Jede gute Beziehung muss auch Krisen aushalten können, um sich als solche zu erweisen – in dieser Hinsicht hatten die deutsch-französischen Beziehungen, basierend auf dem Élysée-Vertrag des Jahres 1963, in den zurückliegenden fünf Jahrzehnten genügend Gelegenheiten sich zu bewähren. Das zentrale Ziel von Präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer, die nachfolgenden Politikergenerationen zum deutsch-französischen Dialog zu verpflichten und bilaterale Konsultationen in festgelegten Abfolgen zum Bestandteil der Regierungsarbeit in Paris und Bonn beziehungsweise Berlin zu machen, wurde zweifellos erreicht. Auch das gemeinsam abgestimmte Vorgehen in Fragen der europäischen Integration war insgesamt so erfolgreich, dass die Europäische Gemeinschaft seit den 1980er Jahren den Schritt aus der Stagnation zu neuer Dynamik und nach dem gesamteuropäischen Umbruch 1989/1990 hin zur Europäischen Union schaffte.
Spätestens seit dieser Zeit waren Frankreich und die Bundesrepublik gemeinsam zum "Motor der Integration" geworden. Das bilaterale Verhältnis wurde nicht mehr nur an den Fortschritten beim Ausbau der zwischenstaatlichen Beziehungen gemessen, sondern auch an der Erfüllung der Funktion eines "Führungstandems" in der thematisch und mitgliedstaatlich weiter wachsenden Integrationsgemeinschaft. Sowohl aufgrund der dadurch gestärkten Ansprüche in Paris und Bonn/Berlin, die EU angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in die richtige Richtung zu führen, als auch wegen der zeitweisen Orientierungslosigkeit aller EU-Partner auf dem Weg zur Anpassung der Unionsstrukturen an die Erfordernisse einer EU der 27 waren gute deutsch-französische Beziehungen alleine nicht mehr ausreichend. Die Beurteilungsmaßstäbe für die bilateralen Beziehungen hatten sich vielmehr umgekehrt: Obwohl die Führung einer erweiterten Union durch ein historisch bewährtes Tandem als kaum mehr realistisch galt, sollten insbesondere Deutsche und Franzosen der EU einen Weg aus Stagnation und Krise bahnen. Erfolge beim Bemühen, in der Außenpolitik und bei Fragen des gemeinsamen Interesses "so weit wie möglich zu einer gleichgerichteten Haltung zu gelangen", wie es der Élysée-Vertrag formuliert, reichen dafür schon lange nicht mehr aus.
Im Folgenden sollen deshalb die deutsch-französischen Beziehungen nicht alleine mit Blick auf die Gestaltung des bilateralen Verhältnisses der vergangenen Jahre analysiert werden, sondern auch bezogen auf die gemeinsame Fähigkeit, einen konstruktiven Beitrag zur Bewältigung der europäischen Herausforderungen zu leisten.
EU-Reform 2007
Die Lösung der europäischen Verfassungskrise unter deutscher EU-Präsidentschaft zu Beginn der ersten Amtsmonate von Nicolas Sarkozy im Mai/Juni 2007 scheint angesichts der seither aufgetauchten Herausforderungen bereits eine Ewigkeit her zu sein. Ein kurzer Blick auf die Beilegung dieser Vertragsreformkrise, welche die EU seit dem misslungenen Gipfel von Nizza 2000 beschäftigt hatte, ist gleichwohl lohnend, weil hierbei das Arbeitsverhältnis zwischen Bundeskanzlerin und Präsident nachhaltig geprägt wurde. Merkel und Sarkozy legten in den ersten gemeinsamen Wochen auf europäischer Bühne den Grundstein für ihre später häufig sehr intensive Zusammenarbeit, gerade in der späteren Euro-Krise.
