-
Entweder geht das Europa der Nationalstaaten unter; oder es geht das Projekt der Überwindung der Nationalstaaten unter.
Europa ist seit nunmehr drei Jahren in der Krise, aber noch gibt es keine Übereinstimmung darüber, in welcher Krise eigentlich: Einer Euro-Krise? Einer Überschuldungs- und Staatsschuldenkrise? Einer Banken- und Finanzmarktkrise? Einer Demokratie-, Legitimitäts- und Souveränitätskrise? Oder gar in der profunden Systemkrise eines kapitalistischen Systems, das sich als Ganzes erschöpft hat
Zudem werden das zurückliegende Jahrhundert und seine Paradigmen gerade noch abgewickelt: Erst 1815 endete mit dem Wiener Kongress das 18. Jahrhundert und das Zeitalter der französischen Vorherrschaft in Europa durch Louis XIV. und Napoleon, der nicht nur Soldaten, sondern auch den Code Civil verbreitet hatte. Erst 1914 mit dem Ausbruch des 30-jährigen europäischen Krieges endete das 19. Jahrhundert,
Es ist jetzt, 2013, wo die "Ablösungsdekade" 2000 bis 2010 vorbei ist und mindestens drei Ereignisse – die Anschläge vom 11. September 2001, der "Arabische Frühling" und die Finanzkrise – den Paradigmenwechsel mit dem 20., dem amerikanischen Jahrhundert beschleunigt haben, an der Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken, auf welche grundsätzlichen systemischen Veränderungen Europa angesichts globaler Meta-Trends zusteuert beziehungsweise zusteuern sollte und welche neue Paradigmen sich für das 21. Jahrhundert abzeichnen. Inzwischen gilt unter anderem unter führenden Ökonomen
Tatsächlich geht es um viel mehr als eine Staatsschuldenkrise, die mit Arbeitsmarktreformen und Sparen à la Hausfrauenart bewältigt werden könnte. Es geht um die Rolle des Politischen im 21. Jahrhundert, die (neuen?) Akteure des "Politischen" und ihrer Gestaltungsspielräume in einer neuartig vernetzten Welt, um die Wiederherstellung des Primats der Politik, und zwar sowohl innen- wie außenpolitisch, und damit um die Definition einer globalen res publica und der europäischen Rolle bei ihrer Gestaltung.
Kurz: es geht um die Chance auf eine neuartige europäische Demokratie – ihr Gelingen oder ihr Scheitern – und davon abhängig um die zukünftige Rolle Europas in der Welt, die auch mit einem erfolgreichen Euro steht oder fällt. Die Dominanz der USA im vergangenen Jahrhundert beruhte nicht zuletzt auf der Tatsache, dass sie es verstanden haben, Währung und Strategie, Geld und Politik zusammen zu denken, denn Geld und Währung sind politische Konstrukte. Es ist diese Lektion, die Europa jetzt lernen sollte, und weil Geld politisch ist, braucht Euroland eine andere Demokratie – oder Europa scheitert.
Eine Währung sucht eine politische Heimat
Die Euro-Krise muss also in einen globalen Kontext eingebettet und als Systemkrise behandelt werden. Die veröffentlichte Meinung – vor allem in Deutschland – hat lange glauben machen wollte, dass der eigentliche Ursprung der noch schwelenden Euro-Krise, die sich längst von einer wirtschaftlichen zu einer politischen, um nicht zu sagen gesellschaftlichen Krise ausgeweitet hat, im Wesentlichen im südeuropäischen Schlendrian – bei "faulen Griechen", im italienischen Klientelismus, der französischen Reformunwilligkeit – zu suchen sei, dem jetzt durch deutsch inspirierte Austeritätspolitik – prominent durch die Einführung des Fiskalpaktes
Das eigentliche Problem, das es zu beleuchten gilt, ist, dass mit dem Euro eine transnationale Währung ohne eine transnationale Demokratie geschaffen wurde. Im Kern hat der Beginn transnationaler europäischer Redistribution weit über den bestehenden EU-Finanzrahmen und die Strukturfonds hinaus – maßgeblich durch die Schaffung des ständigen Rettungsschirms ESM,
Alle in diesem Zusammenhang in Karlsruhe anhängigen Verfassungsklagen – hinsichtlich der bisherigen Griechenland-Hilfen, der Schaffung des ESM sowie der Zulassung der direkten Bankenrettung durch den ESM – haben einen gemeinsamen juristischen Fixpunkt: Die derzeitige Verfasstheit der Bundesrepublik (und die Europas) gestattet keine Extension fiskalischer Solidarität jenseits des Staatsgebietes beziehungsweise eine Beschränkung der haushaltspolitischen Souveränität qua fehlender (politischer) Kontrolle über die Mittelverwendung jenseits der nationalen Grenzen.
