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Staatliche Ordnung und politische Identitäten in Syrien | Syrien | bpb.de

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Staatliche Ordnung und politische Identitäten in Syrien

Christoph Schumann Andrea Jud

/ 13 Minuten zu lesen

Gefragt nach seinen Wünschen für Syrien antwortete Gregorios Yohanna Ibrahim, der syrisch-orthodoxe Erzbischof von Aleppo, am 21. Dezember 2012 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Drei Schritte sind erforderlich. Wer immer regieren wird, muss zum Wohle aller Syrer diese Voraussetzungen erfüllen. Erstens brauchen wir eine gute Regierung und eine Vertretung aller religiösen und ethnischen Gruppen. Zweitens brauchen wir freie Wahlen, und drittens eine Verfassung, die alle Syrer akzeptieren."Eine neue Verfassung hatte Syrien erst kürzlich, nämlich am 27. Februar 2012, bekommen. Da gleichzeitig in Teilen des Landes schwere Kämpfe stattfanden und die Möglichkeit zur freien Debatte über den Entwurf fehlte, steht diese jedoch unter einem gravierenden Vorbehalt. Die Intensivierung der Kämpfe in den folgenden Monaten hat dann auch gezeigt, dass es der neuen syrischen Verfassung grundlegend an Legitimität mangelt. Die Aufständischen wollten sich von dieser verspäteten Reform nicht mehr abspeisen lassen. Ihnen geht es nämlich schon lange nicht mehr allein um den Sturz von Präsident Baschar al-Assad und der Baath-Partei, sondern um eine grundlegende Neudefinition der politischen Ordnung des Landes.

In Syrien ist die geltende politische Ordnung, also die Verfassungs- und Rechtsordnung des Staates und seine Symbolik, so eng mit Person und Familie des Präsidenten sowie der herrschenden Baath-Partei verbunden, dass sich aus Perspektive der Opposition das eine nicht mehr von dem anderen trennen lässt. Aus diesem Grund ist der Ruf nach Demokratisierung und Liberalisierung in eine gewaltsame Auseinandersetzung über die politische Ordnung des Gemeinwesens umgeschlagen. In diesem Kampf stehen sich wandelbare, aber miteinander scheinbar unvereinbare, also "antagonistische" Identitäten gegenüber. Um die Herausbildung dieser Identitäten zu verstehen, muss man sich die wechselvolle Geschichte Syriens im 20. Jahrhundert vor Augen halten.

Elitenkonflikt im postkolonialen Syrien 1946–1963

Als Syrien 1946 seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangte, war der Staat noch kaum gefestigt. Rein territorial gesehen umfasste sein Gebiet nur einen kleinen Teil dessen, was man noch heute auf Arabisch Bilad al-Scham oder auf Englisch The Syrian Lands nennt, also die ehemaligen syrischen Provinzen des Osmanischen Reiches – ein Gebiet das heute die Länder Syrien, Libanon, Israel, die palästinensischen Gebiete und Jordanien umfasst. Von allen Grenzen, die die Kolonialmächte gezogen hatten, waren die Grenzen zwischen Syrien und der Türkei, dem Libanon sowie Jordanien und Israel besonders schmerzhaft, da sie wirtschaftliche und gesellschaftliche Bindungen durchschnitten, die über Jahrhunderte gewachsen waren.

Ebenso komplex wie die damaligen Grenzfragen waren die politischen Identitäten in der Region nach dem Ersten Weltkrieg. Die Arabische Revolte gegen das Osmanische Reich hatte zunächst Hoffnung auf die Gründung eines gesamtarabischen Nationalstaats geschürt. Aber vor dem Hintergrund der kolonialen Grenzziehungen bekam das Streben nach Unabhängigkeit der neu geschaffenen Territorialstaaten eine höhere Priorität als die Forderung nach unmittelbarer Schaffung eines panarabischen Nationalstaats.

Politisch gesehen wurde der junge syrische Staat von einer kleinen Oligarchie von sogenannten Notabeln beherrscht. Diese entstammten hoch angesehenen städtischen Familien, deren wirtschaftliche Macht auf Großgrundbesitz beruhte. Hinzu kam eine exzellente Vernetzung auf nationaler und internationaler Ebene. Trotz ihrer gemeinsamen Interessen war die politische Geschlossenheit der herrschenden Oberschicht prekär. Wie in einem Kaleidoskop änderten sich die Allianzen zwischen den Familien ständig. Ideologisch waren sie nur locker durch einen politischen Grundkonsens verbunden, den man als "liberalen Nationalismus" bezeichnen kann: Man war Reformen gegenüber aufgeschlossen, wollte aber weder die Tradition noch die Religion und schon gar nicht die Besitzverhältnisse antasten.