Obwohl das überbordende Temperament Sarkozys im harten Gegensatz zur demonstrativen emotionalen Zurückhaltung Merkels stand, ergänzten sich beide bei der schwierigen Kompromisssuche sehr gut, an dessen Ende im Juni 2007 der Weg zum EU-Reformvertrag beschlossen wurde. Die Rollenverteilung eines quirligen Neulings, der mit allerhand forschen Ideen für Verwirrung in Brüssel sorgte, aber zugleich der deutschen Bundeskanzlerin bei der Rettung der wesentlichen Inhalte des EU-Verfassungsvertrags in den schwierigen Endverhandlungen mit Polen, Briten und Niederländern hilfreich zur Seite stand, erwies sich als Erfolgsformel. Dieser gemeinsame Erfolg wurde durch die Gegensätze in der öffentlichen Bewertung des jeweiligen Anteils am Verhandlungserfolg nicht beeinträchtigt: Merkel wurde europaweit für die umsichtige und erfolgreiche Präsidentschaft gelobt, während Sarkozy über die Medien einen Hauptanteil am Vertragskompromiss für sich reklamierte.
Damit war das bilaterale Binnenverhältnis zwischen Merkel und Sarkozy, inklusive Wirkungsoptionen innerhalb der erweiterten EU, für die Folgezeit bereits stark geprägt: Zwischen der eher vorsichtig abwägenden Bundeskanzlerin und dem häufig vorpreschenden Präsidenten bestand der feste Wille, Kompromisse zu schmieden, mit denen beide medial in unterschiedlicher Weise, aber inhaltlich gemeinsam im EU-Rahmen zu Ergebnissen kommen wollten. Am Ende des Jahres 2007, als der EU-Reformvertrag von Lissabon unterzeichnet wurde, konnten Merkel und Sarkozy dies berechtigterweise als Erfolg gemeinsamer Anstrengungen feiern, mit denen sie – eng abgestimmt – einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen dieses EU-Reformschrittes geleistet hatten.
Außenpolitische Testfälle 2008
Nach der raschen Herausbildung eines konstruktiven bilateralen Konsultationsverhältnisses zwischen Merkel und Sarkozy, das bereits nach wenigen Monaten stabil wirkte, weil es mit seiner zielgerichteten Arbeit auf Erfolge blicken konnte, standen die ersten außenpolitischen Bewährungsproben im Laufe des Jahres 2008 an.
Mit seinem Vorstoß zu einer Union der Mittelmeeranrainer ohne die nördlichen EU-Mitglieder im Frühjahr 2008 demonstrierte Frankreichs Präsident die Grenzen seines Koordinierungswillens mit der Bundeskanzlerin. Diese setzte daraufhin, unterstützt durch die Mehrzahl der EU-Partner, eine Variante durch, mit der die bisherige Mittelmeerpolitik der gesamten EU ("Barcelona-Prozess"), eingebettet in die EU-Nachbarschaftspolitik (ENP), in neuem Rahmen fortgesetzt werden konnte. Als Nicolas Sarkozy im Juli 2008 zur feierlichen Gründung der "Union für das Mittelmeer" – bestehend aus allen EU-Mitgliedern und den restlichen Anrainern des Mittelmeers – unter französischer EU-Präsidentschaft nach Paris einlud, war das Verhältnis zu Angela Merkel sichtlich getrübt; aber auch der schier unbändige Tatendrang Sarkozys als selbsterklärter Anführer der EU merklich gedämpft.