Die europäischen Bürger und ihre Politiker haben emotional noch nicht verarbeitet, dass innerhalb des gemeinsamen Währungsraums die nationalen Grenzen de facto schon abgeschafft sind und dass es nunmehr um die Organisation einer europäischen Demokratie geht, welche die Gewinne einer gesamteuropäischen Wertschöpfungskette transnational gerecht verteilt – und dabei eine ökonomische Balance zwischen Zentrum und Peripherie findet. So ist zum Beispiel allein der Begriff "Export" innerhalb eines Währungsraumes irreführend: Ebenso wenig wie Exporte zwischen Hessen und Brandenburg gemessen beziehungsweise zwischen den Exporten unterschieden wird, so wenig sollte dies zum Beispiel zwischen Deutschland und Spanien der Fall sein. Solange es innereuropäische Import-Export-Statistiken gibt, zeigt sich, dass Europa zwar einen Binnenmarkt hat, aber keine Gesamtvolkswirtschaft mit gemeinschaftlicher Lenkung und Besteuerung, eine in 17 Staaten gültige einheitliche Währung, aber weiterhin nationale volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen und nationale Haushalte, die der Souveränität der nationalen Parlamente unterliegen. Euroland ist längst Binnenland, nur eben im (sozial-)politischen Raum der nationalen Parlamente und Staatshaushalte noch nicht.
So betrachtet, würde zum Beispiel eine gesamteuropäische Arbeitslosenversicherung
Anders formuliert: Eine verwaiste Währung sucht eine Demokratie. Euroland sucht ein (Eurozonen-)Parlament, und die europäischen Bürger suchen einen transnationalen contrat social, einen europäischen Gesellschaftsvertrag, und vor allem ein gemeinsames Forum, in dem sie über diesen diskutieren, streiten und bescheiden können. Dabei sehen sie sich mit politischen, historischen, sprachlichen und kulturellen Barrieren konfrontiert, die aber – weniger institutionell als emotional – tatsächlich nicht so einfach zu überwinden sind.
Das ist heute zugleich europäische Gemengelage und Herausforderung: nämlich das Manko einer wirklichen nach-nationalen europäischen Demokratie im Montesquieu’schen Sinn eines Systems von Gewaltenteilung, durch das europäische Verteilungsgerechtigkeit und akzeptable europäische Solidarität hergestellt werden könnte.
Die technokratische Versuchung
In Ermangelung nach-nationaler
Das Verhältnis von Markt und Staat wurde durch den Vertrag von Maastricht im Kern entkoppelt, wodurch ein politisches Steuerungsvakuum entstanden ist, das die Akteure auf den Güter- und Finanzmärkten für ihre Zwecke nutzen konnten, ohne einer (sozial-) politischen Steuerung unterworfen zu sein. Der EU beziehungsweise der Eurozone dieses Manko zu attestieren, ist kein vermeintlich linkes Argument, sondern Kernbestand ordoliberaler Philosophie und Essenz der sozialen Marktwirtschaft im Sinne von "soviel Markt wie möglich, soviel Staat wie nötig", wie es schon bei Karl Schiller heißt. Genau hier prallen ökonomische und politische Krise aufeinander. Indem eine Währung ohne einen Staat gemacht wurde, ist dieses für jedes Gemeinwesen fundamentale Gleichgewicht zwischen Markt und Staat in Europa außer Kraft gesetzt worden: Die Euro-Krise ist also vor allem die Krise – beziehungsweise das Fehlen – einer neuen Form von europäischer Staatlichkeit, um die seit Langem, bisher jedoch vergeblich gerungen wurde.
