Die Europäische Währungsunion ist von ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Zielsetzung her von Anfang an ein politisches Projekt gewesen, das mit historischen Notwendigkeiten begründet wurde.
Wenn in den Debatten um die Euro-Krise die Lehren der Geschichte angesprochen werden, ist die Rede meist vom Wiederaufstieg des Kontinents aus den Trümmern zweier verheerender, von Deutschland begonnener Kriege, der über verschiedene Zwischenstadien irgendwann einmal auch zur politischen Einheit Europas führe. Gemäß dieser Deutung überwanden die europäischen Nationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Feindschaft durch supranationale Zusammenarbeit: zuerst in der Montanunion, später in der Wirtschaftsgemeinschaft und schließlich in der angeblich mehr oder weniger notwendig daraus folgenden Währungsunion. Rechtsstaat, Demokratie, Sicherheit und Wohlstand seien in Europa seit 1945 dadurch gewährleistet worden, dass die Staaten nationale Interessen zugunsten des großen europäischen Ganzen hintanstellten. Nur auf diese Weise hätten sie jene kritische Größe erreichen können, die notwendig sei, um in Weltpolitik und Weltwirtschaft als gleichberechtigte Mitspieler neben den Vereinigten Staaten von Amerika oder China aufzutreten.
Für die Bundesrepublik Deutschland brachte das Projekt Europa in dieser Lesart nicht nur die schrittweise Rückgewinnung staatlicher Souveränität und Schutz vor der Sowjetunion im Kalten Krieg, sondern auch den Ausweg aus einer gefährlichen außenpolitischen Isolierung und die Erlösung aus jener halbhegemonialen Position, in der sich Deutschland seit 1871 befunden hatte: zu schwach, um den Kontinent zu dominieren, und zu stark, um sich in das europäische Mächtegefüge einzufügen.
Abschied vom deutschen Ordnungsmodell
Das Problem der gängigen Interpretation besteht darin, dass sie mit den Entwicklungen in der Euro-Krise immer weniger in Einklang zu bringen ist. Besonders deutlich wird die Widersprüchlichkeit bei der Behauptung, ohne die gemeinsame europäische Währung drohe der Rückfall in atavistische Nationalismen. Eine "monetäre Re-Nationalisierung" wird oft als Auftakt zu schlimmeren Auseinandersetzungen bis hin zu militärisch ausgetragenen Konflikten zwischen europäischen Nationen dargestellt. Helmut Kohls Bemerkung, der Euro sei eine Frage von Krieg und Frieden, hallt vernehmbar nach.
Dabei droht nach allem, was wir heute absehen können, als Schreckensszenario kein weiterer großer Krieg in Europa (der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien fand innerhalb einer Währungsunion statt). Vielmehr hat sich Victor Hugos Prophezeiung von 1849, es werde der Tag kommen, "an dem es keine anderen Schlachtfelder geben wird als die Märkte, die sich dem Handel, und die Geister, die sich den Ideen öffnen", zumindest für Europa bewahrheitet.
Man kann diese Verschiebung mit guten Gründen als zivilisatorischen Fortschritt betrachten. Den Anfang einer konfliktfreien Ära harmonischen Einvernehmens zwischen Staaten und Gesellschaften markiert sie jedoch nicht. Vielmehr erleben wir im Streit um die Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) einen Kampf der währungs- und fiskalpolitischen Kulturen in Europa, der nicht nur ein Mentalitäten-, sondern auch ein Machtkonflikt ist. In diesem Ringen befindet sich die Position der Bundesbank, die einmal auch die Haltung der Bundesregierung war, in der Defensive. An die Stelle einer politisch unabhängigen, allein auf die Geldwertstabilität orientierten Institution ist in den Turbulenzen der Euro-Krise eine immer stärker in die Finanzierung von in Zahlungsnot geratenen Staaten und Banken involvierte und damit dem Einfluss der Regierungen ausgesetzte Zentralbank getreten.
Unter dem Druck der Krise hat sich die Europäische Währungsunion vom deutschen Ordnungsmodell, wie es im Maastricht-Vertrag festgeschrieben wurde, entfernt. Stattdessen hat sie sich der stärker auf Staatsintervention und Nachfragestimulierung setzenden französischen Konzeption einer politisierten Zentralbank, wenn nicht gar dem italienischen Modell der Notenbank als eigentlicher Leiterin einer (inflationstreibenden) Wirtschaftspolitik angenähert. In eine ähnliche Richtung weisen die Pläne, die wirtschafts- und fiskalpolitische Kompetenzen auf europäischer Ebene zu bündeln und damit eine Wirtschaftsregierung als Gegengewicht zur Zentralbank zu schaffen, wie sie Paris seit Langem vorschwebt.
Diese institutionellen Verschiebungen sind fatal, weil sie durch Bruch der europäischen Verträge zustandekommen, die in Ermangelung einer förmlichen Verfassung den konstitutionellen Rahmen der Europäischen Union bilden. Es erstaunt, wie wenig die Erosion rechtlicher Bindekräfte öffentlich als zentrales Problem diskutiert wird.
