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Syrien: ziviler Protest, Aufstand, Bürgerkrieg und Zukunftsaussichten | Syrien | bpb.de

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Syrien: ziviler Protest, Aufstand, Bürgerkrieg und Zukunftsaussichten

Muriel Asseburg

/ 15 Minuten zu lesen

In Syrien kam die Protestbewegung im Vergleich zu Tunesien, Libyen und Ägypten zunächst nur langsam in Fahrt. Ersten Aufrufen auf Facebook zu einem "Tag des Zorns" folgte im Februar 2011 nur eine Handvoll Menschen. Auch bei den nachfolgenden Protestaktionen fanden sich zunächst nur Wenige ein, so etwa am 15. März – der seither als Beginn des Aufstands gilt –, als eine kleine Gruppe in Damaskus Reformen forderte. Dennoch prägten sie die Slogans und den Geist der folgenden Protestwelle, als sie "Gott, Syrien und Freiheit" (in Abwandlung des Regime-Leitspruchs "Gott, Syrien und Baschar"), "friedlich, friedlich", und "das syrische Volk ist eins" skandierten. Zum Fanal wurde erst die Verhaftung von 15 Kindern und Jugendlichen in der Provinzstadt Deraa im Südwesten des Landes, die, inspiriert von den Protesten in Tunesien und Ägypten, regimekritische Parolen an eine Mauer gemalt hatten. Nicht nur wurden die jungen Menschen in Haft gefoltert, auch wurden die Demonstrierenden, die ihre Freilassung forderten, vom Gouverneur des Bezirks verhöhnt und kamen unter Beschuss durch die Sicherheitskräfte. Am 18. März 2011 wurden in Deraa fünf friedliche Demonstranten erschossen und Hunderte verletzt. In den folgenden Tagen gingen nicht nur in Deraa, sondern auch in anderen Städten und Dörfern Männer, Frauen und Kinder auf die Straße, um sich solidarisch zu zeigen und gegen Polizeiwillkür, die Notstandsgesetzgebung, Korruption und Vetternwirtschaft zu demonstrieren.

Entstehen einer zivilen Protestbewegung

Wie zuvor in Nordafrika trieben auch in Syrien ein erhebliches Maß an Unmut über die zunehmende soziale Ungerechtigkeit und mangelnde Perspektiven für die junge Bevölkerung die Proteste an. Denn trotz der beachtlichen ökonomischen Wachstumsraten, die Syrien in den vergangenen Jahren verzeichnen konnte, blieb insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit hoch. Der Umbau der Wirtschaft und der teilweise Abbau des Staatssektors hatten die soziale Schere auseinanderklaffen lassen. Die Armut hatte – vor allem in den ländlichen Gebieten – deutlich zugenommen, Binnenmigration infolge von Dürre die sozialen Missstände weiter verschärft. Dazu kamen die massive Selbstbereicherung im Umkreis der Herrscherfamilie und die Vetternwirtschaft, die Politik und Ökonomie durchzogen. Vor diesem Hintergrund richtete sich der Zorn der Protestierenden insbesondere auch gegen den Cousin des Präsidenten, Rami Makhlouf, der von der Privatisierung von Staatsbetrieben und der Monopolisierung von Lizenzen im Telekommunikationsbereich besonders profitiert hatte.

Zudem galt Syrien als einer der repressivsten Staaten in der Region. Zwar war es unter Baschar al-Assad, der 2000 die Macht von seinem Vater übernommen hatte, durchaus zu einer gewissen politischen Öffnung gekommen. Doch der politische Raum blieb eng begrenzt: Nach wie vor gab es keine kompetitiven Wahlen und keine Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit. Nach wie vor verschwanden Oppositionelle regelmäßig im Gefängnis, war die Muslimbruderschaft verboten und die Mitgliedschaft mit dem Tode bedroht. Nach wie vor wurden ganze Volksgruppen – allen voran die Kurden – diskriminiert und blieben die von ihnen bewohnten Regionen im Nordosten des Landes entwicklungspolitisch vernachlässigt.