Gegen die Dominanz dieser Oberschicht formierte sich in den 1940er und 1950er Jahren eine ganze Reihe von ideologisch ausgerichteten Parteien. Sie alle rekrutierten sowohl ihre Anhängerschaft als auch ihre Führungskader aus dem rasch wachsenden höheren Bildungssektor des Landes. Die junge Universität Damaskus und die Amerikanische Universität in Beirut wurden faktisch zu Kaderschmieden einer jungen, hoch politisierten Gegenelite. In sozialer Hinsicht hatte diese viele Gemeinsamkeiten: Die Aktivisten waren jung, kamen meist aus bescheidenen Verhältnissen, hatten eine gute Bildung genossen und hofften auf eine berufliche Karriere – vorzugsweise im öffentlichen Dienst oder in den freien Berufen. Dies blieb ihnen jedoch in vielen Fällen verwehrt, da die einflussreichen und lukrativen Posten bereits von Angehörigen der herrschenden Schicht besetzt waren. Trotz dieser Gemeinsamkeiten fehlte es der jungen Gegenelite dennoch an politischer Geschlossenheit. Sie war gespalten in "syrische" und "arabische" Nationalisten, in "Linke" und "Rechte" sowie in "Islamisten" und "Säkulare". All diese politischen Selbst- und Fremdbezeichnungen waren hoch kontrovers und werden an dieser Stelle deswegen nur mit Anführungszeichen wiedergegeben. Lediglich in ihren revolutionären Ambitionen waren sich die Aktivisten einig. Sie gingen davon aus, dass die bestehenden Machtverhältnisse nur durch einen Umsturz der politischen Ordnung und eine gründliche Transformation der gesamten Gesellschaft zu ändern seien.

In den 1950er und 1960er Jahren wurde der "Kampf um Syrien" also nicht nur zwischen der alten und der neuen Elite, sondern auch zwischen verschiedenen Identitäten ausgetragen. Die revolutionäre Rhetorik der jungen Generation machte deutlich, dass diese Identitäten aus ihrer Sicht unvereinbar waren. Es ging ihnen nicht nur um die Macht, sondern um die völlige Neugestaltung der politischen Ordnung.

Zwei gegensätzliche politische Ordnungen: die Verfassungen von 1950 und 1973

Die Grundlage für die politische Ordnung Syriens in der Nachkriegszeit entstand bereits in den 1920er und 1930er Jahren. Drei Jahre nach der syrischen Revolte von 1925 wurde eine verfassungsgebende Versammlung gewählt, die mehrheitlich aus den oben beschriebenen Notabeln-Politikern bestand. Diese waren zwar elitär und oligarchisch gesinnt, aber sie waren sich grundsätzlich darüber einig, Syrien als eine "demokratische, liberale und westlich-orientierte Republik" gestalten zu wollen. Deswegen kann die syrische Verfassung von 1930 durchaus als ein Dokument des liberalen arabischen Nationalismus gelten. Die damals zum Teil scharfen Konflikte mit der französischen Mandatsmacht drehten sich dementsprechend auch nicht um politische Grundwerte wie Menschen- und Bürgerrechte, sondern vielmehr um Fragen der nationalen Souveränität wie zum Beispiel die Grenzen des künftigen Staates, die Möglichkeit einer Vereinigung des historischen Syriens, die Rolle der Armee und die völkerrechtlichen Kompetenzen der Regierung. Die Verwurzelung der staatlichen Ordnung Syriens in der französischen Mandatszeit war letztlich der Hauptgrund dafür, dass sich die Loslösung Syriens von Frankreich nicht als ein völliger Bruch und eine Neugründung der politischen Ordnung vollzog, wie dies zum Beispiel in Algerien 1952 der Fall war.

