Männer, die auf Leichen starren. Wie unser Bild vom Krieg in Syrien entsteht
Daniel Gerlach Nils Metzger
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Wenn Deine Bilder nicht gut genug sind, warst Du nicht nah genug dran", lautet das bekannte Bonmot des Fotografen Robert Capa, der im Indochinakrieg 1954 starb. Generationen von Reportern eifern diesem Grundsatz nach. Sie halten ihre Kameras in das Granatfeuer und die Mikrofone in das Schluchzen der Hinterbliebenen. Und für die schreibende Zunft gilt: Ein Korrespondent, der für seine "Augenzeugenberichte" das Hotel nicht mehr verlässt, fliegt heute, anders als früher, sehr schnell als Scharlatan auf. Zweifellos kann auch die Nähe zum Geschehen es erschweren, ja sogar unmöglich machen, eine Art von Wahrheit aus dem Gesehenen und Gehörten zu extrahieren. Unter welchen Umständen kann zu große Nähe das Urteil von Journalisten beeinflussen? Und wie entstehen die verschiedenen Narrative der Konfliktereignisse?
Grenzen der Berichterstattung
Der Krieg in Syrien polarisiert. Die Berichterstattung hat die internationale Gemeinschaft und nicht zuletzt die Haltung der Mächte im UN-Sicherheitsrat beeinflusst – in gleichem Maße wie auch der politische Diskurs in einem Land auf die Medien wirkt. Wer die Berichte russischer Sender – und zwar nicht nur staatlicher Kanäle wie Russia Today – mit der europäischen Konkurrenz vergleicht, könnte den Eindruck gewinnen, es gehe um völlig verschiedene Konfliktschauplätze. Und diese Unterschiede sind gewiss nicht nur das Resultat gezielter Propaganda: Je nach Zugang zum Geschehen können auch rechtschaffen recherchierende Journalisten zu sehr verschiedenen Haltungen und Sympathien kommen. Wenn Reporter durch die zerschossenen Wohnhäuser der Altstadt Aleppos hechten, halten sie den Kopf aus Angst vor Scharfschützen unten. Sie folgen konzentriert dem Vordermann im Flecktarn, der nicht nur eine Kalaschnikow, sondern auch Ortskenntnis besitzt. Ihm haben sie oftmals ihr Leben anvertraut – ein quid pro quo: Viele Syrer riskieren jeden Tag ihr Leben, um ausländische Journalisten zu den Brennpunkten zu führen. Das verbindet, zweifellos.
Der letzte Beitrag, den die erfahrene Korrespondentin der "Sunday Times", Marie Colvin, am 21. Februar 2012 aus der belagerten Stadt Homs sendete, war die tragische Geschichte eines kleinen Jungen, der in einem Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen war. Sie selbst starb Stunden darauf, gemeinsam mit dem jungen französischen Fotografen Rémi Ochlik, als Regierungstruppen ein Medienzentrum der Opposition unter Beschuss nahmen. Neues bot diese letzte Geschichte kaum – sie emotionalisierte, gab dem Schlachten ein Gesicht. Sie sollte die Wohnzimmer Amerikas und Europas erreichen und daran erinnern, dass jeden Tag in Syrien Kinder sterben. Immer wieder mahnen Hilfsorganisationen, die Zivilisten und Flüchtlinge in der Berichterstattung nicht zu vergessen, das Leiden des Einzelnen zum Thema zu machen und nicht nur Opferstatistiken zu aktualisieren.
Tatsächlich blieb vielen Korrespondenten und einer großen Zahl freier Reporter, die in Syrien ihr "Glück" versuchten, auch kaum etwas anderes übrig, als Einzelschicksale zu präsentieren. Wie die Zivilisten war auch Colvin zuletzt eine Gefangene, eingeschlossen in dem umkämpften Stadtteil Baba Amr. Oft sitzen Reporter über Tage an Orten fest und horchen auf Gerüchte und die Meinungen von Aktivisten. Ein umfassendes Bild der Lage im Land kann man sich so nur schwerlich machen. Auch bei der Rekonstruktion konkreter Ereignisse stoßen Reporter schnell an Grenzen. Wenngleich inzwischen zahlreiche Journalisten über die türkische Grenze in den Norden Syriens einreisen und sich in der Nähe der Kampfzone aufhalten, vergehen oft mehrere Tage, bis die Meldungen über angebliche Gräueltaten der Regierung oder der Rebellen unabhängig und detailliert recherchiert werden können. Oft fällt es schwer, die tagesaktuelle Lage überhaupt zu sondieren: Wo befindet sich die Armee? Welche neuen Checkpoints gibt es? Welche Straßen sind befahrbar? Welches Dorf hält noch zu welcher Seite? Wie Beobachter im Rest der Welt sind auch Journalisten vor Ort auf die Facebook-Nachrichten von Aktivisten angewiesen.