Obwohl das Regime die Proteste durch eine Kombination aus vagen Reformversprechen und massivem Gewalteinsatz einzudämmen suchte, breiteten sich diese, ausgehend von der Peripherie, innerhalb weniger Wochen über das ganze Land aus. Am Karfreitag 2011 gingen landesweit bereits mehrere Hunderttausend auf die Straße; über Hundert starben, als das Regime Scharfschützen einsetzte. Zur Unterdrückung der Proteste griff das Regime zunehmend auch auf das Militär zurück. Die Belagerung von Städten, Massenverhaftungen und Folter sollten die zivile Protestbewegung gewaltsam ersticken. Dies gelang jedoch nur vorübergehend. Denn wenn die Truppen abgezogen wurden, gingen die Menschen erneut auf die Straße. In der Hauptstadt Damaskus und der Wirtschaftsmetropole Aleppo konnte das Regime allerdings über einen langen Zeitraum erfolgreich größere Protestaktionen weitgehend unterbinden. Die Intensität der Proteste nahm insgesamt jedoch weiter zu – und in Reaktion auf den Einsatz von Gewalt veränderten sich die Forderungen der Protestierenden: Im Juli 2011 forderten landesweit bereits mehr als eine Million Bürgerinnen und Bürger auf Demonstrationen den Rücktritt des Präsidenten.

Was der Protestbewegung in Syrien, im Vergleich etwa zu der in Ägypten, fehlte, war das psychologische Moment der identitätsbildenden gemeinsamen Erfahrung der Massenmobilisierung auf dem Tahrir-Platz. Das Regime verhinderte durch Straßensperren und Medienzensur effektiv, dass sich die einzelnen Demonstrationen verbanden und den öffentlichen Raum in der Hauptstadt eroberten. Was die syrische Protestbewegung kennzeichnete, war gerade ihr dezentraler Charakter – sie war durch eine Vielzahl kleiner, lokaler, oft sehr kreativer Aktionen geprägt, die sich unter anderem über den Präsidenten und seine Entourage lustig machten – sowie der soziale Hintergrund der Protestierenden, unter denen die marginalisierte Landbevölkerung und Arbeiterinnen und Arbeiter dominierten.

Im August 2011 schließlich wurde im türkischen Exil der Syrische Nationalrat (SNR) gegründet, der als Sprecher der Opposition auftreten und – analog zum Nationalen Übergangsrat in Libyen – als Ansprechpartner für die internationale Gemeinschaft fungieren und Unterstützung für die Opposition generieren sollte. Dies gelang allerdings nur bedingt. Ausschlaggebend war dafür einerseits die Ausgangslage in Syrien, die sich grundlegend von der in Libyen unterschied, und andererseits, dass der SNR von unterschiedlichen Seiten in die Kritik geriet – wegen interner Machtkämpfe, der Dominanz der Muslimbrüder beziehungsweise der Exilopposition, der als ungenügend erachteten Vertretung von Minderheiten, mangelnder Transparenz und Ineffektivität oder seiner Unterstützung der Militarisierung des Aufstands. Diverse Bemühungen, die syrische Opposition zu einen, scheiterten. Erst auf massiven amerikanischen Druck hin wurde in Doha im November 2012 mit der Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte (kurz: Syrische Nationale Koalition) ein breiter aufgestelltes Oppositionsbündnis etabliert, in dem insbesondere die interne Opposition stärker vertreten ist.

Eskalation der Gewalt

Bemerkenswerterweise blieben die Demonstrationen über Monate hinweg friedlich oder zumindest gewaltarm. Der Einsatz des Militärs zur Unterdrückung der Proteste leitete diesbezüglich jedoch eine Wende ein. Aufgrund des Schießbefehls gegen die Demonstrierenden sahen sich syrische Soldaten, darunter auch Wehrpflichtige, in Gewissenskonflikten, denen sie zunehmend mit Desertion oder Überlaufen zur Opposition begegneten. Eine Gruppe von Deserteuren um Riad al-Asaad gründete schließlich Ende Juli 2011 im türkischen Exil die Freie Syrische Armee (FSA), der sich rasch weitere Überläufer und Zivilisten anschlossen. Während die FSA ihre Aufgabe zunächst im Wesentlichen darin sah, Demonstrationen und Beerdigungsprozessionen zu schützen, wurde bald von ihr erwartet, ganze Stadtviertel, in denen protestiert worden war, gegen Racheakte der Armee und der vom Regime eingesetzten paramilitärischen Milizen, der sogenannten Shabiha, zu verteidigen.