Zugleich werden die Volksvertretungen in der Euro-Krise von den Regierungen zunehmend ausgeschaltet. Die nationalen Abgeordneten finden sich – sei es durch die Komplexität der Materie, sei es durch vermeintlichen oder echten Zeitdruck – bei ihren Entscheidungen derart in die Enge getrieben, dass sie ihre demokratischen Rechte und (Prüf-)Pflichten kaum noch ausüben.
Den Institutionen, die in der Euro-Krise an die Stelle der Parlamente treten, fehlt jede demokratische Legitimation. Die Mitglieder des EZB-Rats und des ESM-Vorstands werden nicht gewählt, sondern von den Regierungen nominiert; sie sind keinem Parlament Rechenschaft schuldig. Der ESM-Vertrag enthält detaillierte Immunitätsregeln, um die Kontrollrechte der Volksvertreter gegenüber den im Gouverneursrat versammelten Finanzministern auszuhebeln. Außerdem haben im EZB-Rat etwa Zypern, Malta und Luxemburg genauso viele Stimmen wie Deutschland, so dass Mehrheitsentscheidungen von Ländern getroffen werden können, deren Bevölkerung nur etwas mehr als ein Sechstel der Eurozonen-Bevölkerung umfasst. Die Maßnahmen zur Rettung des Euro zerstören die Errungenschaften von über 300 Jahren westlicher Demokratiegeschichte, indem sie die Grundsätze von no taxation without representation und one man one vote außer Kraft setzen.
Selbst wenn etwa die Europäische Kommission künftig direkt vom Europäischen Parlament gewählt würde, wäre damit noch kein europäisches Staatsvolk geboren. Es gibt bisher weder eine Sprachunion noch eine Geschichtsgemeinschaft. Vielmehr ist nicht auszuschließen, dass in einer derartigen Versammlung die ohnehin schwächer werdenden Bindekräfte der europäischen Parteien weiter ausdünnten und eine Neugruppierung entlang nationaler Linien stattfände, nicht unähnlich dem österreichischen Reichsrat vor 1914 mit seinen Sprachstreitigkeiten und Nationalitätenkonflikten, wo sich sozioökonomische und ethnisch-nationale Auseinandersetzungen überlagerten.
Als starker und einiger Akteur in der Weltpolitik fällt die EU in ihrem gegenwärtigen Zustand jedenfalls aus. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik macht kaum Fortschritte. Die Größe des Wirtschafts- und Währungsraumes hat nicht zur Stärkung der europäischen Position in der Welt geführt. Eher bewirkt die Spaltung der EU in eine Eurozone und eine Nicht-Eurozone das Gegenteil. Die Heterogenität der an der Währungsunion beteiligten Volkswirtschaften und ihre unterschiedlich geprägten nationalen Politiktraditionen haben Europa in der Welt geschwächt.
Gefährliche Ungleichgewichte, fehlgeleitete Analogien
Zur Lösung der "Deutschen Frage", von der im 19. und 20. Jahrhundert so viel Unruhe und Unheil in Europa ausging, hat die Währungsunion weniger beigetragen als viele gehofft haben.
Heute erleben wir, wie die Politik der Einbindung und Selbsteinbindung Deutschlands an ihre Grenzen stößt – nicht durch bösen Willen, sondern weil dem Dilemma der deutschen Größe auch durch Europäisierung nicht beizukommen ist. Das wahre Problem in der Europäischen Gemeinschaft, hat Helmut Kohl schon im Dezember 1989 zum amerikanischen Präsidenten Bush gesagt, bestehe darin, "dass die Schere der Wirtschaftskraft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den anderen EG-Ländern sich immer weiter öffne. Alle hätten jedoch einen Vorteil davon, weil die Bundesrepublik Deutschland immer mehr zahle".
Das wiedervereinigte Deutschland besitzt wieder jene "ungeschickte Größenordnung", die Kurt Georg Kiesinger 1967 hellsichtig prophezeit hatte.
Keine der bislang diskutierten Strategien zur Rettung der Währungsunion wird die Bundesregierung aus dieser Zwangslage befreien. Setzt sie sich (was unwahrscheinlich genug ist) mit ihren im Fiskalpakt formulierten Forderungen nach strikter Haushaltsdisziplin und schmerzhaften Strukturreformen zumal in den südeuropäischen Ländern durch, werden von dort dauerhaft Proteste gegen ein deutsches Diktat und eine neoimperiale Politik Berlins zu hören sein. Obsiegen umgekehrt (wonach es immer mehr aussieht) jene Kräfte, die ein noch stärkeres finanzielles Engagement der Bundesrepublik fordern, etwa durch ungebremsten Kauf von Staatsanleihen der Krisenländer seitens der EZB, durch die Europäisierung der nationalen Schulden mittels Eurobonds oder durch gigantische Wachstumsprogramme, dann werden die Transfers innerhalb der Währungsunion Ausmaße annehmen, die keine Bundesregierung dem deutschen Steuerzahler und Sparer mehr begreiflich machen kann. Die Währungsunion ist zu exakt jenem politischen Erpressungsmanöver geworden, vor dem ihre Kritiker in den 1990er Jahren gewarnt haben.
Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie unter derartigen Umständen "Maastricht" in der deutschen Öffentlichkeit einmal einen ähnlichen Klang annehmen könnte wie einst "Versailles".
Die Erwartung, mit Hilfe des Euro gelinge unter dem Druck der Krise doch noch der Durchbruch zu irgendeiner Form der politischen Union, ist demgegenüber ohne Substanz. Nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 erschien diese Vision selbst den größten Enthusiasten zwischenzeitlich allzu kühn. Sie ist aber in der politischen Klasse in Deutschland von links bis rechts, von Trittin bis Schäuble, immer noch weit verbreitet. In anderen europäischen Ländern ist – über die Vergemeinschaftung der deutschen Wirtschaftskraft und finanziellen Potenz hinaus – keinerlei Wille zu derartigen Aufbrüchen erkennbar.
Die großen Hoffnungen, die deutsche Politiker auf das Projekt eines europäischen Bundesstaates oder Staatenverbunds setzen, sind nur durch unsere Nationalgeschichte zu erklären. Nicht allein der Wunsch, über eine europäische Zukunft den düsteren Kapiteln der deutschen Vergangenheit zu entkommen, spielt eine Rolle, sondern auch fehlgeleitete Analogien zur Reichseinigung 1871 und zur Wiedervereinigung 1990. Wie der Zollverein von 1834 angeblich der Gründung des Deutschen Reiches vorausging, erscheinen Montanunion, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Euro als Vorläufer einer künftigen politischen Union. Wie der Bismarck’sche Nationalstaat im 19. Jahrhundert die deutsche Kleinstaaterei überwand, so würden, hofft man, die blutigen Nationalismen des 20. Jahrhunderts in der friedlichen Einigung des Kontinents aufgehoben.
Ganz abgesehen von der Frage, ob eine europäische Einigung nach preußisch-deutschem Vorbild sonderlich wünschenswert wäre, vergisst, wer so denkt, dass Preußen im Reich immerhin rund 60 Prozent der Bevölkerung stellte, fast 65 Prozent des Gebietes umfasste und rund 60 Prozent des Nettonationaleinkommens erwirtschaftete.
So, wie die alte Bundesrepublik nach 1990 die neuen Bundesländer finanziell unterstützte, müsse, so hört man immer wieder, in Zukunft das vereinte Deutschland die strukturschwachen Mittelmeerstaaten in der EU aufpäppeln. Allerdings unterstützten nach der Wiedervereinigung 64 Millionen Westdeutsche insgesamt 16 Millionen Ostdeutsche. Die Transferzahlungen belaufen sich seit 1990 auf jährlich etwa 100 Milliarden Euro oder knapp vier Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts.
Europäische Perspektiven
Die überkommenen historischen Begründungen der europäischen Einigung haben sich in der Euro-Krise in ihr Gegenteil verkehrt. In ihrem gegenwärtigen Zustand schleift die europäische Integration die Nationalismen in Europa nicht ab, sie spitzt sie zu. Sie sichert nicht rechtstaatliche Verfahren und demokratisch legitimierte Entscheidungen, sondern gefährdet sie. Sie erhöht nicht unsere Sicherheit, sondern produziert Unsicherheit in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Europa hat durch den Euro nicht an politischem Gewicht in der Welt gewonnen, vielmehr droht es, dauerhaft Einfluss zu verlieren. Aus deutscher Sicht hat die Währungsunion genau jene Gefahren zugespitzt, die man mit Hilfe der europäischen Einigung hinter sich lassen wollte: Isolation und jene halbe Hegemonie, in der sich das Deutsche Reich zu seinem und Europas Unglück vor 1945 immer wieder befunden hat.
Mit dem Euro würde nicht zwangsläufig auch Europa scheitern. Unser Kontinent, so haben EU-Ratspräsident Herman van Rompuy und Kommissionspräsident José Manuel Barroso in ihrer Nobelpreisrede in Oslo im Dezember 2012 betont, besitze "enorme Fähigkeiten, sich neu zu erfinden".
Nicht die "Vereinigten Staaten von Europa" seien die Lösung aus der europäischen Krise der Staatsverschuldung, so der Journalist Rainer Hank, sondern das Gegenteil: "die strikte fiskalische Selbstverantwortung einzelner Staaten unter striktem Ausschluss jeglicher zwischenstaatlicher, falsch verstandener und teurer Solidarität".
Europa tauge weder zur politisch global agierenden Supermacht noch als Heimat, hat der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf schon 1992 konstatiert. Die zivilisierende Wirkung des heterogenen Nationalstaats hingegen solle man nicht zu gering achten; dessen Auflösung in "realitätsloses Europäertum" betrachtete Dahrendorf nicht als Fortschritt, sondern als "Rückschritt der Zivilisation".