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Europa in der Welt: Ansätze, Möglichkeiten und Grenzen einer gemeinsamen Außenpolitik

Werner Link

/ 17 Minuten zu lesen

In der Medienberichterstattung über die Finanz- und Staatsschuldenkrise im Euro-Raum und die Entwicklung der Europäischen Union wird die Außendimension dieser Problematik häufig ausgeblendet oder nur am Rande berücksichtigt. Das ist ein gravierendes Manko. Denn ob und wie die Europäische Währungsunion stabilisiert und erhalten werden kann, ist von eminenter Bedeutung für Europas Stellung und Einfluss in der Welt. Es handelt sich eben nicht nur um eine binneneuropäische, sondern auch um eine außenpolitisch-internationale Machtproblematik. Sie betrifft die Beziehungen sowohl der einzelnen EU-Staaten als auch der gesamten EU zu ihrer Umwelt. Doch gibt es überhaupt eine gemeinsame europäische Außenpolitik? Diese Frage wird oft verneint. Herausragende negative Fälle – wie der Dissens im Irak- und im Libyen-Krieg – werden verallgemeinert und dienen als Belege für den angeblichen "Abschied" oder gar den "Tod" der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP).

Im Fall des Irak-Kriegs ist diese Schlussfolgerung nachweisbar unzutreffend. Denn der europäische Dissens hat die Bemühungen um eine gemeinsame europäische Außenpolitik nicht geschwächt, sondern gestärkt – mit dem Ergebnis der ersten Europäischen Sicherheitsstrategie im Krisenjahr 2003. Was den Fall Libyen anbelangt, so hat die EU zwar keine hard power, aber soft power kohärent eingesetzt (Waffenembargo, Wirtschaftssanktionen, humanitäre Hilfe), und eine militärische Syrien-Intervention lehnt die EU geschlossen ab. Eine vorschnelle pauschale Antwort auf die eingangs gestellte Frage verbietet sich also. Vor allem ist nach Teilbereichen zu differenzieren. Insgesamt betrachtet, wird die folgende Analyse erweisen: Das Glas ist nicht leer, allerdings auch nicht ganz voll. Es ist halb leer und also (positiv ausgedrückt) halb voll.

Außenpolitische Ratio der Europäischen Integration

Zunächst sollte man sich über Sinn und Zweck der Europäischen Integration klar werden. Seit einiger Zeit wird darüber wieder diskutiert. Dabei ist viel von der "Gründungserzählung" der Europäischen Integration die Rede, bezogen auf die Binnensituation in Europa nach den beiden Weltkriegen. Sinn und Zweck der Integration sei es gewesen, Krieg in Europa zwischen den Staaten unmöglich zu machen. Das ist gewiss zutreffend. Doch zugleich zielte und zielt die Europäische Integration auf die machtpolitische Mitgestaltung der Weltpolitik. Das heißt: Es gab und gibt nicht nur eine innereuropäische, sondern auch eine außenpolitisch-globale Ratio der europäischen Integration. Diese raison d’Europe hat Jean Monnet in seinem richtungweisenden Memorandum vom 3. Mai 1950 trefflich definiert. In der außenpolitischen Kernaussage heißt es: Die Schaffung eines dynamischen Europas sei für eine friedliche Zukunft der Welt unverzichtbar. Europa müsse und werde "wenn es sich an die neuen Bedingungen der Welt anpasst, seine schöpferischen Fähigkeiten entwickeln und so, graduell, als eine ‚force d’équilibre‘ hervortreten": Ein sich integrierendes Europa als Balance- und Gestaltungsmacht in der Welt! Eine ähnliche Ratio-Bestimmung nahm die Europäische Gemeinschaft in ihrem Dokument über die europäische Identität am 14. Dezember 1973 vor: Die EG sei "ein Element des Gleichgewichts und ein Pol der Zusammenarbeit".