Die Autoren dieses Textes berichteten aus verschiedenen Landesteilen für das Nahost-Magazin "zenith": Nils Metzger reiste im Sommer 2012 über die von der Freien Syrischen Armee (FSA) kontrollierte türkisch-syrische Grenze ins umkämpfte Aleppo; Daniel Gerlach gelangte im Frühjahr 2012 über die libanesische Nordgrenze an Syriens Küste und in die sogenannten Alawitenberge, von dort aus nach Damaskus und in die Umgebung von Homs. Selbst mitten in Damaskus konnte es zu dieser Zeit gelingen, über Kontaktleute Aufständische zu treffen. Diese Männer waren unmittelbar an der Revolte in Homs beteiligt und nach dem Generalangriff der Armee in der Großstadt untergetaucht. Sie operierten als eine Art Oppositionsgeheimdienst und versuchten, über Freunde, Verwandte und ehemalige Studienkollegen an Informationen über das Vorgehen der Sicherheitskräfte zu gelangen.
Kampf um Deutungshoheit
Beim Kampf um Deutungshoheit in den internationalen Medien erlangten die Aufständischen einen deutlichen Vorsprung gegenüber dem Regime: Die Haltung von Präsident Baschar al-Assad und seiner Getreuen, die das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte von Beginn an kategorisch leugneten und den Widerstand als islamistischen Terror diskreditierten, entbehrte jeglicher Glaubwürdigkeit. Während die Rebellen – wie auch die friedliche Oppositionsbewegung – nicht nur in großen Mengen Videomaterial produzierten, ja manche spontane Demonstration nur abhielten, um sie zu filmen und ins Internet zu stellen, reagierten die Sicherheitskräfte mit einer eifrigen, wenn auch nicht systematischen Unterdrückung der Berichterstattung.
Journalisten ohne Pressevisum, das sei angemerkt, wurden, sofern der Geheimdienst sie aufgreifen konnte, nicht etwa standrechtlich exekutiert, sondern in aller Regel zügig aus Syrien ausgewiesen. Im März 2012 drohte das Informationsministerium illegal eingereisten Journalisten allerdings in einem Kommuniqué: Als Unterstützer von Terroristen würden sie fortan "mit aller Härte strafrechtlich verfolgt".
Westlichen Reportern bot das Regime mit Verweis auf die brisante Sicherheitslage nur einige "geführte Gruppenreisen" an – die Praxis westlicher Streitkräfte, Journalisten im Militär zu "embedden" war nicht vorgesehen. Nur wenige – neben dem syrischen Staatsfernsehen auch einige russische Kamerateams – durften militärische Einheiten begleiten. Besondere Privilegien erlangte ein schiitischer Reporter namens Hussein Murtadha, der die Studios der iranischen Auslandssender Press TV und Al-Alam in Damaskus leitete. Murtadha erwies sich als besonders zynisch in seiner regimefreundlichen Darstellung der Kriegseinsätze in Idlib oder Homs. Im September 2012 wurde er bei einem, allem Anschein nach von Rebellen verübten, Anschlag schwer verletzt, sein 33-jähriger Mitarbeiter Maya Nasser tödlich verwundet. Beide Journalisten befanden sich zu dieser Zeit nicht etwa im Kugelhagel des Gefechts, sondern waren Ziel eines geplanten Mordanschlags. Murtadha, die Assad-Beraterin Bouthaina Shaaban und der damalige, inzwischen ausgereiste Sprecher des Außenministeriums, ein Christ namens Dschihad al-Makdisi, galten als tragende Säulen der Propagandaarbeit des Regimes.