Aus dieser systemischen, weil politischen Krise hat sich inzwischen die zweite, eine soziale Krise in Europa ergeben, eine Spaltung in Geber- und Nehmerländer, in Nord und Süd, die (nicht nur) in Südeuropa populistische (oder auch regionale) Versuchungen schürt, die aber auch eine Zersetzungsgefahr für den Binnenmarkt darstellt.
Diese nach- oder über-nationale europäische Demokratie gilt es nun zu konstituieren, wenn der Euro keine technokratische Geißel für die europäischen Bürger bleiben,
Auf dem Weg zur Europäischen Republik?
Die Problematik der Überwindung nationalstaatlicher Souveränität ist freilich nicht neu, und die eigentliche Frage ist eher, welche politische Energie das politische System Europas haben sollte, um sich dieser Herausforderung ernsthaft zu stellen. Noch nicht einmal das politische Design einer transnationalen, europäischen Demokratie ist das eigentliche Problem, sondern eher, wie stark die Euro-Krise sich noch zuspitzen müsste, um jenen game-changing moment, also jenen Systembruch zu produzieren, der die Entstehung einer europäischen Demokratie im Sinne einer europäischen Republik überhaupt erst (unblutig), das heißt auf dem Weg einer europäischen Verfassungsversammlung, ermöglichen würde; beziehungsweise umgekehrt, wie in einer repräsentativen nationalstaatlichen Demokratie mit der Tatsache umzugehen ist, dass etwa zwei Drittel der Europäer diesen Systemwechsel gar nicht wünschen:
Nach zähen Diskussionen über "Krönungstheorie" und politische Union schon in den 1990er Jahren
Zu genau diesem Punkt ist die Diskussion um "mehr Europa" heute zurückgekehrt, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, weil inzwischen die breite Zustimmung zur europäischen Integration verloren gegangen ist und Euroland insgesamt unter einem zunehmenden populistischem Druck steht, der sich neuerdings auch in verstärkten regionalen Autonomiebestrebungen zeigt.
Die Euro-Krise hat auf dramatische Art und Weise zutage gefördert, dass sich das politische System Europas nicht mehr lange um die Frage der Ausgestaltung der europäischen Staatlichkeit wird herumdrücken können, wenn es demokratisch bleiben will und die drohende soziale Spaltung Europas verhindert werden soll. Denn letztlich geht es um die Verwaltung der öffentlichen Güter in Europa, wobei die zu lösenden Problemzusammenhänge die Legitimationsbasis und verfügbaren Handlungsebenen der Nationalstaaten überschreiten.
Zwischen Absicht …
Ausgelöst und beschleunigt durch die Krise hat sich Euroland dieses Mal darum erklärtermaßen auf den Weg begeben, eine Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen, die deep and genuine ist und vier maßgebliche Komponenten umfassen soll: einen integrierten Wirtschaftsraum, einen integrierten Haushaltsrahmen, einen integrierten Finanzrahmen und einen integrierten politischen Raum. Der entsprechende Drei-Stufen-Zeitplan mit konkreten Entwicklungsschritten für diese Banken-, Wirtschafts- und politische Union wurde im Dezember 2012 vorgelegt, vom EU-Gipfel dann allerdings nur in stark verwässerter Form und ohne klare Zeitschiene verabschiedet.
Trotzdem: So viele konkrete und ambitionierte Vorschläge gab es selten in der europäischen Integrationsgeschichte. Binnen der nächsten eineinhalb bis fünf Jahre sollen Schritte zur Vereinheitlichung von Steuer- und Beschäftigungspolitiken avisiert werden, für die die Eurozone ein spezielles Budget erhalten soll. Im Zeitraum zwischen fünf und zehn Jahren will die Eurozone dann eine voll integrierte Bankenunion geschaffen haben sowie ein "adäquates pooling" von Souveränität, Haftung, Verantwortung und Solidarität auf europäischer Ebene begründen und sich dafür auch mit einem autonomen Budget ausstatten (fiscal capacity). Das klingt ebenso gut wie (ergebnis-)offen.