Was damals formuliert wurde, ist unter den neuen Bedingungen der multipolaren Welt von der EU und ihren großen Mitgliedstaaten (insbesondere von Frankreich) oft wiederholt worden. Europe puissance und pôle majeur de l’équilibre mondial sind die Schlüsselbegriffe. In der Berliner EU-Ratserklärung anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge (25. März 2007) heißt es schließlich lapidar: "Der Gemeinsame Markt und der Euro machen uns stark." Es ging und geht also um die macht- und ordnungspolitische Positionierung Europas im internationalen System. Nach seinem Selbstverständnis hat das sich integrierende Europa eine zweifache Zweck- und Zielbestimmung: Zum einen als Gleichgewichtsmacht in der Welt, um sich selbst behaupten und seine Interessen gemeinsam wirkungsvoll vertreten zu können; zum anderen als antihegemonialer Staatenverbund, um ein "integratives Mächtegleichgewicht" in Europa zu schaffen und zu erhalten.

Strukturelle Grundprobleme

Die Konkretisierung dieser raison d’Europe hat sich infolge des internen und internationalen Wandels verändert, aber einige Grundprobleme sind nach wie vor von großer Bedeutung. Dabei ist nach generellen und für die Außen- und Sicherheitspolitik speziellen Problemen zu unterscheiden: Ein Hauptproblem der internen Organisation ist das Mischungsverhältnis von Vergemeinschaftung/Supranationalität und Intergouvernementalismus, wobei in der Außen- und Sicherheitspolitik die intergouvernementale Zusammenarbeit immer dominierte. Das strukturbestimmende Hauptproblem inhaltlicher Art ist die Heterogenität, die mit der Erweiterung extrem groß geworden ist. Das Kerneuropa-Konzept der differenzierten Integration, das im Teilbereich der Währung mit der Eurogruppe und im Teilbereich der Grenzkontrollen mit der Schengengruppe realisiert wurde, ist die konstruktive Antwort auf dieses Problem. Wie gravierend die Heterogenität sogar für die Kerngruppe der Europäischen Währungsunion ist, bedarf angesichts der aktuellen Erfahrungen keiner weiteren Erläuterung.

Außen- und sicherheitspolitisch zeigt sich die Heterogenität in unterschiedlichen nationalen Interessen und außenpolitischen Traditionen. Für die osteuropäischen Mitgliedstaaten ist das Verhältnis zu Russland ein kritischer Punkt. Bei den Führungsmächten differieren die "strategischen Kulturen". Das Vereinigte Königreich ist in der Außen- und Sicherheitspolitik unter anderem aufgrund seiner besonderen Beziehung (special relationship) mit den USA ein notorischer Bremser. Während in einigen Bereichen (wie bei der Euro- und der Schengengruppe) das Fernbleiben des Vereinigten Königreichs verkraftbar ist, ist eine europäische Sicherheitspolitik ohne die britische Mitwirkung nicht realisierbar. "Trianguläre Führung" ist notwendig.

Zu berücksichtigen ist ferner, dass die USA, vermittelt durch die NATO, nicht nur für die britische Europapolitik, sondern generell für die Umsetzung der raison d’Europe relevant sind: Von einem externen Föderator zu Anfang der 1950er Jahre sind sie seit geraumer Zeit zu einem Divisor geworden. Beim Irak-Konflikt spaltete die US-Regierung die EU ganz unverhüllt (mit britischer und spanischer Hilfe). Die entsprechende konzeptionelle Maxime lässt sich auf den Nenner bringen: Die politische Einigung und Einheit Europas liegt nur dann auch im amerikanischen Interesse, wenn zu erwarten und gewährleistet ist, dass Europa der amerikanischen Politik folgt. Eine gemeinsame europäische Außenpolitik ohne Emanzipation von den USA war und ist demnach schwierig. Inwieweit das neue Selbstverständnis der USA als "pazifische Macht" und ihre Staatsschuldenkrise das Verhältnis zu Europa verändern werden, ist schwer einzuschätzen. Im geoökonomischen Bereich ist eine symmetrische Beziehungsstruktur die Grundlage der europäisch-amerikanischen Partnerschaft, welche die EU und die USA im Transatlantischen Dialog ("Transatlantische Agenda") institutionalisiert pflegen – mit dem Ziel eines Freihandelsabkommens, das jüngst wieder ins Gespräch gebracht worden ist.