Auch die offiziellen Geistlichen und Würdenträger der Konfessionsgruppen, darunter auch der bekannte katholische Pater Elias Zahlaoui, vertraten mehr oder weniger leidenschaftlich die offizielle Position Assads: teils aus Überzeugung, teils, weil sie glaubten, dass sie ihre Gläubigen auf diese Weise am besten vor Repressionen durch die Sicherheitskräfte oder der Gefahr eines offenen Konfessionskrieges beschützen könnten.
Solange das Regime sich sicher wähnte und glaubte, es könne die Rebellion bald niederschlagen, war es ortskundigen Journalisten noch vereinzelt möglich, mit einem Pressevisum einzureisen, sich aber dennoch der Kontrolle durch die Informationsbehörden zu entziehen.
Je brutaler sich die Auseinandersetzungen ausnahmen, desto schwunghafter entwickelte sich indes der Handel mit Handy-Videos, die über den Oppositionssender Ugarit TV oder Youtube verbreitet wurden: Als die ersten "Folter-Clips" zu Misshandlungen und Hinrichtungen von Gefangenen in Umlauf kamen, stand zu vermuten, dass Mitglieder der Sicherheitskräfte diese als Souvenirs herstellten. In Einzelfällen sollten diese Videos auch Oppositionelle abschrecken. Für die Rebellen stellten diese Beweisstücke einen hohen Wert dar, da sie die Grausamkeit des Regimes und die Rechtmäßigkeit der eigenen Sache deutlich machten. Aktivisten berichteten, dass sie solche Videos mitunter über Mittelsmänner für hohe Summen kauften – ein finanzieller Anreiz für die Folterer, noch mehr Clips zu produzieren. Dieses Geschäftsmodell zählt zu den zahlreichen Absurditäten des Syrien-Konflikts – ebenso wie der Umstand, dass es FSA-Rebellen gelang, Armeeoffiziere zu bestechen und schwere Waffen aus Militärbeständen durch die Front zu schmuggeln. In Einzelfällen sollen Aufständische auch Foltervideos nachgestellt haben. Die moralische Rechtfertigung für solche Manipulationen: Diese Dinge geschahen ja auch in der Realität.
Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts und solcher – oft genug auch misslingenden – Manipulationsversuche bildete sich auch in Deutschland eine internetbasierte "Gegenöffentlichkeit", deren Engagement zwischen forscher Medienkritik und der Verbreitung von Verschwörungstheorien changiert. Der Fotograf und Kameramann Marcel Mettelsiefen berichtete für den "Spiegel", diverse Fernsehsender und "zenith" insgesamt zehn Mal aus Syrien: Als die ARD um Weihnachten 2011 seine Reportage "Heimlich in Homs" ausstrahlte und den Autor zu seinem Schutz nicht namentlich nannte, tauchten in Internetblogs zum Teil akribische "kritische Analysen" der Arbeit Mettelsiefens auf: Ein Kritiker präsentierte angebliche Bildbeweise dafür, dass die Kriegsbilder aus Homs und die Leiden der Zivilbevölkerung mithilfe westlicher Geheimdienste inszeniert worden seien – in einer Art Kulissenstadt. Wenige Wochen später bekannte sich Mettelsiefen zu seinen zahlreichen Berichten und Fotos aus Syrien.
Die unklare Informationslage erleichtert es den Konfliktparteien, Quellen und Fakten, auf die sich die Gegenseite beruft, fortwährend anzufechten. Prominentes Beispiel ist die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in Großbritannien, die regelmäßig Zahlen von Toten und Verletzten aus Syrien vermeldet und in vielen Agenturnachrichten zitiert wird. Auch wenn diese Organisation nach eigenen Angaben über ein Netzwerk von mehreren hundert Informanten in Syrien selbst verfügt, besteht sie aus nicht mehr als einer Handvoll ehrenamtlicher Mitarbeiter und syrischer Regime-Gegner im Exil. Nicht zuletzt deshalb bezweifeln Kritiker die Zuverlässigkeit dieser Nachrichtenquelle.