In Folge kam es zu einem bewaffneten Machtkampf zwischen den Rebellen der FSA und den Regimekräften, der sich rasch zuspitzte. Die Rebellen gingen von defensiven zu offensiven Operationen über und brachten in Städten wie Homs, Hama und Deir ez-Zor ganze Stadtviertel unter ihre Kontrolle. Das Regime reagierte mit einer Ausweitung der Gewaltanwendung und dem massiven Beschuss dieser Viertel durch schwere Artillerie. Im Hochsommer 2012 starteten die Rebellen der FSA Operationen in Damaskus und Aleppo. Das Regime begann nunmehr auch die Luftwaffe einzusetzen und Stadtviertel in der Hand von Rebellen mit Raketen und Kampfjets zu bombardieren.

Sowohl das syrische Regime als auch die Rebellen sahen sich zunehmend nicht mehr nur in einer Auseinandersetzung um die politische Macht, sondern im Kampf um ihr physisches Überleben. Temporäre, lokale Waffenruhen ermöglichten der Bevölkerung vor Ort in Einzelfällen eine kurze Ruhepause und erlaubten die Verpflegung von Verwundeten, stoppten die Eskalation aber nicht. Auch alle internationalen Vermittlungsbemühungen, etwa durch die Sondergesandten von UN und Arabischer Liga, Kofi Annan (Februar bis August 2012) und Lakhdar Brahimi (seit September 2012), sowie die Beobachtermissionen der Arabischen Liga (Ende Dezember 2011 bis Ende Januar 2012) und der UN (April bis August 2012) waren diesbezüglich (bislang) erfolglos.

Rebellen auf dem Vormarsch

Im Spätherbst 2012 konnten die Rebellen zunehmend militärische Erfolge verzeichnen. Das Regime hat sich aus Teilen des Staatsgebiets zurückgezogen. Unterschiedliche Rebellengruppen kontrollieren seitdem Dörfer, kleinere Städte und ländliche Gebiete im Südwesten und Südosten des Landes sowie entlang der libanesischen und der türkischen Grenze. Teile der kurdischen Gebiete im Norden und Nordosten Syriens werden von der aus der PKK (Partiya Karkeren Kurdistan, Arbeiterpartei Kurdistans) hervorgegangenen Partei der Demokratischen Einheit (Partiya Yekitiya Demokrat, PYD) kontrolliert. FSA beziehungsweise PYD kontrollieren auch einzelne Übergänge an der Grenze zur Türkei.

Bislang ist es den Rebellen allerdings nicht gelungen, größere zusammenhängende Gebiete oder eine der bedeutenden Städte vollständig und dauerhaft unter ihre Kontrolle zu bringen. Zudem können die Aufständischen die Zivilbevölkerung in den sogenannten befreiten Gebieten nicht effektiv gegen Angriffe der regulären Armee, insbesondere der Luftwaffe und den Beschuss durch Raketen, schützen. Auch stellt der Staat in den umkämpften Gebieten kaum noch öffentliche Dienstleistungen (Krankenhäuser, Schulwesen, Müllbeseitigung und Ähnliches) zur Verfügung. Auf lokaler Ebene findet daher notwendigerweise ein beträchtliches Maß an Selbstorganisation statt, bei der die Lokalen Koordinationskomitees, zivile Verwaltungsräte und Rebellen – je nach Stadt unterschiedlich eng und erfolgreich – kooperieren, um ein Mindestmaß an Versorgung zu gewährleisten, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und Recht zu sprechen.

