Gefragt nach seinen Wünschen für Syrien antwortete Gregorios Yohanna Ibrahim, der syrisch-orthodoxe Erzbischof von Aleppo, am 21. Dezember 2012 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Drei Schritte sind erforderlich. Wer immer regieren wird, muss zum Wohle aller Syrer diese Voraussetzungen erfüllen. Erstens brauchen wir eine gute Regierung und eine Vertretung aller religiösen und ethnischen Gruppen. Zweitens brauchen wir freie Wahlen, und drittens eine Verfassung, die alle Syrer akzeptieren."
In Syrien ist die geltende politische Ordnung, also die Verfassungs- und Rechtsordnung des Staates und seine Symbolik, so eng mit Person und Familie des Präsidenten sowie der herrschenden Baath-Partei verbunden, dass sich aus Perspektive der Opposition das eine nicht mehr von dem anderen trennen lässt. Aus diesem Grund ist der Ruf nach Demokratisierung und Liberalisierung in eine gewaltsame Auseinandersetzung über die politische Ordnung des Gemeinwesens umgeschlagen. In diesem Kampf stehen sich wandelbare, aber miteinander scheinbar unvereinbare, also "antagonistische" Identitäten gegenüber.
Elitenkonflikt im postkolonialen Syrien 1946–1963
Als Syrien 1946 seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangte, war der Staat noch kaum gefestigt. Rein territorial gesehen umfasste sein Gebiet nur einen kleinen Teil dessen, was man noch heute auf Arabisch Bilad al-Scham oder auf Englisch The Syrian Lands nennt, also die ehemaligen syrischen Provinzen des Osmanischen Reiches – ein Gebiet das heute die Länder Syrien, Libanon, Israel, die palästinensischen Gebiete und Jordanien umfasst. Von allen Grenzen, die die Kolonialmächte gezogen hatten, waren die Grenzen zwischen Syrien und der Türkei, dem Libanon sowie Jordanien und Israel besonders schmerzhaft, da sie wirtschaftliche und gesellschaftliche Bindungen durchschnitten, die über Jahrhunderte gewachsen waren.
Ebenso komplex wie die damaligen Grenzfragen waren die politischen Identitäten in der Region nach dem Ersten Weltkrieg. Die Arabische Revolte gegen das Osmanische Reich hatte zunächst Hoffnung auf die Gründung eines gesamtarabischen Nationalstaats geschürt. Aber vor dem Hintergrund der kolonialen Grenzziehungen bekam das Streben nach Unabhängigkeit der neu geschaffenen Territorialstaaten eine höhere Priorität als die Forderung nach unmittelbarer Schaffung eines panarabischen Nationalstaats.
Politisch gesehen wurde der junge syrische Staat von einer kleinen Oligarchie von sogenannten Notabeln beherrscht. Diese entstammten hoch angesehenen städtischen Familien, deren wirtschaftliche Macht auf Großgrundbesitz beruhte.
Gegen die Dominanz dieser Oberschicht formierte sich in den 1940er und 1950er Jahren eine ganze Reihe von ideologisch ausgerichteten Parteien. Sie alle rekrutierten sowohl ihre Anhängerschaft als auch ihre Führungskader aus dem rasch wachsenden höheren Bildungssektor des Landes. Die junge Universität Damaskus und die Amerikanische Universität in Beirut wurden faktisch zu Kaderschmieden einer jungen, hoch politisierten Gegenelite.
In den 1950er und 1960er Jahren wurde der "Kampf um Syrien"
Zwei gegensätzliche politische Ordnungen: die Verfassungen von 1950 und 1973
Die Grundlage für die politische Ordnung Syriens in der Nachkriegszeit entstand bereits in den 1920er und 1930er Jahren. Drei Jahre nach der syrischen Revolte von 1925 wurde eine verfassungsgebende Versammlung gewählt, die mehrheitlich aus den oben beschriebenen Notabeln-Politikern bestand. Diese waren zwar elitär und oligarchisch gesinnt, aber sie waren sich grundsätzlich darüber einig, Syrien als eine "demokratische, liberale und westlich-orientierte Republik" gestalten zu wollen.