Als wenige Wochen später, im August 2008, zwischen Georgien und Russland ein militärischer Konflikt um die Region Südossetien ausbrach, versuchte Präsident Sarkozy alle europäischen Partner hinter die von ihm reklamierte Führung als Krisenmanager zu bringen. Mit der raschen Aushandlung eines EU-Friedensplans, den die damaligen Präsidenten Russlands und Georgiens, Dmitrij Medwedew und Michail Saakaschwili, unterzeichneten, gelang Sarkozy dies auch zunächst. Unter den EU-Partnern wuchs jedoch die Kritik an einem zu konzilianten Kurs Frankreichs gegenüber Moskau, als Russland seine Truppen unsanktioniert weiter im georgischen Kernland beließ. Nachdem die Bundesregierung den moskaufreundlichen Kurs der Pariser Führung stützte, trug dies zur außenpolitischen Annäherung von Merkel und Sarkozy 2008 bei. Zugleich vertiefte es die Spaltung in der EU hinsichtlich des Kurses gegenüber Russland, das sich bis heute in einer Blockade der Verhandlungen um ein Partnerschaftsabkommen mit Moskau niederschlägt.
Am Ende des Jahres 2008, das bereits von den ökonomischen Schockwellen einer globalen Finanzkrise erschüttert wurde, war von einer außen- und sicherheitspolitischen Führungsrolle des Tandems Merkel–Sarkozy in der EU nichts zu erkennen. Wiederholte impulsive Vorstöße des Hausherrn im Élysée, mit denen er alleine den Ton angeben wollte, führten zur Uneinigkeit der 27 EU-Mitglieder. Der bilaterale Schulterschluss mit Merkel in der Georgien-Krise brachte wegen des moskaufreundlichen Kurses beider kaum Fortschritte in Richtung einer geschlossenen EU-Außenpolitik.
"Arabischer Frühling" 2011
Die bilateralen Schwierigkeiten, einen konstruktiven Beitrag zu einer außen- und sicherheitspolitisch handlungsfähigen EU zu leisten, wurden angesichts der Herausforderungen durch den Umbruch in der arabischen Welt zum Jahresbeginn 2011 noch deutlicher: Die Reaktionen der EU-Partner auf das Aufbegehren der Menschen gegen die autoritären Herrscher in Nordafrika, die von den Europäern teils über Jahrzehnte entscheidend gestützt worden waren, erfolgten weitgehend unkoordiniert. Ausgehend von wechselhaften Signalen der Pariser Führung gab es keine abgestimmte deutsch-französische Position zum "Arabischen Frühling", die als Ausgangspunkt für eine gemeinsame Haltung der EU hätte dienen können.
Der im Zuge des militärisch eskalierenden Bürgerkriegs in Libyen erfolgte Schulterschluss zwischen London und Paris im März 2011 bot für die restlichen EU-Mitglieder nur noch die Option, sich der geplanten Intervention anzuschließen oder dies abzulehnen. Nicolas Sarkozy und Premierminister David Cameron strebten keine EU-Mission an, sondern eine "Koalition der Willigen". Für die EU bedeutete dies in jedem Fall eine Schwächung, die dadurch vergrößert wurde, dass sich die EU-Partner Paris und Berlin in unterschiedlichen Lagern wiederfanden, als der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 1973 am 17. März 2011 ein militärisches Eingreifen zum Schutz der Zivilbevölkerung und die Errichtung einer Flugverbotszone in Libyen autorisierte. Resultat der deutsch-französischen Libyen-Kontroverse, in deren Folge Frankreich an der NATO-geführten Militärmission teilnahm, die Bundesrepublik jedoch nicht, war die völlige Lähmung der bilateralen Koordinationsfähigkeit in sicherheitspolitischen Fragen.
Die negative außen- und sicherheitspolitische Gesamtbilanz von Merkel und Sarkozy beeinträchtigt auch die Entwicklungsperspektiven der EU in diesem Bereich, der mit dem Vertrag von Lissabon nach dem Willen beider ausgebaut werden sollte.
