Anzeichen, dass das "gute zwanzigste Jahrhundert" des Steuerstaats, also die Zeit seiner scheinbar ungehinderten Expansion, zu Ende geht.
Die Flut an Einsprüchen gegen Steuerbescheide, mittlerweile über drei Millionen pro Jahr, und die bei den Finanzgerichten anhängigen Prozesse deuten darauf hin, dass das Steuersystem den Gerechtigkeitsvorstellungen einer wachsenden Zahl von Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr entspricht und an Legitimität einbüßt. Steuerhinterziehung, Steuerflucht und Schattenwirtschaft weisen in dieselbe Richtung. Demografische Veränderungen, zumal die wachsende Zahl von Rentnerinnen und Rentnern, verstärken den Druck auf den Steuerstaat. Dieser muss sich obendrein der zunehmenden Mobilität des Kapitals und neuen Formen des E-Commerce anpassen sowie auf den internationalen Steuerwettbewerb und die Ausweichstrategien multinationaler Konzerne reagieren. Schließlich ist noch offen, wie stark der Finanzbedarf der erweiterten Europäischen Union wachsen und der nationalstaatliche Handlungsspielraum durch die Europäisierung der Besteuerung schrumpfen wird. Die Debatte über die "Zerfaserung von Staatlichkeit", besonders der Steuerstaatlichkeit, wirft ein Schlaglicht auf diese Probleme.
In der Diskussion über die Krise des Steuerstaats kann der Historiker zumindest darauf verweisen, dass in der Vergangenheit immer wieder, zumal nach Krisen und Kriegen, über die Zukunft des Steuerstaats debattiert worden ist und dieser durch alle drei Wendeepochen hindurch eine erstaunliche Lebens- und Anpassungsfähigkeit bewiesen hat. Es spricht deshalb einiges für den Gedanken, dass sich der Steuerstaat gegenwärtig in einer weiteren Wendeepoche befindet. Solche Epochen, das wusste schon Joseph Schumpeter, sind "stets finanzielle Krisen der jeweils alten Methoden".