Speziell für die Außen- und Sicherheitspolitik ist ein weiteres Grundproblem bedeutsam, nämlich die Existenz zweier struktureller Dualismen. Der erste Dualismus besteht darin, dass die EU-Staaten einerseits eine eigenständige nationale Außenpolitik betreiben und andererseits Außenpolitik via EU. Die bilateralen diplomatischen Beziehungen mit anderen Staaten und die individuelle Mitgliedschaft in internationalen Organisationen wie in den Vereinten Nationen (und dort der ständige Sitz Frankreichs und des Vereinigten Königreichs im Sicherheitsrat) sind häufig vorrangig, wenngleich versucht wird, sich mit den anderen europäischen Staaten abzustimmen. Ulrike Guérot stellt dazu bedauernd fest, dass EU-Außenpolitik "oft genau dann Makulatur" werde, wenn (vermeintliche) nationale Interessen der großen EU-Staaten ihr entgegenstehen.

Der zweite Dualismus besteht darin, dass die EU-Länder, soweit sie der NATO angehören, ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik mittels des Atlantischen Bündnisses und mittels der EU betreiben. In der Ära des Ost-West-Konflikts beschränkte sich die europäische Integration notwendigerweise auf den wirtschaftlichen Bereich. Der Dualismus entstand mit der allmählichen Einbeziehung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den Aufgabenbereich der EU. Nach und nach sind einige Abkommen (wie die Berlin-plus-Vereinbarung) zwischen NATO und EU getroffen worden, die ihn mildern. Auch die Rückkehr Frankreichs in die militärische Verteidigungsstruktur tut ein Übriges. Weiter abschwächen dürfte sich dieser Dualismus infolge der zunehmenden Tendenz der USA, den europäischen NATO-Staaten bei Konflikten in Europa und der europäischen Nachbarschaft die Führung und die Nutzung der NATO-Kapazitäten zu überlassen.

In der Außenhandelspolitik ist der erstgenannte Dualismus trotz Vergemeinschaftung nur scheinbar nicht vorhanden. Denn die EU-Staaten praktizieren auch im handelspolitischen und außenwirtschaftlichen Bereich durch Kooperationsabkommen und andere Arten nationaler Konkurrenzpolitik eine autonome bilaterale Politik. Kurz- oder mittelfristig dürfte der Dualismus in diesem Bereich nicht zu überwinden sein.

Ansätze einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik

Trotz der skizzierten Hinderungsfaktoren gibt es in der europäischen Außenpolitik Ansätze einer erfolgreichen Gemeinsamkeit und einheitlichen Auftretens. Die Vergemeinschaftung der Handelspolitik bedeutet, dass die EU Vertragspartner ist und in der Welthandelsorganisation als einheitlicher Akteur bei der Gestaltung und Auslegung des handelspolitischen Regelwerks mitwirkt. Als größte Wirtschaftsmacht (rund 25 Prozent des Welt-Bruttoinlandsprodukts) ist sie objektiv ein Gleichgewichtsfaktor. Wenn die EU und die USA sich auf eine Position einigen, haben sie sogar einen bestimmenden Einfluss. Im Weltwährungssystem hat die EU erreicht, dass mit der Europäischen Währungsunion aus dem Monopol des US-Dollars annähernd ein Duopol wurde – gegen den Widerstand der USA. In der gegenwärtigen Krise verteidigt die währungspolitische Kerngruppe diese Position des Euro als zweite internationale Leitwährung.

Für die gemeinsamen Aktionen im nicht-ökonomischen politischen Bereich (einschließlich der militärischen Komponente) ist – hier nur stichwortartig benannt – eine ganze Reihe von Auf- und Ausbaumaßnahmen vorgenommen worden:

  • Aufbau des Eurokorps, das schon 1992 von Frankreich und Deutschland in Anknüpfung an die deutsch-französische Brigade begründet wurde; Belgien, Luxemburg und Spanien schlossen sich an; die Mannschaftsstärke beträgt rund 60.000;

  • Einrichtung von EU-Battlegroups (Kampfgruppen) als hoch mobile, meist multinationale Verbände in Bataillonsstärke, von denen mittels Rotation seit 2007 jeweils zwei für ein Halbjahr einsatzbereit gehalten werden;

  • Errichtung der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA);

  • Herstellung der Personalunion ("Doppelhut") zwischen dem Amt des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik und dem Amt des Außenkommissars und Vizepräsidenten der Kommission;

  • Formulierung einer Europäischen Sicherheitsstrategie, die 2003 als Gegenstück und inhaltlicher Gegenentwurf zur Nationalen Verteidigungsstrategie der USA trotz der Spaltung der EU bei der Irak-Intervention zustande kam und derzeit überarbeitet wird;

  • Aufbau eines Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD), der noch in seinen Anfängen steckt und nicht überschätzt, aber auch nicht unterschätzt werden sollte.