In einigen Fällen hatte die internationale Berichterstattung auch drastische Auswirkungen auf das Geschehen in Syrien selbst: In den rebellierenden Stadtvierteln von Homs hatten sich zu Beginn zwei charismatische Persönlichkeiten an die Spitze der Opposition gestellt. Die alawitische – und deshalb als Verräterin vom Regime besonders gehasste – Theaterschauspielerin Fadwa Sulaiman und der sunnitische Profi-Fußballer Abdel Baset Sarout wollten mit ihrer Präsenz auch zeigen, dass der Aufstand kein Konfessionskrieg zwischen Alawiten und Sunniten sei. Im Dezember 2011, als die Angriffe der Armee an Heftigkeit zunahmen, verließ Fadwa Sulaiman die Stadt. Eines Abends versammelten sich die Aufständischen im Viertel Khalidiya zu einer Kundgebung. Der Journalist Marcel Mettelsiefen befand sich in Homs und filmte, wie Abdel Baset Sarout den Protestchor anführte. Diesmal stand Sarout an der Seite eines sunnitischen Straßenpredigers, der zum Mikrofon griff und sinngemäß ausrief: "Wir machen die Alawiten fertig!" Die Menge skandierte den Satz und Sarout machte keinerlei Anstalten zu protestieren.
Als der französische TV-Sender CanalPlus das Material in einem kurzen Magazinbeitrag ausstrahlte, war dies ein herber Schlag für die säkulare Opposition – in Europa, im Libanon, aber auch in Syrien selbst. Der Clip lieferte ein willkommenes Beweisstück für das Regime und seine Anhänger für die "wahren" Beweggründe der Rebellion. Auch zahlreiche friedliche Aktivisten in Damaskus zogen sich in dieser Zeit frustriert aus dem aktiven Widerstand zurück.
Am 25. und 26. Mai 2012 fielen in der Gemeinde Al-Hula nahe Homs 108 Männer, Frauen und Kinder einem Massaker zum Opfer. Die historischen Parallelen waren schnell gefunden: My Lai, Sabra und Schatila, Srebrenica seien von gleicher Qualität gewesen, hieß es in deutschen Medien. Zu dieser Zeit befanden sich noch UN-Beobachter im Land und konnten die Leichen der Dorfbewohner in Augenschein nehmen. Untersuchungen bestätigten Presseberichte, die die Morde regimetreuen Paramilitärs (sogenannte Schabiha-Milizen) anlasteten. In einem ideologisch weitgehend verfahrenen Konflikt wie dem syrischen Bürgerkrieg können auch UN-Berichte keine Überzeugungsarbeit leisten. Aber sie verleihen einer Version der Darstellung immerhin Autorität im Ausland. Gleichwohl können UN-Berichterstatter in Syrien weder mit kriminalistischen Methoden vorgehen noch investigativ ermitteln.
Als Rainer Hermann, Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ), Anfang Juni 2012 in mehreren Beiträgen die Version vertrat, das Massaker sei nicht von Regime-Milizen, sondern von Rebellen verübt worden, verwarfen diverse internationale Medien diese Argumentation. "Spiegel"-Reporter Christoph Reuter reiste nach Hula und vernahm etliche Zeugen, die deckungsgleich aussagten: Schabiha-Milizen seien nach Hula eingerückt und hätten die Bewohner massakriert, nachdem die FSA dort infolge einer taktischen Fahrlässigkeit abgezogen sei. Allerdings führt eine Google-Suche zu "Al-Hula" heute vor allem zu oppositionskritischen Artikeln und Blogs, die an oberster Stelle stehen. Unter "medienkritischen" Bloggern, die sich sowohl im linken, rechten, aber auch islamkritischen Spektrum ansiedeln, stieß der FAZ-Beitrag auf großen Anklang. Die Mehrheit der internationalen Berichterstatter wurde dort als naiv, Nato- oder USA-hörig beschimpft.
Manche politisch interessierte Medienkonsumenten neigen dazu, den Journalisten angesichts der verworrenen Lage in Syrien Voreingenommenheit und Manipulationsabsichten zu unterstellen. Das hängt bei aller berechtigten Kritik auch damit zusammen, dass sie mit den technischen, logistischen und nicht zuletzt finanziellen Zwängen der Arbeit vor Ort nicht vertraut sind.