Globale Finanzkrise 2008
Obwohl es auch rein bilaterale ökonomische Herausforderungen gab, bildeten die im Herbst 2008 beginnenden Finanz- und Wirtschaftskrisen die alles dominierende Aufgabenstellung für Deutsche und Franzosen als wiederentdeckte Führungsstaaten in der EU:
Angesichts der unkalkulierbaren Entwicklung an den Finanzmärkten seit September 2008 als Folge der geplatzten Immobilienblase in den USA und der Pleite der wichtigen Investmentbank Lehman Brothers befanden sich Paris und Berlin in ihrer Zusammenarbeit vor einer mehrfachen Herausforderung. Die Regierungen der beiden größten EU-Volkswirtschaften mussten akutes Krisenmanagement betreiben, das den Anforderungen der nationalen Bedürfnisse gerecht wurde, ohne die europäischen Nachbarn zu verprellen. Merkel und Sarkozy mussten aber auch eine gemeinsame ökonomische Linie finden, um innerhalb der EU Zersetzungsprozesse durch nationale Rückzugsgefechte zu verhindern, durch welche die Vorteile des Binnenmarktes infrage gestellt worden wären. Hierbei kam insbesondere der weiteren Einbindung der zunehmend integrationsskeptischen Regierung in London eine Schlüsselrolle zu. Um die ebenfalls unabdingbare Koordination des Krisenmanagements im Rahmen der G7/G8 beziehungsweise G20 zugunsten der europäischen Interessen zu forcieren, war eine enge Positionsabstimmung zwischen Berlin und Paris unerlässlich.
Obwohl die Regierungen in der EU zunächst primär durch nationale Interventionsmaßnahmen zur Abwendung eines drohenden Liquiditätseinbruchs der Banken sowie kurzfristige Hilfsprogramme zur Konjunkturstützung reagierten, spielte die deutsch-französische und die daran anschließende EU-interne Koordinierung bei der Krisenbewältigung des Herbstes 2008 eine zentrale Rolle.
Diese Einigung im EU-Kreis, die Nicolas Sarkozy für sein Ansehen als europäischer Krisenmanager zu nutzen wusste, war beachtlich, weil es auf dem Weg dorthin zu erheblichen persönlichen Spannungen zwischen Sarkozy und Merkel gekommen war. Frankreichs Präsident, der vor Tatendrang strotzte und im vormals reservierten britischen Premier Gordon Brown einen Bündnisgenossen gefunden hatte, machte sich über die Zögerlichkeit der integrationspolitischen Galionsfigur Merkel lustig, was ihr in der internationalen Presse den Spitznamen "Madame No" einbrachte.
Die Kooperation zwischen Berlin und Paris war in der ersten Hälfte des Jahres 2009 erneut gefordert, als die Konjunktur weltweit massiv einbrach und die EU-Partner nach koordinierten Stützungsmaßnahmen für die internationalen Finanzmärkte suchten. Dieses Mal übernahm die Bundeskanzlerin wieder stärker die Initiative. Zusammen mit dem französischen Präsidenten drängte sie auf eine geschlossene Position der Europäer bei den wegweisenden G8- und G20-Gipfeln Anfang April 2009 in London. Zwar ließen sich Großbritanniens Premier Brown und der kurz zuvor ins Amt gekommene US-Präsident Barack Obama von Merkel und Sarkozy nicht zu strikten Regulierungsschritten für Finanzmärkte bewegen; Grenzen für Hedgefonds und Ratingagenturen sowie koordinierte Wachstumsmaßnahmen, einschließlich einer Mittelerhöhung für den Internationalen Währungsfonds (IWF), entsprachen jedoch den deutsch-französischen Forderungen.