Vor allem aber ist die frühere Beschränkung auf eine außenpolitische "Deklarationspolitik" durch den neuen Typus des "Auftragshandelns" der EU-3 (Deutschland, Frankreich, Vereinigtes Königreich) überwunden worden. In den Verhandlungen mit Iran über dessen Nuklearprogramm hat er 2003 seine erste Realisierung gefunden – zunächst gegen den Widerstand der USA. Diese hochpolitische Aktivität der EU wurde zwar bald von US-Präsident George W. Bush geduldet, die Duldung wurde aber durch die Zusage der EU-3 erkauft, den Konflikt gegebenenfalls von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) auf den UN-Sicherheitsrat verschieben zu lassen, was dann auch geschah. Weil dort die fünf ständigen Mitglieder Deutschland hinzugezogen haben, findet bezüglich Iran weiterhin ein EU-3-Auftragshandeln unter der Regie der EU-Außenbeauftragten statt. Die Mitwirkung im Nahost-Quartett (bestehend aus den USA, Russland, EU und UN-Generalsekretär) ist ein weiteres Beispiel. Dort verhandelt die Hohe Vertreterin für gemeinsame Außenpolitik, Catherine Ashton, im Auftrag der EU – bisher jedoch (wie alle anderen Vermittler) ohne Erfolg.

Das Auftragshandeln geschieht manchmal informell. Beim Konflikt zwischen Georgien und Russland (August 2008) vermittelte sogar zunächst nur ein EU-Staat, nämlich Frankreich, im Namen der EU, und zwar erfolgreich. Auch formell hat die EU neue außenpolitische Handlungsmöglichkeiten für Teilgruppen eröffnet. Der Europäische Rat kann die Durchführung der von ihm einstimmig beschlossenen Missionen einer Gruppe von Mitgliedern übertragen (Art. 44 EUV), und diejenigen Mitgliedstaaten, "die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen weiter gehende Verpflichtungen eingegangen sind", begründen eine "Ständige Strukturierte Zusammenarbeit" im Rahmen der EU (Art. 42,6). Das ansonsten bei außen- und sicherheitspolitischen Fragen gültige Prinzip der Einstimmigkeit der Ratsentscheidungen ist bei der "Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit" zugunsten qualifizierter Mehrheitsentscheidungen aufgegeben worden. Das heißt, diejenigen Staaten, die willens und fähig sind, können gemeinsam handeln, ohne von den anderen blockiert zu werden.

Mit der bereits 2004 gegründeten Europäischen Verteidigungsagentur war ursprünglich die Hoffnung verbunden, dass sie in der Verteidigungspolitik wie ein "Gravitationszentrum" fungieren werde. Doch dadurch, dass sich außer Dänemark alle EU-Mitglieder beteiligen, entsteht – anders als in der Währungspolitik – keine proaktive Kerngruppe, keine Avantgarde der vertieften Integration. Die EVA hat den Schwerpunkt ihrer Arbeit im Rüstungskooperationsbereich. Wichtiger für die operative Politik der EU-Missionen sind der Militärausschuss (mit zivil-militärischer Planungszelle) und der Militärstab. Das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK), das sich aus Vertretern der EU-Staaten zusammensetzt, dient als politisches Kontroll- und Leitungsgremium bei Krisenbewältigungsoperationen. Nach wie vor verhindert das Vereinigte Königreich die Errichtung eines EU-Hauptquartiers. Nicht nur die materielle, sondern auch die organisatorisch-institutionelle Ausstattung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ist noch immer unzulänglich.

So ist denn auch offenkundig, dass die EU zu großformatigen, robusten Militäraktionen nicht fähig ist. Sie war und ist aber durchaus zu politisch wichtigen militärischen und militärisch-zivilen Missionen bis hin zu kleineren Kampfeinsätzen in der Lage. Die Liste dieser Missionen in Krisenregion ist beachtlich – mit Schwerpunkten auf dem Balkan und zunehmend in Afrika. Die gemeinsame europäische Außenpolitik hat bei der Krisenbewältigung also sehr wohl eine gewisse Deckung durch militärische Macht.