Aus Sicht der radikalen Nationalisten stand deshalb eine gründliche Entkolonialisierung der politischen Ordnung Syriens in den 1950er und 1960er Jahren immer noch aus. Somit verstanden sich die Baath-Partei und andere Aktivisten immer noch als antikoloniale Bewegungen. Ihr Ziel war es, die Überreste der kolonialen Ordnung durch eine revolutionäre Neugründung von Republik und Gesellschaft sowie durch die Vereinigung aller arabischen Staaten in einem Einheitsstaat zu beseitigen. 1958 gipfelte dieser Kampf zunächst in der Selbstabschaffung Syriens und der folgenden Verschmelzung des Landes mit Ägypten zur Vereinigten Arabischen Republik – ein Experiment, das allerdings nur bis 1961 Bestand hatte. Wenig später, am 8. März 1963, übernahm schließlich die Baath-Partei die Macht in Syrien und machte sich umgehend daran, den Staat nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Mit der Machtübernahme von Hafis al-Assad 1970 und der Verfassung von 1973 kam dieser Umbau der politischen Ordnung zu einem vorläufigen Ende.

Im historischen Rückblick lassen sich die politisch gegensätzlichen Ordnungsvorstellungen an den Verfassungen von 1950 und 1973 an zwei zentralen Aspekten festmachen. Zum Ersten spielen in der syrischen Verfassung von 1950 die Rechte und Freiheiten der Bürger eine völlig andere Rolle als in der baathistisch geprägten Verfassung von 1973. Die Verfassung von 1950 beginnt mit einem relativ kurzen Kapitel (Artikel 1–6), in dem der Staat als eine "repräsentative demokratische, arabische Republik" definiert wird. Dem folgt eine wesentlich umfangreichere Darlegung der bürgerlichen Rechte im zweiten Kapitel der Verfassung (Artikel 7–33). In der Verfassung von 1973 werden dagegen die "Rechte und Pflichten" der Bürger auf einen späteren Platz in der Verfassung verwiesen. Ihnen werden nun drei Kapitel vorausgeschickt, nämlich über die "politischen Prinzipien" des Staates (Artikel 1–12), über die "wirtschaftlichen Prinzipien" (Artikel 13–20) und schließlich über die "Bildungs- und Kulturprinzipien" (Artikel 21–24). Nach Aufbau und Inhalt beansprucht die Verfassung, Staat und Gesellschaft als "arabisch" und "sozialistisch" zu definieren. Die Rechte und Pflichten des Individuums werden dabei der Gesellschaft eindeutig untergeordnet. So wird zum Beispiel das private Eigentum in Artikel 15 unter den Vorbehalt des "öffentlichen Interesses" gestellt.

Zum Zweiten unterscheidet sich das Demokratieverständnis in den beiden Verfassungen grundlegend. In der Verfassung von 1950 wird die Volkssouveränität an das Lincoln’sche Prinzip der "Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk" sowie an die Verfassung gebunden (Artikel 3). Zusätzlich wird ausdrücklich betont, dass "keine Person oder Gruppe" die Volkssouveränität für sich allein beanspruchen darf. In der späteren Verfassung von 1973 wird jedoch genau dies unter Berufung auf die Revolution getan. Bereits in der Präambel heißt es, dass die Arabisch-Sozialistische Baath-Partei die erste Partei im arabischen Vaterland gewesen sei, "die der arabischen Einheit ihren richtigen revolutionären Inhalt gegeben und den nationalen mit dem sozialistischen Kampf verbunden" habe. Aus diesem Grund erklärt die Verfassung von 1973 die Baath-Partei in Art. 8 zur "führenden Partei in Gesellschaft und Staat", um die "Potenzen der Volksmassen zusammenzuführen und sie in den Dienst der Ziele der arabischen Nation zu stellen".

Regime und Opposition seit 1963

An der syrischen Verfassung von 1973 wird deutlich, dass es der Baath-Partei mit ihrer "Revolution von oben" gelungen war, die politische Ordnung des Staates nach ihren ideologischen Vorstellungen umzugestalten. Die Folge war eine enge Verschränkung von Verfassungsordnung und Parteiideologie beziehungsweise von staatlichen Strukturen und Parteistrukturen. Zusätzlich wurde die starke konstitutionelle Stellung der Partei von informellen Strukturen der Machtsicherung verstärkt. Insbesondere die Armee spielt dabei eine zentrale Rolle. Ohne die starke Präsenz von Parteiaktivisten im Offizierskorps wäre schon die Revolution von 1963 kaum möglich gewesen. In den folgenden Jahrzehnten habe sich, so der Historiker Itamar Rabinovich, eine "Symbiose von Armee und Partei" gebildet. Während die Armee für die Sicherung der Macht zuständig war, sorgte die Partei für die ideologische Ausrichtung der Politik.