Die Eskalation der Gewalt hat massive Auswirkungen für die Zivilbevölkerung mit sich gebracht. Die Kriegsschäden sind immens. Die industrielle und landwirtschaftliche Produktion ist in Folge von Sanktionen und Kämpfen nahezu völlig zusammengebrochen. Das Regime hat die militärischen Erfolge der Rebellen mit einer Politik der verbrannten Erde beantwortet. Ganze Landstriche in den Gouvernoraten Latakia, Idlib, Hama und Deraa sind so weitgehend entvölkert, ganze Stadtviertel, unter anderem in den südlichen und östlichen Vororten von Damaskus, in Aleppo, Homs und Deir ez-Zor, dem Erdboden gleichgemacht worden. Der Zugang zu den umkämpften Gebieten ist für humanitäre Organisation stark eingeschränkt. Die UN bezifferte die Zahl der Todesopfer Ende 2012 mit 60.000. Hinzu kommen Zehntausende von Verhafteten und Vermissten. Auch die Zahl der syrischen Flüchtlinge hat dramatische Ausmaße angenommen. Mitte Januar 2013 gab die UN die Zahl der registrierten (beziehungsweise unterstützten) syrischen Flüchtlinge bereits mit über 600.000 an. Dabei halten sich die meisten Flüchtlinge in den vier Nachbarländern Türkei, Libanon, Jordanien und Irak sowie zunehmend auch in Ägypten auf. Die Zahl der Binnenflüchtlinge wird von den UN auf etwa zwei Millionen geschätzt, dürfte aber mittlerweile weit darüber liegen.

Radikalisierung und Konfessionalisierung

Die Aktivistinnen und Aktivisten, die die Werte der Revolution weiterhin hochhalten und ein demokratisches, ungeteiltes Syrien fordern, sind durch die Eskalation der Gewalt zunehmend marginalisiert worden. Denn diese hat zur Radikalisierung der Aufständischen und der Bevölkerung beigetragen. Immer stärker wird die Realität durch den bewaffneten Kampf bestimmt.

Dabei war die FSA zunächst alles andere als eine Armee, sondern lediglich ein loser Zusammenschluss unterschiedlicher Rebellengruppen, unter denen sich auch kriminelle Banden fanden sowie salafistische und dschihadistische Gruppierungen. Mit der Zeit organisierten sich die Rebellen in lokalen Militärräten und regionalen Brigaden, verstärkten die Koordination ihrer Operationen und konnten durch Angriffe auf Militärbasen ihre Ausrüstung erheblich verbessern. Im Dezember 2012 trafen sich schließlich rund 500 Abgesandte lokaler FSA-Einheiten im türkischen Antalya, um eine zentrale Kommandostruktur unter dem Dach eines Obersten Militärrats zu schaffen und damit die militärischen Entscheidungshierarchien in fünf Operationsgebieten zu präzisieren. Dennoch verfügen die Rebellen bis heute nicht über effektive zentralisierte Befehlshierarchien. Eine beträchtliche Zahl vor allem der islamistisch geprägten Brigaden weigern sich vielmehr, sich der FSA zu unterstellen. Stattdessen führen diese Gruppierungen ihre Operationen auf eigene Rechnung durch, mitunter auch gegen ausdrückliche Anweisung der FSA-Führung. So ist es zunehmend auch auf Seiten der Aufständischen zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen gekommen, obwohl sich führende FSA-Vertreter auf einen Ehrenkodex verpflichtet haben. Zudem ist der Anteil der Kämpfer mit salafistischer beziehungsweise dschihadistischer Orientierung angestiegen. Auch sind zunehmend ausländische Kämpfer nach Syrien eingesickert. Zwar dürfte die Zahl solcher Kämpfer bislang eher bei Hunderten als bei Tausenden liegen, dennoch ist dieser Trend besorgniserregend.

Schließlich geht diese Tendenz auch mit einer zunehmenden Konfessionalisierung des Konflikts einher, die durch das Regime ebenso gefördert wird wie durch die externen Sponsoren der Rebellen. Mehr und mehr verfestigt sich die Wahrnehmung eines sunnitischen Aufstands (unterstützt von den sunnitischen Golfmonarchien und der Türkei) gegen ein alawitisches Regime und seine schiitischen Bündnispartner (Iran, Hisbollah, die schiitisch dominierte irakische Regierung) beziehungsweise seine lokalen Unterstützer (als die kollektiv die Alawiten und Christen gesehen werden). Diese Wahrnehmung – verstärkt durch Anschläge in christlichen und alawitischen Wohnbezirken, eine teils extrem konfessionalistische Rhetorik einzelner Rebellengruppen, Massaker in sunnitischen Dörfern oder Vierteln durch Regierungstruppen und die Shabiha sowie bewaffnete Kämpfe zwischen dschihadistischen Rebellen und der PYD – gefährdet das künftige Zusammenleben in der syrischen Mosaikgesellschaft massiv und befördert die Fragmentierung des Landes.