All das ist zugegebenermaßen weit entfernt von der Entstehung und dem Einsatz einer schlagkräftigen europäischen Armee. Diesbezügliche Erwartungen oder gar Forderungen sind Wunschträume. Sie werden sich in absehbarer Zukunft nicht erfüllen. Meines Erachtens ist das nicht unbedingt bedauerlich. Auch die deutsche "Kultur der (militärischen) Zurückhaltung" und der "Parlamentsvorbehalt" (der im Grunde nicht anderes ist als das Parlamentsrecht in den anderen europäischen Staaten, über den Eintritt ihres Landes in einen Krieg zu entscheiden) erschweren zwar das rasche Zustandekommen gemeinsamer Militärinterventionen, aber verhindern keineswegs den Auf- und Ausbau von EU-Militärstrukturen. Sie stünden auch dem Aufbau eines europäischen Hauptquartiers nicht im Wege. Sie bilden allerdings ein Hemmnis gegen einen ungebremsten globalen Interventionismus. Die EU ist strukturell nicht angriffsfähig und sollte es nicht werden. Für große militärische Kriseninterventionen kann auf die NATO oder auf Ad-hoc-Koalitionen zurückgegriffen werden. Auch der Aufbau eines Raketenabwehrschildes erfolgt sinnvollerweise im Rahmen der NATO und nicht im EU-Rahmen – schon alleine deshalb, weil die strategisch wichtige Türkei nicht Mitglied der EU ist.

Wohl gemerkt, der Einfluss der EU in der Welt wird primär durch ihre Wirtschaftsmacht ausgeübt. Die Entwicklungshilfe ist ein fester Bestandteil der EU-Außenbeziehungen. Zunehmend wird die wirtschaftliche Macht aber auch als Zwangsmittel eingesetzt – in einem breiten Spektrum von nicht-militärischen Sanktionen. Gegenwärtig sind 31 Staaten und einige Terrororganisationen davon betroffen. Völkerrechtlich problematisch sind diejenigen Fälle, die nicht durch Sanktionsbeschlüsse des UN-Sicherheitsrats legitimiert sind und mit einem anfechtbarem Rechts- und Selbstverständnis als "autonome Sanktionen" bezeichnet werden. Die Syrien-Sanktionen sind das aktuelle Beispiel. Über die Wirkungen derartiger Zwangsmaßnahmen wird kräftig gestritten; ebenso über ihren Stellenwert: Den Einen gelten sie als Beleg dafür, dass die EU-Außenpolitik "alles andere als zahnlos" sei, die Anderen argumentieren, dass der EU "die militärischen Mittel zur Sanktionsfähigkeit von Machtansprüchen fehlen" und damit die europäische Außenpolitik "leider vorerst zahnlos" bleibe. Entscheidend für ein realistisches Urteil dürfte die differenzierende Analyse der jeweiligen Konfliktfälle sowie Art und Umfang des "Machtanspruchs" sein.

Die breit gefächerte Europäische Nachbarschaftspolitik zur Stabilisierung der Ränder der EU bedient sich ebenfalls prinzipiell ökonomisch-politischer (nicht militärischer) Mittel – bilateral mit "Aktionsplänen" und multilateral (unter anderem im Rahmen der Union für das Mittelmeer und der Östlichen Partnerschaft). Auf der Ebene der globalen multilateralen Politik ist die konstruktive Rolle Europas trotz interner Widerstände (insbesondere aus Polen) beim internationalen Klimaschutz allgemein anerkannt. Neuerdings engagiert sich die EU auch bei der Neuregulierung der Internationalen Telekommunikation durch die Entwicklung einer europäischen Cyber-Außenpolitik, um die Prinzipien der Netzneutralität und der Zugangs- und Nutzungsfreiheit zu wahren.