Dieses Bündnis zwischen Politik und Armee hat in Syrien bis heute Bestand. Der Zusammenhalt wird dabei vor allem durch persönliche Netzwerke sichergestellt. In der Anfangszeit der Baath-Herrschaft basierten diese Netzwerke noch im Wesentlichen auf geteilten politischen Überzeugungen, den Erfahrungen des gemeinsamen politischen Kampfes und persönlicher Loyalität. In den vergangenen Jahrzehnten rückten jedoch familiäre und konfessionelle Bindungen zunehmend in den Vordergrund. Dies führte dazu, dass die Kernelite der politischen Entscheidungsträger in den sicherheitsrelevanten Bereichen aus Verwandten des Präsidenten oder zumindest Angehörigen seiner eigenen konfessionellen Gemeinschaft, der Alawiten, zusammengesetzt ist. Dies hat zu einer deutlichen Überrepräsentation von Alawiten in der Armee und den Geheimdiensten geführt. Die Opposition stellt dieses Missverhältnis insbesondere in Zeiten der intensiven Repression zum Teil lautstark heraus. Nicht zuletzt deswegen hat der gegenwärtige Konflikt um die politische Ordnung eine nicht zu übersehende religiöse beziehungsweise konfessionelle Komponente bekommen.

Diese Konfessionalisierung ist allerdings nur ein Aspekt des Wandels der politischen Identitäten in Syrien. Seit der Machtübernahme der Baath-Partei im Jahr 1963 haben sich die politischen Identitäten von Regime und Opposition kontinuierlich verändert, wobei sie immer antagonistisch aufeinander bezogen blieben. Zu den ersten politischen Opfern der Baath-Herrschaft gehörten die "andersdenkenden Gleichgesinnten". Insbesondere Kommunisten, Nasseristen und die Angehörigen der jeweils unterlegenen Fraktionen der Baath-Partei wurden umgehend ins Gefängnis geworfen oder ins Exil geschickt.

Neben diesen ideologischen Gegensätzen war auch die Entstehung der politischen Identität der Kurden in den Besonderheiten des Baath-Regimes bereits angelegt. Die Verfassung von 1950 schrieb die arabische Identität des Staates nur in einer vergleichsweise milden Form fest. So wurden das syrische Volk zum "Teil der arabischen Nation" (Artikel 1) und das Arabische zur "offiziellen Sprache" erklärt (Artikel 4). Die Verfassung von 1973 geht weit darüber hinaus. In ihrem Anspruch, die Gesellschaft als "arabisch" zu definieren, wird der Staat beauftragt, "eine nationale, sozialistische arabische Generation mit wissenschaftlicher Denkweise heranzubilden" (Artikel 21). Zu diesem Zweck soll der Staat das Bildungswesen kontrollieren und seine Orientierung festlegen (Artikel 37). Von anderen sprachlichen oder nationalen Identitäten ist in der Verfassung von 1973 dagegen nicht die Rede. Insofern ist die Herausbildung der politischen Identität der Kurden in Syrien eine direkte Antwort auf die solchermaßen staatlich verordnete arabische Identität.

Die Entstehung des Gegensatzes zwischen dem politischen Islam und dem Baath-Regime ist dagegen sehr viel komplexer. Dies liegt zum einen daran, dass sich arabischer Nationalismus und islamische Identität nicht ausschließen. Wortgleich bezeichnen die syrischen Verfassungen von 1950 und 1973 in Artikel 3 den Islam als "Religion des Präsidenten der Republik" und die islamische Jurisprudenz (fiqh) als "eine Hauptquelle der Gesetzgebung". Dennoch beobachteten konservative Muslime den sozialistisch orientierten Nationalismus der Baath-Partei von Anfang an mit Skepsis oder sogar Ablehnung. Dies war vor allem in den ersten Jahren der Baath-Herrschaft nicht unberechtigt, denn das Regime verfolgte eine ausgesprochen religionsfeindliche Politik. Im Zuge der dauerhaften Auseinandersetzung mit der Muslimbruderschaft ging das Regime jedoch zunehmend dazu über, die religiös orientierten Segmente der Bevölkerung zu kooptieren und nur den politischen Islam rigoros zu verfolgen.