Euro-Krise seit 2010
Nachdem mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 die EU-Mitglieder in der anhaltenden Wirtschaftskrise den Erfolg ihrer Bemühungen um eine grundlegende Reform der Europäischen Union feiern konnten, stand die nächste ökonomische Bewährungsprobe bereits vor der Tür: Zu Jahresbeginn 2010 stellte die Verschuldungslage Griechenlands die Eurozone vor eine schwere Belastungsprobe, in der es erneut auf eine enge deutsch-französische Koordinierung ankam. Umso überraschender war der bilaterale und damit auch europäische Zwist, der die ersten Reaktionen auf die drohende griechische Zahlungsunfähigkeit prägte: Die Pariser Führung – sekundiert von den meisten Euro-Mitgliedern – forderte eine schnelle Finanzspritze für Athen, deren größten Anteil Deutschland übernehmen sollte. Dies verursachte einen Abwehrreflex in Berlin, der in vielen EU-Staaten als Verweigerung europäischer "Solidarität" gewertet wurde. Zwar entfiel auf die Bundesrepublik im ersten, bilateralen Hilfspaket der Euro-Länder für Griechenland vom März 2010 letztlich doch der größte Anteil der möglichen Kredite zur Stabilisierung des Euro-Mitglieds; Angela Merkel hatte aber durch ihre beharrlichen Forderungen nach strengen Auflagen für die Hilfen sowie der Mitwirkung des IWF eine klar konditionierte Euro-Stabilisierung durchgesetzt. Damit wurde Präsident Sarkozy, der rasche Hilfsmaßnahmen ohne substanzielle Eingriffe in die Handlungsautonomie der Euro-Mitglieder präferiert hatte, ausgebremst.
Die stabilitätspolitisch härtere Linie Merkels war die Grundlage für die Ausweitung von Finanzhilfen durch einen zeitlich begrenzten, großen "Euro-Rettungsschirm" in Form der European Financial Stability Facility (EFSF) für weitere Euro-Mitglieder, die im Mai 2010 von der Zahlungsunfähigkeit bedroht waren. Mit der Zusage von rund 120 Milliarden Euro am Gesamtpaket von 720 Milliarden Euro durch die EU 27 und den IWF lancierte die Bundeskanzlerin zugleich ihre Forderung, wonach der gescheiterte Euro-Stabilitätspakt künftig mit härteren Sanktionen versehen werden müsste.
Der Grundsatzstreit über die Verankerung automatischer Sanktionen bei künftigen Verstößen gegen die Stabilitätskriterien zwischen Merkel und Sarkozy führte im Sommer 2010 wohl nur deswegen nicht zur bilateralen Blockade, weil bereits die nächsten Krisengipfel bevorstanden. Um die wirksame Reform des Stabilitätspakts und die Etablierung eines dauerhaften Euro-Rettungsschirms auf den Weg zu bringen, entschlossen sich beide zu einer Festlegung der deutsch-französischen Positionen bei einem Treffen im Oktober 2010 im französischen Seebad Deauville. Während der bilaterale Zwist und das Zögern Berlins im Frühjahr 2010 für Unmut gesorgt hatten, war die Einigung während dieses Zweiergipfels ebenfalls Anlass zu heftiger Kritik durch die EU-Partner. Das öffentliche Aufbegehren gegen das deutsch-französische "Diktat" bei den entscheidenden EU-Gipfeln Ende Oktober und im Dezember 2010 in Brüssel verdeutlichte die Grenzen der bilateralen Absprachen zwischen Paris und Berlin in der EU der 27: Koordinierung innerhalb des "alten Tandems" war solange erwünscht und gefordert, solange es nicht den formalen Entscheidungsspielraum der anderen zu sehr einengte.
Mit der vorgezogenen bilateralen Absprache hatten Merkel und Sarkozy zum einen inhaltlich die Leitlinien für die Reform des Stabilitätspakts festgezurrt, mit denen sich die anderen Mitglieder der Eurozone arrangieren mussten. Zum anderen hatten "Merkozy" aber auch das Entscheidungsverfahren auf dem Weg zur inhaltlichen Kompromissfindung einseitig zu ihren Gunsten verändert. Weder dem Chef der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, noch dem Präsidenten des Europäischen Rats, Herman van Rompuy, gelang es im Herbst 2010 die wichtige "Gipfelregie" in der Hand zu behalten.