Der wohl wertvollste Beitrag der EU zur Strukturierung der Weltordnung ist ihr kooperativer Interregionalismus. Die EU hat vertraglich institutionalisierte Kooperationsbeziehungen nicht nur mit den großen Mächten USA, China und Russland, sondern auch mit fast allen Regionalorganisationen. Das ist umso bedeutsamer, als der Regionalismus weltweit zu einem zweiten Strukturprinzip (neben dem staatlichen) geworden ist. Der interregionale Beziehungszusammenhang bietet der EU, zumal sie selbst eine Regionalorganisation ist, optimale Chancen, ihre Interessen zu vertreten. Und sie nutzt diese Chancen intensiv. Ihre eigene antihegemoniale Ratio, die sie von den Großmächten USA und China unterscheidet, wird von den Entwicklungsländern und deren Regionalorganisationen goutiert. Trotz ihrer internen Probleme gilt die EU außereuropäischen Regionalorganisationen mehr denn je als Vorbild und als willkommener Kooperationspartner.

Zusammenfassung und Ausblick

Ist Jean Monnets Zielbestimmung der europäischen Integration Wirklichkeit geworden? Die Europäische Union hat sich in der multipolaren Welt in der Tat graduell zu einer force d’équilibre und zu einem Pol der Zusammenarbeit entwickelt – nur schwach im militärischen Bereich, am stärksten und voll ausgeprägt im Weltwirtschafts- und Handelssystem. Sie fungiert dort als Mitgestaltungsmacht. Sie ist – um ein Modewort zu gebrauchen – systemrelevant.

Der Befund ist eindeutig, seine wichtigsten Aspekte seien abschließend zusammengefasst: Ein gemeinsame europäische Außenpolitik kam und kommt nur dann zustande, wenn Deutschland und Frankreich sich verständigen (was häufig Kompromisse erfordert). Nach Möglichkeit wird das Vereinigte Königreich in die Führung einbezogen – zumindest im militärischen Bereich. Wenn die "trianguläre Führung" nicht realisierbar ist, weil das Vereinigte Königreich sich verweigert, wird entweder eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik blockiert oder Deutschland und Frankreich gehen voran, und das Vereinigte Königreich lenkt eventuell später ein. Sind die Positionsdifferenzen zwischen Deutschland und Frankreich handlungsbestimmend (wie beim Libyen-Konflikt), wird die französisch-britische Zusammenarbeit aktiviert, die im militärischen Bereich zwischen den beiden Nuklearmächten gepflegt wird und parallel zur deutsch-französischen Zusammenarbeit verläuft. Das innovative "Auftragshandeln" der EU-3 entspricht der machtpolitischen Realität, dem politischen Gewicht der drei Hauptmächte. Die Führung in der EU-Außenpolitik durch die EU-3 oder durch das deutsch-französische Duo ist aber nur dann erfolgreich, wenn andere EU-Staaten sie aufgrund ihrer eigenen Interessenlage akzeptieren und unterstützen. Demgemäß ist die förmliche, vertraglich geregelte Bildung von Kerngruppen in den genannten Politikbereichen bewerkstelligt worden – jeweils ohne das Vereinigte Königreich. Es toleriert jedoch diese Entwicklung.

Schon anlässlich der Maastricht-Entscheidung über die Europäischen Währungsunion hat der damalige Premierminister John Major ein "Multi-Core-Europe" ins Gespräch gebracht und ausdrücklich erklärt, die Anwendung dieser Politik wäre auch im Verteidigungsbereich möglich. Mit der "Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit" ist dieses Strukturelement tatsächlich dort etabliert (zwecks flexibler Umsetzung der EU-Missionen). Die bremsenden Kräfte innerhalb der EU sind jedoch noch erheblich. Hingegen ist das Eurokorps, das von Deutschland und Frankreich geschaffen wurde und in Straßburg ein eigenes Hauptquartier hat, weiterentwickelt und mit beachtlichem Erfolg für die sicherheitspolitischen Belange der EU operativ eingesetzt worden.