Der Umstand, dass der US-amerikanische Syrienexperte Joshua Landis auf seinem Fachblog "Syria Comment" in den vergangenen zwei Jahren bereits mehrfach den nahen Untergang des Assad-Regims verkündete, ohne dass dies eintrat, wurde unter den Korrespondenten vor Ort mit Kopfschütteln aufgenommen, während internationale Nachrichtensender Landis’ Vermutungen umgehend auf den News-Ticker brachten. Der renommierte Nahostreporter Robert Fisk schrieb für den "Independent" vergleichsweise verharmlosende Berichte aus staatlichen Foltergefängnissen. Dennoch sind beide regelmäßige Teilnehmer in Fernsehdebatten, werden von Zeitungsmachern für ihre meinungsstarken und streitbaren Thesen geschätzt. Dies stößt bei vielen der oft jungen Fotografen und Reporter vor Ort in den umkämpften Gebieten auf Unverständnis.
Da in Syrien gegenwärtig nur eine begrenzte Zahl an Journalisten, Übersetzern und sogenannten Fixern tätig ist, verbreiten sich Informationen über unsaubere Recherchen relativ schnell. Korrespondenten sind auf die Zuverlässigkeit von Informationen angewiesen – Selbstkontrolle wie Manöverkritik sind essenziell. Dies führte etwa dazu, dass einzelne Reporter nach Fehlverhalten aus internen Facebook-Foren für Syrien-Korrespondenten hinausgeworfen wurden.
Fest steht, dass viele Journalisten ihre Berichterstattung mit Engagement verbinden – für die notleidende Bevölkerung und in manchen Fällen auch für die kämpfenden Rebellen. Reporter transportieren schwer verletzte Menschen über die Grenze, vereinzelt aber auch Munition von einem Kampfgebiet ins andere. Einige setzen sich für medizinische Hilfe oder Visa ein, stellen aber auch Kontakte zwischen Oppositionellen, westlichen Regierungen und Geheimdiensten her. Gleichzeitig hat sich die Öffentlichkeitsarbeit der FSA und ihrer Unterstützer seit Ausbruch des Krieges deutlich professionalisiert. Nahezu jede von Rebellen gehaltene Ortschaft verfügt über ein Pressezentrum, in dem Journalisten unterkommen, Kontaktpersonen treffen und Neuigkeiten erfahren. Diese Büros sind Ausgangspunkt für Recherchen. Ebenso erlangen die Rebellen auf diese Weise einen Überblick über die Medienpräsenz in ihrem Ort und erleichtern oder erschweren die Arbeit. Es gilt als gesichert, dass etwa das Pressezentrum der Grenzstadt Azaz schwarze Listen mit den Namen unerwünschter Pressevertreter führt.
Journalisten stellen nicht zuletzt ein Risiko dar: So führte etwa die wiederholte namentliche Nennung eines Aleppiner Krankenhauses – zumindest nach Darstellung einiger dort tätiger Mediziner und des Aleppo Medical Councils – zur Bombardierung des Gebäudes durch die syrische Luftwaffe. Viele für die Versorgung der Bevölkerung wichtige Einrichtungen sind für Fotografen inzwischen gesperrt oder nur unter Auflagen zugänglich. Zu groß ist die Furcht einiger Rebellengruppen, Kommandostellungen zu verraten oder Zivilisten in Gefahr zu bringen.
Islamisten und Dschihadisten
Kritische Berichte über die Präsenz ausländischer Islamisten und Dschihadisten stoßen bei den Rebellen auf wenig Gegenliebe. Solche Stories verzerren nach Ansicht der FSA das Bild vom Volksaufstand in unzulässiger Weise. Und sie bestätigen die Zweifler im Westen – etwa wenn es um die Frage geht, ob westliche Geheimdienste grünes Licht erhalten sollen, um die FSA mit Hightech-Waffen gegen die syrische Luftwaffe zu beliefern.