Die einzelnen Vorschläge zeigen jedoch bei näherer Betrachtung, dass noch viele Fragen offen sind und der Teufel im Detail steckt:
Auch wenn das institutionelle Erdbeben, das durch die Euro-Krise ausgelöst wurde, vorbei sein mag und wirtschaftliche Dynamik (hoffentlich) bald wieder nach Südeuropa zurückkehren sollte, ist es wichtig, sich Folgendes vor Augen zu führen: Die eigentliche Diskussion über die zukünftige Demokratie in Europa beginnt gerade erst. Noch ist Europa bei den (makroökonomischen) Aufräumarbeiten steckengeblieben und hat noch nicht wirklich zu bauen begonnen. Die Gefahr ist indes groß, dass die auf dem Tisch liegenden Vorschläge wieder im Räderwerk europäischer Langzeitverhandlungen zermalmt werden und aus den hehren Reformplänen nur übrig bleibt, dass eine angebotsorientierte Reformagenda in Südeuropa durchgesetzt wird, aber letztlich ohne Behebung der systemischen Mängel des Währungsraums. Dann dürfte weiterhin das Risiko bestehen bleiben, dass Europa sozial und politisch auseinanderbricht. Die derzeitige politische Ruhe, vor allem in Deutschland, wirkt hier eher trügerisch.
Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass in Europa ambitionierte Projekte im Sande verlaufen und nicht oder nur sehr schleppend realisiert werden. Derzeit hat der Druck der Märkte auf das europäische Reformprojekt deutlich nachgelassen. Und auch wenn die Euro-Krise jederzeit verschärft zurückkommen kann – abhängig zum Beispiel vom Wahlergebnis bei den anstehenden italienischen Parlamentswahlen im Februar 2013 oder der politisch-sozialen Situation in Griechenland – so steht derzeit nicht zu erwarten, dass vor den Bundestagswahlen in Deutschland im September 2013 große Fortschritte erzielt werden.
Danach hat Euroland die Wahl, den Kairos einer großen Krise zu verschlafen, und im globalen Kontext weiterhin als unverstandener und letztlich international machtloser, übernationaler Zwitter sui generis im 21. Jahrhundert zu mäandern; oder sich resolut zur Schaffung einer Europäischen Republik aufzuschwingen und den Euro und seine Wirtschaftskraft zur Durchsetzung seiner legitimen politischen und geostrategischen Interessen sowie zur Artikulierung seiner normativen Prärogative im internationalen System zu nutzen.
… und Praxis
Dafür müssten indes jenseits des politischen Willens in der Diskussion um die zukünftige Neukonstituierung Europas in Zukunft auch andere Aspekte in den Vordergrund gerückt werden, und zwar die Problematik und Komplexität des "europäischen Babels":
Wie die französische Psychoanalytikerin Françoise Dolto einst sagte: "Tout est langue." Alles ist Sprache. Der deliberative Prozess, der Weg der politischen Entscheidungsfindung in Europa, letztlich der politische Streit um Ausgaben, muss darstellbar und für alle europäischen Bürger verständlich und nachvollziehbar sein, wenn Europa sich wirklich auf den Weg in eine Haftungsgemeinschaft begeben sollte. Denn Politik – und damit auch europäische Politik – ist letztlich nichts anderes als die gemeinsame Entscheidung über gesellschaftliche Präferenzen. Genau das ist das derzeitige Problem der nicht-öffentlichen EU-Ratssitzungen: Der transnationale "Kompromiss" ist nicht verständlich, weil die europäischen Bürger nicht wissen, wie man zu diesem Kompromiss gekommen ist. Ein neuartiger europäischer Parlamentarismus bräuchte also "Übersetzer", die den Europäern untereinander die Sprache, die Rechte, die Institutionen der Nachbarländer erklären können – und die eigentliche Frage ist, ob die nächste Generation genügend davon hervorbringen wird.
Das europäische Projekt ist durch die Krise ein gutes Stück vorangekommen, aber die europäische Demokratie bleibt unvollendet. Europa ist brüchig geworden. Wie lange seine Bürger mit nicht-satisfaktionsfähigen Zwischenlösungen zufrieden sind, bevor es entweder zum Quantensprung oder zum Bruch kommt, vermag niemand zu sagen. Die Hoffnung sollte sein, dass sowohl die Europawahlen 2014 als auch eine neue Kommission 2014 dafür einen entscheidenden Impuls geben.