Die Methode der "Verstärkten Zusammenarbeit" einer Gruppe von mindestens neun Mitgliedstaaten, die zur Zeit zwecks Einführung der Finanztransaktionssteuer praktiziert wird, könnte auch im außenpolitischen Bereich angewendet werden (allerdings nur aufgrund eines einstimmigen Ratsbeschlusses). Entscheidend war und ist, ob die nach und nach eröffneten Möglichkeiten von den Führungsmächten genutzt werden oder nicht. Insgesamt betrachtet, markieren gegenwärtig vier Eckpunkte das außen- und sicherheitspolitische Options- und Handlungsfeld der EU – für die europäische Entscheidungs- und Konsensfindung sind sie maßgeblich:

  1. Die EU beschließt – auf höchster Ebene – allgemeine Richtlinien und fallbezogene Missionen (einschließlich der militärischen) zur Krisenbewältigung.

  2. Die EU ist geoökonomisch ein strategischer Akteur.

  3. Die EU ist "Auftraggeberin" für das gemeinsame außenpolitische Handeln der drei Führungsmächte und von Teilgruppen.

  4. Die EU bildet den institutionellen Rahmen, in dem sich die zur vertieften Integration willigen und fähigen Mitgliedstaaten formieren und als Kerngruppen in verschiedenen Teilbereichen einschließlich der Außen- und Sicherheitspolitik zusammenarbeiten können.

Dass im militärischen Bereich Defizite bestehen, ist unstrittig, und es ist (schon wegen der finanziellen Einschränkungen) wenig wahrscheinlich, dass sie kurzfristig zu beheben sind. Nicht auszuschließen ist eine Rückbildung der Integration, wie sie insbesondere von konservativen Gruppen im Vereinigten Königreich gefordert wird – eine "Repatriierung von Kompetenzen", die vor dem außen- und sicherheitspolitischen Bereich gewiss nicht Halt machen würde. Doch selbst dann, wenn die Europäische Union nur als Organisation des einheitlichen gemeinsamen Marktes überleben würde, hätte sie wohl im globalen Kontext weiterhin Gewicht und bliebe sie ein geoökonomischer Akteur in der Spitzengruppe mit einer gewissen Verhandlungsmacht.

Indes, noch überwiegt die politische Auffassung, dass die EU mehr ist und auch künftig mehr sein soll als eine bloße große Freihandelszone; dass die europäischen Staaten nur durch eine gemeinsame Politik in der globalisierten Welt bestehen und sie mitgestalten können. Um nach innen und nach außen handlungsfähig zu sein, ist in diesem großen und heterogenen Staatenverbund Integration notwendigerweise mit Differenzierung verbunden. Differenzierte Integration findet konsequenterweise auch in der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union statt. Sie dürfte die Möglichkeiten und Grenzen der gemeinsamen europäischen Außenpolitik auch in der absehbaren Zukunft bestimmen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 30.4.2011 und Äußerungen in Diplomatenkreisen.

  2. Vgl. Nicole Koenig, Zwischen Handeln und Zaudern – die Europäische Union in der Libyen-Krise, in: Integration, 34 (2011) 4, S. 323–336, hier: S. 335.

  3. Informationen und erste Analysen bieten die Jahrbücher der Europäischen Integration, herausgegeben von Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels. Als Nachschlagewerk ist auch deren immer wieder aktualisiertes "Europa von A bis Z" hilfreich (Baden-Baden, 201112).

  4. Abgedruckt in: Politique Étrangère, 58 (1993) 2, S. 121–125.

  5. Zit. nach: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ), Bonn 1984, S. 52.

  6. Vgl. dazu (mit Zitatnachweisen) Werner Link, Die Neuordnung der Weltpolitik, München, 20013, S. 165f.

  7. Außenminister Guido Westerwelle hat diese Feststellung bei einem interdisziplinären Workshop im Auswärtigen Amt im Januar 2012 zitiert. Die Tagungsbeiträge sind abgedruckt in: Integration, 35 (2012) 2.

  8. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die erstgenannte Zielbestimmung. Zum innereuropäischen Aspekt vgl. Werner Link, Integratives Gleichgewicht und gemeinsame Führung, in: Merkur, 66 (2012) 11, S. 1025–1034.

  9. Vgl. ders., Auf dem Weg zu einem neuen Europa, Baden-Baden 2006, S. 44–53. Zur differenzierten Integration im "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" vgl. Funda Tekin, Differentiated Integration at Work, Baden-Baden 2012.

  10. Daniel Göler, Die Europäische Union in der Libyen-Krise: Die "responsibility to protect" als Herausforderung für die strategischen Kulturen in Europa, in: Integration, 35 (2012) 1, S. 3–18.