Der FSA muss man zugestehen, dass Konkurrenzdruck der Medien und Marktnachfrage tatsächlich eine Schieflage in die Berichterstattung bringen können: Der Appetit der Heimatredaktionen nach Reportagen über Flüchtlingselend oder den "einfachen Mann", der mit der Waffe Haus und Hof verteidigt, ist längst gestillt. Wer hingegen die gefürchteten Dschihad-Brigaden an der Front aufspürt, findet sicher Abnehmer für seine Reportage. Auf der Suche nach solchen Geschichten haben sich zahlreiche Journalisten in Gefahr begeben – einige erlebten dabei auch das zweifelhafte Abenteuer einer Entführung.
Unter den kämpfenden Dschihadisten haben sich insbesondere zwei Gruppen hervorgetan: Dschabhat al-Nusra und Ahrar al-Scham. Erstere werden meist als Ableger der irakischen al-Qaida beschrieben. Gesicherte Informationen über ihre Zusammensetzung, Finanzierung und Methoden sind rar. Beide Organisationen reagieren entsprechend reserviert oder ablehnend auf Presseanfragen. Das erste Lebenszeichen der Dschabhat al-Nusra vernahm man im Januar 2012. In einem Propagandavideo bezichtigte sich ein gewisser Abu Muhammad al-Golani mehrerer Bombenanschläge auf Gebäude staatlicher Geheimdienste in Aleppo und Damaskus. In seinen Botschaften rief der zuvor völlig unbekannte Golani auch Sunniten in den Nachbarländern Syriens zum Dschihad gegen das Assad-Regime auf: im Namen der Dschabhat al-Nusra.
Manche Beobachter, darunter "Spiegel"-Journalist Christoph Reuter, zweifeln daran. Reuters Recherchen zufolge waren die Anschläge von der Regierung selbst inszeniert, Dschabhat al-Nusra ein von den Geheimdiensten in die Welt gesetztes Gespenst mit dem Ziel, die Angehörigen der verängstigten religiösen Minderheiten auf Assad als ihren Beschützer einzuschwören. Als Indiz führte Reuter auch an, dass einige Attentate außerhalb der Dienstzeiten stattfanden und kaum Opfer unter den Sicherheitskräften forderten.
Womöglich erwies sich die "Siegesfront", so die wörtliche Übersetzung, aber als sich selbsterfüllende Prophezeiung: Vor Beginn des Aufstands unterhielten syrische Geheimdienste Beziehungen zu al-Qaida-Kämpfern, die nach 2003 über Syrien in den Irak einsickerten und dort Anschläge verübten. Je nach politischer Großwetterlage ließ das Regime solche Dschihadisten verhaften oder wieder laufen. Unter Oppositionellen kursierte schon zu Beginn des Aufstands die Vermutung, dass das Regime seine Kontakte zu al-Qaida-Veteranen nutzte, um durch sie die friedlichen Proteste zu unterwandern und als terroristische Verschwörung darstellen zu können.
Als im Sommer 2012 junge, dschihadistisch-sunnitische Milizionäre aus dem Umland Aleppos den Sturm auf die Millionenstadt begannen, suchten sie nach Bezugspunkten und Identifikationsfiguren. Sie fanden sie in den Bekennervideos der Dschabhat al-Nusra. Dutzende Gruppen legten sich innerhalb weniger Monate das schwarze "Märtyrer-Banner" zu und stellten die Regierungstruppen mit Selbstmordattentaten und besonders kühnen und mutigen Frontalangriffen vor gewaltige Probleme. Das erhöhte die Strahlkraft der Radikalen nur noch weiter, auch wenn säkulare FSA-Offiziere schon im Herbst vor einem Zuwachs radikaler Kräfte in Syrien warnten. Agierte Dschabhat al-Nusra im vergangenen Oktober noch zurückhaltend und verschwiegen, tritt sie nun deutlich offensiver auf. Ihre Milizen sind die geachteten Rüpel an der Frontlinie und werben Kämpfer von anderen Freischärlerbrigaden ab. Operationen werden nicht mehr gemeinsam geplant; in Teilen Aleppos haben die Dschihadisten die Brotausgabe übernommen und finanzieren ihre eigene, von der FSA unabhängige Kriegskasse angeblich mit Plünderungen, wie die britische BBC in einem Radiobeitrag Mitte Januar 2013 berichtete.