Internationalisierung des Konflikts

Immer offener sind die Konfliktparteien in Syrien auch durch externe Akteure unterstützt worden. Die Auseinandersetzung hat so über den internen Machtkampf hinaus den Charakter eines Stellvertreterkriegs bekommen, in dem internationale, regionale und subnationale Konflikte ausgetragen werden. Auf der einen Seite stützen Russland und China das Assad-Regime durch Handel und Rüstungskooperation beziehungsweise ihre Parteinahme im UN-Sicherheitsrat. Der Iran hilft dem syrischen Regime zudem durch Militärberater, Finanztransfers und Energielieferungen. Auf der anderen Seite erhalten die syrische Opposition und die Rebellen von westlichen Akteuren wie den USA, den Europäern und der Türkei politische und logistische, aus den arabischen Golfstaaten finanzielle und militärische Unterstützung. Aus den instabilen Nachbarländern Irak und Libanon werden – gemäß der Logik konfessioneller Mobilisierung – jeweils unterschiedliche Kräfte im syrischen Konflikt rhetorisch, finanziell und durch Entsendung von Kämpfern unterstützt.

Einen der Streitpunkte im internationalen Umgang mit dem Konflikt bildet die Interpretation und Durchsetzung internationaler Normen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des eigenen Umgangs mit Demokratiebewegungen und Minderheiten stemmen sich Moskau und Peking gegen das Prinzip der internationalen Schutzverantwortung. Vor allem jedoch heizt der Konflikt um die regionale Rolle des Iran den Bürgerkrieg in Syrien an.

Wiederholt haben die Kämpfe in Syrien bereits auf die beiden Nachbarländer Libanon und Irak übergegriffen. Auch Kampfhandlungen an der syrisch-türkischen Grenze bergen Eskalationspotenzial. Die Türkei, die als Gastgeberin des oppositionellen Syrischen Nationalrats und als Operationsbasis der FSA schon früh zur Konfliktpartei wurde, sieht sich heute unmittelbar bedroht. Folglich autorisierte das türkische Parlament im Oktober 2012 militärische Operationen in den Nachbarländern. Im November ersuchte Ankara von seinen Nato-Partnern zudem die Stationierung von Patriot-Abwehrsystemen unweit der syrischen Grenze. Darüber hinaus verursacht die Präsenz von überwiegend sunnitischen Flüchtlingen und Rebellen im Grenzgebiet zu Syrien Probleme mit der dort ansässigen alawitischen Bevölkerung. Vor dem Hintergrund der eigenen ungelösten Kurdenfrage befürchtet Ankara aber vor allem, dass in Syrien (neben dem Nordirak) eine weitere autonome Kurdenregion entstehen könnte. Separatistische Bestrebungen in der eigenen kurdischen Bevölkerung könnten dadurch neuen Auftrieb erhalten – zumal mit dem Bürgerkrieg in Syrien die Anschläge der PKK in der Türkei deutlich zugenommen haben.

Zukunftsaussichten

Derzeit sind drei Szenarien für die kurz- bis mittelfristige Entwicklung Syriens plausibel. Trotz der intensiven Bemühungen des Vermittlers Lakhdar Brahimi scheint das erste Szenario,

ein zwischen Regime und Opposition verhandelter Übergang

, oft auch als "jemenitische Lösung" bezeichnet, derzeit am unwahrscheinlichsten. Denn die Konfliktparteien verhalten sich wie in einem Nullsummenspiel und sind daher nicht zu Verhandlungen mit der jeweils anderen Seite bereit. Eine solche Lösung müsste also zunächst zwischen regionalen und internationalen Playern ausgearbeitet und dann den Konfliktparteien mit intensiver Vermittlung und unter massivem Druck nahegebracht werden. Dass alle relevanten regionalen und internationalen Akteure dabei an einem Strang ziehen, ist, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Konflikts um die regionale Rolle und das Atomprogramm des Iran, nicht zu erwarten.

Am wahrscheinlichsten scheint vielmehr das zweite Szenario eines

Fortdauerns der Kampfhandlungen und einer (fragilen) Zementierung der Fragmentierung des Landes.