  11. Für die Anfänge vgl. Ralf Roloff, Europa, Amerika und Asien zwischen Globalisierung und Regionalisierung, Paderborn 2001. Zur gegenwärtigen politischen Entwicklung vgl. Stefan Fröhlich, The New Geopolitics of Transatlantic Relations, Washington, DC 2012.

  12. Ulrike Guérot, Der Wert Europas und seine Grenzen: die EU als außenpolitische Gestaltungsmacht mit Defiziten, in: Integration, 35 (2012) 2, S. 116–122, hier: S. 119.

  13. Zur Entstehung und den Anfängen vgl. Ernst Martin, Eurokorps und europäische Einigung, Bonn 1996. Das Eurokorps steht bedarfsweise der EU und/oder der NATO zur Verfügung. Im Kosovo übernahm es 2000 und 2002 das KFOR-Kommando. In Afghanistan ist es im ISAF-Hauptquartier vertreten.

  14. Vgl. Christian Mölling, EU-Battlegroups, SWP-Diskussionspapier 5/2007; siehe auch die von der EU und der Bundeswehr herausgegebenen aktuellen Mitteilungen.

  15. Vgl. Ronja Kempin/Marco Overhaus, Europa braucht eine neue Sicherheitsstrategie, SWP-Aktuell 10/2012; Die erste Europäische Sicherheitsstrategie vom 12.12.2003 wurde unter dem Titel "A secure Europe in a better world" veröffentlicht.

  16. Vgl. Klage über Auswärtigen Dienst der EU, in: FAZ vom 15.12.2011.

  17. Vgl. W. Link (Anm. 9), S. 83ff.

  18. Vgl. Udo Dietrichs/Mathias Jopp, Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU nach dem Verfassungsvertrag, in: Mathias Jopp/Saskia Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, Baden-Baden 2005, S. 243–366.

  19. Es wurde deshalb erwogen, die Gründung eines EU-Hauptquartiers ohne Großbritannien mittels der "Verstärkten" bzw. "Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit" vorzunehmen. Vgl. FAZ vom 2.12.2011.

  20. Bis 2009 gab es 23 ESVP-Operationen. Vgl. Muriel Asseburg/Ronja Kempin (Hrsg.), Die EU als strategischer Akteur in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik?, Berlin 2009. Zum zivilen Krisenmanagement (derzeit gibt es 22 zivile GSVP-Missionen) vgl. Claudia Major, Ziviles Krisenmanagement in der Europäischen Union. SWP-Studie 22/2012.

  21. Sogar die von Außenminister Westerwelle initiierte, optimistische "Zukunftsgruppe" (Außenminister aus zehn EU-Staaten) konnte, wie ihr Zwischenbericht vom Juni 2012 zeigt, in dieser Frage keinen Konsens finden. Vgl. FAZ vom 20.6.2012.

  22. Vgl. Nikolas Busse, Sanfte Eskalation, in: FAZ vom 22.6.2012.

  23. Ebd. S. 10.

  24. U. Guérot (Anm. 12), S. 122.

  25. Vgl. dazu die ausführlichen Analysen von Barbara Lippert in den Jahrbüchern der Europäischen Integration.

  26. Vgl. Annegret Bendiek/Marcel Dickow/Jens Meyer, Europäische Außenpolitik und das Netz, SWP-Aktuell 60/2012.

  27. Vgl. u.a. Heiner Hänggi/Ralf Roloff/Jürgen Rüland (eds.), Interregionalism and International Relations, London–New York 2006.

  28. Jüngster Beleg ist der Artikel von Najib Razak (Premierminister Malaysias), Europa als Vorbild für Asien, in: FAZ vom 5.11.2012.

  29. Vgl. George Osborne (Finanzminister des Vereinigten Königreichs), Den Binnenmarkt vertiefen und ausbauen, in: FAZ vom 16.6.2012.

  30. Rede in Leiden am 7.9.1994, zit. in: FAZ vom 9.9.1994.

  31. Vgl. FAZ vom 6.11.2012.

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Dr. phil., geb. 1934; Professor em. für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln; Am Höfchen 35, 50997 Köln. E-Mail Link: w.s.link@t-online.de