Aus Sicht der radikalen Nationalisten stand deshalb eine gründliche Entkolonialisierung der politischen Ordnung Syriens in den 1950er und 1960er Jahren immer noch aus. Somit verstanden sich die Baath-Partei und andere Aktivisten immer noch als antikoloniale Bewegungen. Ihr Ziel war es, die Überreste der kolonialen Ordnung durch eine revolutionäre Neugründung von Republik und Gesellschaft sowie durch die Vereinigung aller arabischen Staaten in einem Einheitsstaat zu beseitigen. 1958 gipfelte dieser Kampf zunächst in der Selbstabschaffung Syriens und der folgenden Verschmelzung des Landes mit Ägypten zur Vereinigten Arabischen Republik – ein Experiment, das allerdings nur bis 1961 Bestand hatte. Wenig später, am 8. März 1963, übernahm schließlich die Baath-Partei die Macht in Syrien und machte sich umgehend daran, den Staat nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Mit der Machtübernahme von Hafis al-Assad 1970 und der Verfassung von 1973 kam dieser Umbau der politischen Ordnung zu einem vorläufigen Ende.
Im historischen Rückblick lassen sich die politisch gegensätzlichen Ordnungsvorstellungen an den Verfassungen von 1950 und 1973 an zwei zentralen Aspekten festmachen. Zum Ersten spielen in der syrischen Verfassung von 1950 die Rechte und Freiheiten der Bürger eine völlig andere Rolle als in der baathistisch geprägten Verfassung von 1973.
Zum Zweiten unterscheidet sich das Demokratieverständnis in den beiden Verfassungen grundlegend. In der Verfassung von 1950 wird die Volkssouveränität an das Lincoln’sche Prinzip der "Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk" sowie an die Verfassung gebunden (Artikel 3). Zusätzlich wird ausdrücklich betont, dass "keine Person oder Gruppe" die Volkssouveränität für sich allein beanspruchen darf. In der späteren Verfassung von 1973 wird jedoch genau dies unter Berufung auf die Revolution getan. Bereits in der Präambel heißt es, dass die Arabisch-Sozialistische Baath-Partei die erste Partei im arabischen Vaterland gewesen sei, "die der arabischen Einheit ihren richtigen revolutionären Inhalt gegeben und den nationalen mit dem sozialistischen Kampf verbunden" habe.
Regime und Opposition seit 1963
An der syrischen Verfassung von 1973 wird deutlich, dass es der Baath-Partei mit ihrer "Revolution von oben"
Dieses Bündnis zwischen Politik und Armee hat in Syrien bis heute Bestand. Der Zusammenhalt wird dabei vor allem durch persönliche Netzwerke sichergestellt. In der Anfangszeit der Baath-Herrschaft basierten diese Netzwerke noch im Wesentlichen auf geteilten politischen Überzeugungen, den Erfahrungen des gemeinsamen politischen Kampfes und persönlicher Loyalität. In den vergangenen Jahrzehnten rückten jedoch familiäre und konfessionelle Bindungen zunehmend in den Vordergrund. Dies führte dazu, dass die Kernelite der politischen Entscheidungsträger in den sicherheitsrelevanten Bereichen aus Verwandten des Präsidenten oder zumindest Angehörigen seiner eigenen konfessionellen Gemeinschaft, der Alawiten, zusammengesetzt ist. Dies hat zu einer deutlichen Überrepräsentation von Alawiten in der Armee und den Geheimdiensten geführt. Die Opposition stellt dieses Missverhältnis insbesondere in Zeiten der intensiven Repression zum Teil lautstark heraus. Nicht zuletzt deswegen hat der gegenwärtige Konflikt um die politische Ordnung eine nicht zu übersehende religiöse beziehungsweise konfessionelle Komponente bekommen.
Diese Konfessionalisierung ist allerdings nur ein Aspekt des Wandels der politischen Identitäten in Syrien. Seit der Machtübernahme der Baath-Partei im Jahr 1963 haben sich die politischen Identitäten von Regime und Opposition kontinuierlich verändert, wobei sie immer antagonistisch aufeinander bezogen blieben. Zu den ersten politischen Opfern der Baath-Herrschaft gehörten die "andersdenkenden Gleichgesinnten". Insbesondere Kommunisten, Nasseristen und die Angehörigen der jeweils unterlegenen Fraktionen der Baath-Partei wurden umgehend ins Gefängnis geworfen oder ins Exil geschickt.
Neben diesen ideologischen Gegensätzen war auch die Entstehung der politischen Identität der Kurden in den Besonderheiten des Baath-Regimes bereits angelegt.
Die Entstehung des Gegensatzes zwischen dem politischen Islam und dem Baath-Regime ist dagegen sehr viel komplexer. Dies liegt zum einen daran, dass sich arabischer Nationalismus und islamische Identität nicht ausschließen. Wortgleich bezeichnen die syrischen Verfassungen von 1950 und 1973 in Artikel 3 den Islam als "Religion des Präsidenten der Republik" und die islamische Jurisprudenz (fiqh) als "eine Hauptquelle der Gesetzgebung". Dennoch beobachteten konservative Muslime den sozialistisch orientierten Nationalismus der Baath-Partei von Anfang an mit Skepsis oder sogar Ablehnung.