Denn externe Unterstützer sowohl des Regimes als auch der Opposition verbinden mit dem Syrien-Konflikt weitreichende, mitunter sogar existenzielle Konsequenzen für ihre eigene strategische Position. Sie verwenden deshalb erhebliche Anstrengungen darauf, einen aus ihrer Sicht nachteiligen Ausgang des Bürgerkriegs zu verhindern; die syrischen Konfliktparteien können daher mit einem kontinuierlichen Zufluss von Geld und Waffen rechnen. Dies macht eine rasche militärische Entscheidung unwahrscheinlich. Auch ist eine militärische Intervention seitens der internationalen Gemeinschaft, die den Kriegsverlauf entscheidend verändern könnte, derzeit nicht abzusehen.

In diesem Szenario würde das Regime das Zentrum der Hauptstadt, einen Korridor zur Küste inklusive der Städte Latakia und Tartus und das alawitisch besiedelte Küstengebirge kontrollieren, die PYD die kurdischen Gebiete und die Rebellen den Rest des Landes. Allerdings dürfte es sowohl zwischen diesen drei Kräften als auch insbesondere in dem von den Rebellen gehaltenen Gebiet weiterhin zu Kämpfen kommen, nicht zuletzt zwischen konkurrierenden Rebellen und Warlords. Mit diesem Szenario dürfte sich auch der Trend der Radikalisierung und Konfessionalisierung weiter fortsetzen ebenso wie die Flucht der Bevölkerung aus umkämpften Gebieten beziehungsweise von einzelnen Bevölkerungsgruppen aus denjenigen Gebieten, die von Kräften kontrolliert werden, die ihnen feindlich gesonnen sind. Damit würden sich auch die negativen Effekte für die Nachbarstaaten verstärken.

Weniger wahrscheinlich scheint kurz- bis mittelfristig das dritte Szenario,

der Fall des Regimes

– zumindest solange die Rebellen nicht wesentlich stärkere externe Unterstützung in Form von schweren Waffen erhalten. Dies aber ist, vor allem wegen der Sorge westlicher Regierungen angesichts einer zunehmenden Zahl von dschihadistischen Kämpfern, derzeit nicht zu erwarten. In diesem Szenario besteht die große Gefahr, dass es zu massiver ethnisch-konfessioneller Gewalt in Form von Vergeltungsakten gegen einzelne Bevölkerungsgruppen kommt, die für die Gräueltaten des Regimes in Kollektivhaft genommen werden. Zudem könnten die Kämpfe zwischen unterschiedlichen Rebellengruppen, Überbleibseln der Sicherheitskräfte des Regimes und Milizen eskalieren – sich der bewaffnete Machtkampf also in einen umfassenden ethno-konfessionellen Bürgerkrieg verwandeln.

Das Szenario bietet auch die Chance für einen Übergang zu einer neuen Ordnung. Allerdings sind die Ausgangsbedingungen für eine demokratische, pluralistische und inklusive Nach-Assad-Ordnung in einem geeinten Syrien, wie sie die Opposition – über konfessionelle, ethnische und ideologisch-politische Gräben hinweg – anstrebt, aufgrund der geschilderten Entwicklungen alles andere als gut. Ob der Übergang zu einer stabilen demokratischen Ordnung in einem geeinten Syrien gelingt, wird dabei ganz entscheidend davon abhängen, ob die internationale Gemeinschaft effektiver als bislang zusammenarbeitet, um ein Auseinanderbrechen des Landes und einen umfassenden Bürgerkrieg zu verhindern, und ob sie den Syrerinnen und Syrern bei der Bewältigung der immensen Herausforderungen, vor denen das Land im Sicherheitsbereich, bei der Übergangsjustiz und beim wirtschaftlichen Wiederaufbau steht, unter die Arme zu greift.

Eine Kurzversion dieses Beitrags findet sich hier:
Muriel Asseburg, Vom zivilen Protest zum Bürgerkrieg, in: Brockhaus Jahrbuch 2012, Gütersloh–München 2013 (i. E.).

Dr. rer. pol., geb. 1968; Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika, Leiterin des Projekts "Elitenwandel und neue soziale Mobilisierung in der arabischen Welt", Stiftung Wissenschaft und Politik, Ludwigkirchplatz 3–4, 10781 Berlin. E-Mail Link: muriel.asseburg@swp-berlin.org