Kriegsschauplatz Syrien – die aktuelle Lage (31. Januar 2013)
Charakteristisch für den syrischen Aufstand war von Beginn an seine Dezentralität. Bis heute haben Kämpfer und Aktivisten nur eingeschränkt Kontakt in andere Landesteile.
Seit der Eroberung von Gebieten in und um Aleppo im Sommer 2012 verfügen die FSA und andere Brigaden über stabile Versorgungswege aus der Türkei. Die staatlichen Truppen reiben sich im Häuserkampf auf, auch wenn das Regime aus Angst vor Desertionen in den vergangenen Wochen zu versuchen scheint, Soldaten aus dem Gefecht „Mann gegen Mann“ herauszuhalten, und diese blutige Aufgabe den Paramilitärs zuweist. Um die Sicherheit der Zivilisten war es dennoch nicht gut bestellt, da die Luftwaffe anhaltend Schulen, Krankenhäuser, Bäckereien und Wohnhäuser unter Beschuss nahm. Zwar litten auch die Flüchtlinge auf der türkischen Seite der Grenze unter dem Winterwetter, sie verfügten jedoch weitgehend über ausreichend Nahrungsmittel, Decken und sanitäre Anlagen. Die Lage in den größten jordanischen Flüchtlingslagern, etwa in Zaatari, ist deutlich prekärer.
Während sich der Krieg in den Wintermonaten 2012 auf 2013 vom Stadtgebiet Aleppos auf die Militärbasen und Flughäfen der Region verlagerte, verschlimmerten sich die Zustände innerhalb der von den Rebellen kontrollierten Viertel Aleppos. Aus anderen Stadtteilen ist jedoch zu hören, dass die Polizei minimale Ordnungsaufgaben übernimmt und sich Polizisten auf beiden Seiten der Front sogar koordinieren. Katastrophal wirkt der Mangel an öffentlichen Dienstleistungen wie etwa der Wasserversorgung oder der Müllabfuhr. Stadträte und zivilgesellschaftliche Organisationen sind darum bemüht, eine funktionierende Rechtsordnung aufrechtzuerhalten, gegen die schwindende Moral können sie kaum etwas unternehmen. Sowohl die „Entführungsindustrie“ als auch die Plünderungen durch Freischärler und kriminelle Banden nehmen deutlich zu. Nachdem einzelne FSA-Kommandeure beschuldigt wurden, Brotrationen veruntreut zu haben, wurden Rufe nach der als brutal, aber unbestechlich geltenden dschihadistischen al-Nusra-Front lauter, die zu einer der treibenden militärischen Kräfte hinter dem Aufstand werden könnte. Diese Entwicklung scheint dazu beizutragen, dass die Bereitschaft westlicher Staaten, die Rebellen mit Luftabwehrwaffen und panzerbrechender Munition auszurüsten, deutlich abgenommen hat. Unklar ist, welche logistische Unterstützung die Geheimdienste der Türkei, Saudi-Arabiens oder Katars leisten. Die Nachschubwege der Regime-Truppen und -Milizen verlaufen nach Erkenntnissen von Nachrichtendiensten zu einem erheblichen Teil über den Luft- und Landweg aus Iran und Irak.
In den ärmeren Vororten der Hauptstadt Damaskus, die lange Zeit von schweren militärischen Auseinandersetzungen verschont geblieben war, wird erbittert gekämpft. Andererseits gibt es selbst in der Umgebung der Stadt Homs – ein Brennpunkt des Aufstands – Dörfer, in denen bislang nicht ein Schuss gefallen ist. Das Einflussgebiet der Rebellen reicht inzwischen auch an die sogenannten Alawitenberge an der nördlichen syrischen Mittelmeerküste heran. Die Bombardements der Luftwaffe, die offenbar die Kontrolle über den strategisch wichtigen Flughafen Aleppo verloren hat, folgen nach Eindruck mancher Beobachter inzwischen einer neuen Strategie: Während die Angriffe in den vergangenen Monaten darauf abzielten, die Rebellen militärisch zu unterdrücken und aufständische Städte und Stadtviertel zu bestrafen, geht es nun offenbar auch um gezielte Vertreibungen. Bestimmte, traditionell multireligiöse Gebiete sollen „konfessionell gereinigt“ werden, um an der Küste, in Homs und Damaskus sowie entlang der libanesischen Grenze einen alawitisch-schiitischen Korridor zu errichten. Eine entsprechende Vertreibungspraxis lässt sich mitunter auch seitens der von der sunnitischen Mehrheit gestützten Rebellen beobachten. Ob Aufständische auch gezielt gegen andere religiöse Minderheiten, etwa Christen oder Ismailiten vorgehen, bestreitet die FSA energisch.