Reform oder Revolution?

Durch die enge Verknüpfung der politischen Ordnung des Staates und seiner Symbolik mit der Herrschaft einer bestimmten politischen Gruppe beziehungsweise einzelner Personen war die Ausgangslage in Syrien zu Beginn des "Arabischen Frühlings" grundsätzlich anders als in Tunesien oder Ägypten. In Syrien schien es aus Sicht der Opposition kaum möglich, das Regime zu stürzen und die Verfassungsordnung lediglich zu reformieren. Aus diesem Grund entwickelte sich der "Arabische Frühling" in Syrien – ähnlich wie auch in Libyen – schnell zu einem grundsätzlichen Konflikt über die politische Ordnung.

Auch die reformierte Verfassung von 2012 vermochte die Opposition nicht umzustimmen. Zwar wurde die führende Rolle der Baath-Partei gestrichen und frühere Referenzen an Sozialismus und Säkularismus fallen gelassen. Die damit einhergehende ideologische Entleerung wurde jedoch nicht durch andere politische Werte glaubwürdig aufgefüllt. Die Verfassung spiegelt somit eine Entwicklung der vergangenen Jahre wider, in der das Regime sich veränderten wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen anpasste, dabei aber eine politische Liberalisierung vermied. Deshalb blieben auch die Versuche der sogenannten loyalen Opposition, auf politische Reformen zu drängen, ohne das Regime oder die politische Ordnung infrage zu stellen, letztlich erfolglos. Die Hoffnungen des kurzen "Damaszener Frühlings" nach dem Amtsantritt von Baschar al-Assad im Jahr 2000 wurden schnell enttäuscht.

Seit dem Beginn der Proteste im Frühjahr 2011 sieht sich das Regime nun einer völlig neuen Art von Opposition gegenüber. Die Aufständischen lehnen das autoritäre Regime und die von ihm geprägten politische Ordnung bedingungslos ab. Dies machen sie dadurch deutlich, dass sie ihren Protest nicht mit der offiziellen Staatsflagge (rot-weiß-schwarz mit zwei grünen Sternen), sondern mit der Flagge der alten Republik von 1946 (grün-weiß-schwarz mit drei roten Sternen) zum Ausdruck bringen. Damit folgten sie dem Beispiel der libyschen Revolutionäre, die im Februar 2011 in Bengasi begannen, die alte Flagge der Sanussi-Monarchie der grünen Fahne von Muammar Gaddafis "Volksmassenstaat" entgegenzustellen.

Darüber hinaus sind seit Beginn der Proteste weitere Symbole zu beobachten, die völlig andere politische Identitäten und Ordnungsvorstellungen zum Ausdruck bringen. Zunächst ist dabei die kurdische Flagge zu nennen (rot-weiß-grün mit gelber Sonne). Allerdings ist das öffentliche Bekenntnis zur kurdischen Identität in Syrien heute nicht automatisch mit der Forderung nach Sezession verbunden. Es drückt aber meist die Forderung nach einem höheren Grad an regionaler Autonomie und kultureller Selbstbestimmung in der künftigen Ordnung Syriens aus. Unabhängig davon wird im Zuge der Militarisierung des Konflikts weltweit zu Recht die wachsende Präsenz dschihadistischer Flaggen (schwarz mit weißer Aufschrift) mit Sorge beobachtet. Diese Sorge gilt nicht nur der Militanz dieser Gruppierungen, sondern auch der Tatsache, dass sie neben Regime und Ordnung des baathistischen Syriens auch die Idee des Nationalstaats an sich in Frage stellen.