Reform oder Revolution?
Durch die enge Verknüpfung der politischen Ordnung des Staates und seiner Symbolik mit der Herrschaft einer bestimmten politischen Gruppe beziehungsweise einzelner Personen war die Ausgangslage in Syrien zu Beginn des "Arabischen Frühlings" grundsätzlich anders als in Tunesien oder Ägypten. In Syrien schien es aus Sicht der Opposition kaum möglich, das Regime zu stürzen und die Verfassungsordnung lediglich zu reformieren.
Auch die reformierte Verfassung von 2012 vermochte die Opposition nicht umzustimmen. Zwar wurde die führende Rolle der Baath-Partei gestrichen und frühere Referenzen an Sozialismus und Säkularismus fallen gelassen. Die damit einhergehende ideologische Entleerung wurde jedoch nicht durch andere politische Werte glaubwürdig aufgefüllt. Die Verfassung spiegelt somit eine Entwicklung der vergangenen Jahre wider, in der das Regime sich veränderten wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen anpasste, dabei aber eine politische Liberalisierung vermied. Deshalb blieben auch die Versuche der sogenannten loyalen Opposition, auf politische Reformen zu drängen, ohne das Regime oder die politische Ordnung infrage zu stellen, letztlich erfolglos. Die Hoffnungen des kurzen "Damaszener Frühlings" nach dem Amtsantritt von Baschar al-Assad im Jahr 2000 wurden schnell enttäuscht.
Seit dem Beginn der Proteste im Frühjahr 2011 sieht sich das Regime nun einer völlig neuen Art von Opposition gegenüber. Die Aufständischen lehnen das autoritäre Regime und die von ihm geprägten politische Ordnung bedingungslos ab. Dies machen sie dadurch deutlich, dass sie ihren Protest nicht mit der offiziellen Staatsflagge (rot-weiß-schwarz mit zwei grünen Sternen), sondern mit der Flagge der alten Republik von 1946 (grün-weiß-schwarz mit drei roten Sternen) zum Ausdruck bringen.
Darüber hinaus sind seit Beginn der Proteste weitere Symbole zu beobachten, die völlig andere politische Identitäten und Ordnungsvorstellungen zum Ausdruck bringen. Zunächst ist dabei die kurdische Flagge zu nennen (rot-weiß-grün mit gelber Sonne). Allerdings ist das öffentliche Bekenntnis zur kurdischen Identität in Syrien heute nicht automatisch mit der Forderung nach Sezession verbunden. Es drückt aber meist die Forderung nach einem höheren Grad an regionaler Autonomie und kultureller Selbstbestimmung in der künftigen Ordnung Syriens aus. Unabhängig davon wird im Zuge der Militarisierung des Konflikts weltweit zu Recht die wachsende Präsenz dschihadistischer Flaggen (schwarz mit weißer Aufschrift) mit Sorge beobachtet. Diese Sorge gilt nicht nur der Militanz dieser Gruppierungen, sondern auch der Tatsache, dass sie neben Regime und Ordnung des baathistischen Syriens auch die Idee des Nationalstaats an sich in Frage stellen.
Ausblick
Im Kontext des gegenwärtigen Bürgerkriegs sind die besagten Flaggen zu antagonistischen Symbolen geworden – also Symbolen, die für unvereinbare politische Identitäten und Ordnungskonzepte stehen. Unter diesen Umständen scheint es nur zwei mögliche Entwicklungswege zu geben: Wenn die Gegensätze weiterhin als unvereinbar angesehen werden, wird auch der militärische Konflikt andauern. Selbst bei einem Sieg der Opposition ist zu befürchten, dass die Vielfalt der Identitäten und Ordnungsvorstellungen in den Reihen der Revolutionäre zur Ausbildung neuer, unvereinbarer Widersprüche führt. Die Alternative dazu kann nur in einem politischen Prozess bestehen, der darauf abzielt, diese Widersprüche zu entschärften. Denn nur wenn unterschiedliche Identitäten und Ordnungsvorstellungen im Rahmen einer anerkannten staatlichen Ordnung als grundsätzlich miteinander vereinbar angesehen werden, ist es möglich, Staat und Gesellschaft als ein "Gemeinwesen" wieder herzustellen.