Ganz gleich, was westliche Sender übermitteln – nach Lesart des Regimes und eines Teils der syrischen Bevölkerung verbreiten sie ohnehin nur Hetzpropaganda und stacheln einen Religionskonflikt, eine fitna, in Syrien an. Das syrische Polizei-Magazin etwa warnt regelmäßig vor dem Abhören von "Feindsendern": Auf der Umschlagseite der Verbandszeitschrift prangt der Slogan "Nein zur Fitna!" – darunter ein Gespenst mit Totenkopf, das kunstvoll mit den Logos von BBC, CNN, France 24, Al-Arabiya und Al-Dschasira verwoben ist.
Rolle von Al-Dschasira
Der einflussreiche Kanal Al-Dschasira steht besonders weit oben auf der Abschussliste der Armee: Ein Korrespondent wurde im vergangenen Sommer in Aleppo bei einer Live-Schalte bombardiert und während seiner Flucht schwer durch ein Schrapnell verletzt, ein anderer fiel Mitte Januar 2013 in Deraa einem Scharfschützen zum Opfer.
Aufgrund seiner Nähe zu politischen Akteuren – der Sender gehört der Herrscherfamilie des Emirats Katar – steht Al-Dschasira allerdings nicht nur in Damaskus in der Kritik. Der Sender erlangte durch seine umfangreiche Berichterstattung über den "Arabischen Frühling" den Ruf, immer vor Ort und immer näher dran am Geschehen zu sein. Al-Dschasira war die wichtigste Erfindung der arabischen Medienlandschaft der vergangenen Jahrzehnte. Solange das Emirat Katar keine eigenen außenpolitischen Ziele verfolgte, konnten die Mitarbeiter von Al-Dschasira weitgehend ungestört agieren. Allerdings hat Katar sich an die Spitze jenes Lagers in der arabischen Welt gesetzt, das nachdrücklich den Sturz Assads vorantreibt.
Kritischer Journalismus gegenüber der syrischen Opposition ist nach Aussagen ehemaliger Mitarbeiter nicht erwünscht – mehrere Korrespondenten verließen den Sender aus Protest gegen die Restriktionen, andere, wie die Moderatorin Rola Ibrahim, wurden zur Kündigung gedrängt. Auch der Deutschland-Korrespondent des Senders, der Syrer Aktham Sulaiman, warf das Handtuch. Die inhaltliche Färbung Al-Dschasiras vergiftet nach Meinung vieler Kritiker die Debatte über den Syrien-Krieg und zieht die Glaubwürdigkeit anderer aus den Rebellengebieten berichtender Medien in Zweifel. Eine weitere Praxis, die die Unabhängigkeit des Senders infrage stellt und die Position von Journalisten in Kampfgebieten schwächt: Al-Dschasira setzte sich an die Spitze der TV-Sender, die kritiklos Videomaterial sogenannter Bürgerjournalisten übernehmen.
Zwar verfügen viele der Amateurfilmer über ein journalistisches Berufsethos und riskieren vielfach ihr Leben, um an Aufnahmen zu gelangen, die für ausländische Kamerateams zu riskant wären. Aber nicht wenige von ihnen greifen auch zur Waffe, wenn es die Umstände verlangen. Das bestätigt die Regime-Truppen in ihrer Parole, Journalisten jenseits der Front seien Terroristen und auch als solche zu behandeln. Eine Videokamera oder eine sichtbare Kennzeichnung als Pressevertreter schützt niemanden mehr vor Scharfschützen – im Gegenteil. Aber das ist wohl der Preis des Medienwandels.
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