Ausblick

Im Kontext des gegenwärtigen Bürgerkriegs sind die besagten Flaggen zu antagonistischen Symbolen geworden – also Symbolen, die für unvereinbare politische Identitäten und Ordnungskonzepte stehen. Unter diesen Umständen scheint es nur zwei mögliche Entwicklungswege zu geben: Wenn die Gegensätze weiterhin als unvereinbar angesehen werden, wird auch der militärische Konflikt andauern. Selbst bei einem Sieg der Opposition ist zu befürchten, dass die Vielfalt der Identitäten und Ordnungsvorstellungen in den Reihen der Revolutionäre zur Ausbildung neuer, unvereinbarer Widersprüche führt. Die Alternative dazu kann nur in einem politischen Prozess bestehen, der darauf abzielt, diese Widersprüche zu entschärften. Denn nur wenn unterschiedliche Identitäten und Ordnungsvorstellungen im Rahmen einer anerkannten staatlichen Ordnung als grundsätzlich miteinander vereinbar angesehen werden, ist es möglich, Staat und Gesellschaft als ein "Gemeinwesen" wieder herzustellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach: Rainer Hermann, "Es wird eine dunkle Weihnacht in Aleppo". Im Gespräch: Der syrisch-orthodoxe Erzbischof von Aleppo, Gregorios Yohanna Ibrahim, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 21.12.2012, S. 6.

  2. Die folgende Interpretation orientiert sich begrifflich und theoretisch an Ernesto Laclau, Emanzipation und Differenz, Wien–Berlin 2002.

  3. Vgl. Albert Hourani, Ottoman Reform and the Politics of the Notables, in: ders./Philip Khoury/Mary Wilson (eds.), The Modern Middle East: A Reader, London 1993, S. 83–110; Philip S. Khoury, Syria and the French Mandate: the Politics of Arab Nationalism, 1920–1945, Princeton 1987, S. 285–317.

  4. Vgl. Christoph Schumann, Radikalnationalismus in Syrien und Libanon: politische Sozialisation und Elitenbildung, 1930–1958, Hamburg 2001, S. 214–242.

  5. Patrick Seale, The Struggle for Syria: a Study of Post-War Arab politics, 1945–1958, London–New York 1965.

  6. Eyal Zisser, Writing a Constitution: Constitutional Debates in Syrian in the Mandate Period, in: Christoph Schumann (ed.), Liberal Thought in the Eastern Mediterranean: Late 19th Century until the 1969s, Leiden 2008, S. 195–215, hier: S. 211.

  7. Vgl. P.S. Khoury (Anm. 3), S. 340.

  8. Vgl. Verfassung Syriens von 1950 (Englisch), in: Helen Miller Daris, Constitutions, Electoral Laws, Treaties of States in the Near and Middle East, New York 1953, S. 402–433. Eine Zusammenfassung findet sich in: Majid Khadduri, Constitutional Development in Syria: With Emphasis on the Constitution of 1950, in: Middle East Journal, 5 (1951) 2, S. 137–160. Eine deutsche Übersetzung der Verfassung von 1973 findet sich in: Herbert Baumann/Matthias Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, Berlin 1995, S. 673–697.

  9. Ebd., S. 673.

  10. Ebd., S. 676.

  11. Raymond Hinnebusch, Syria: Revolution from above, London–New York 2002.

  12. Vgl. Itamar Rabinovich, Syria under the Ba’th, 1963–1966: the Army-Party Symbiosis, New York 1972.

  13. Vgl. Hans Günter Lobmeyer, Opposition und Widerstand in Syrien, Hamburg 1995.

  14. Vgl. Jordi Tejel, Syria’s Kurds: History, Politics and Society, London–New York 2009, S. 53–68, S. 82–107.

  15. H.G. Lobmeyer (Anm. 13), S. 114–180.

  16. Vgl. Line Khatib, Islamic Revivalism in Syria: The Rise and Fall of Bathist Secularism, London–New York 2011.

  17. Vgl. Christoph Schumann, Revolution oder Revolte? Arabischer Frühling jenseits des Autoritarismus- und Transitionsparadigmas, in: Holger Albrecht/Thomas Demmelhuber (Hrsg.), Revolution und Regimewandel in Ägypten, Baden-Baden 2012, S. 19–40.

  18. Vgl. Carsten Wieland, A Decade of lost Chances, Seattle 2012, S. 45–60.

  19. Vgl. Ch. Schumann (Anm. 17).

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Christoph Schumann, Andrea Jud für bpb.de

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Dr. phil.; Professor für Politik und Zeitgeschichte des Nahen Ostens an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg, Bismarckstraße 8, 91054 Erlangen. E-Mail Link: christoph.schumann@polwiss.phil.uni-erlangen.de

M.A.; Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Islam und Recht in Europa, FAU Erlangen-Nürnberg (s.o.); promoviert zu Differenzierungsprozessen im ägyptischen Islamismus. E-Mail Link: andrea.jud@polwiss.phil.uni-erlangen.de