Angesichts immer dramatischerer Entwicklungen in Griechenland, drohender Refinanzierungsengpässe der großen Euro-Staaten Italien und Spanien sowie der Schwierigkeit, die parlamentarische Unterstützung in allen EU-Staaten für die Bereitstellung der milliardenschweren Einlagen für den European Stability Mechanism (ESM) zu bekommen, fand der enge Schulterschluss zwischen Berlin und Paris im Laufe des Jahres 2011 seine Fortsetzung. Obwohl Deutschlands ökonomische Schlüsselstellung für alle künftigen Einzelschritte zur Stützung der Eurozone mittlerweile zu einer unübersehbaren "Unwucht im Tandem" geführt hatte, drangen in dieser Frage keine erkennbaren Spannungen zwischen Berlin und Paris an die Öffentlichkeit. Dies war umso bemerkenswerter, als die erwähnten Streitigkeiten in der Libyen-Frage und bei der unkoordinierten Reaktion auf die Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 für erheblichen bilateralen Zwist gesorgt hatten.
Der letzte gemeinsame Vorstoß von "Merkozy" zur Stabilisierung der Eurozone im Winter 2011/12 in Form eines "Fiskalpakts", der die von der Bundesregierung bereits zu Beginn der Krise geforderte Verschuldungsbremse mit Sanktionen in den nationalen Haushalten aller EU-Mitgliedstaaten festschreiben sollte, brachte das neue interne Kräfteverhältnis zwischen Berlin und Paris mustergültig zum Ausdruck: Das ökonomisch rascher und vollständiger genesene Deutschland hatte zum Ende des Jahres 2011 sowohl im Verhältnis zum stagnierenden Frankreich als auch zu den immer noch erheblich kriselnden Euro-Partnern die Schlüsselrolle bei den europäischen Stabilisierungsbemühungen eingenommen – ob es wollte oder nicht. Den Widerstand gegen das "Spardiktat" des geplanten Fiskalpakts musste deshalb vor allem Bundeskanzlerin Merkel parieren, die nun endgültig die undankbare Rolle des "deutschen Zuchtmeisters" in den Medien der Euro-Staaten zugeschrieben bekam.
Auswirkungen der Wahl Hollandes
Die Wahl François Hollandes zum siebten Präsidenten der V. Republik am 6. Mai 2012 hatte eine merkliche Abkühlung der deutsch-französischen Beziehungen zur Folge, die eine direkte Folge des engen Schulterschlusses von "Merkozy" im Wahlkampf und im Umgang mit der europäischen Staatsschuldenkrise war. Aufgrund der sozialistischen Parteiprogrammatik und als Gegenposition zum Wirtschaftskurs Sarkozys, den Merkel offen unterstützt hatte, legte sich Hollande vor seiner Wahl auf das Ziel einer Neuverhandlung des europäischen Fiskalpakts fest, der am 2. März 2012 unterzeichnet worden war. Außerdem trat er mit der Forderung nach einem substanziellen Wachstumspakt der EU-Partner auf. Die Gefahr einer Blockade der deutsch-französischen Beziehungen, die angesichts des weiterhin erforderlichen gemeinschaftlichen Krisenmanagements leicht zum fatalen Stagnationssignal in der Eurozone werden konnte, hatten folglich Merkel und Hollande mit der Festlegung auf einen potenziellen Kollisionskurs während des ersten Halbjahres 2012 zu gleichen Teilen zu verantworten.
Dadurch wurde ein negativer Effekt verstärkt, der als "innere Regel" der deutsch-französischen Beziehungen bezeichnet werden kann: Je enger und ergebnisreicher die Kooperation zwischen Präsident und Bundeskanzler(in) ist, desto schwieriger wird es für Neulinge im Élysée-Palast oder Kanzleramt, an das positive bilaterale Verhältnis der jeweiligen Vorgänger anzuknüpfen.
Dass Hollande nach seinen ersten EU-Gipfel-Erfahrungen im Mai und Juni 2012 die unrealistische Forderung der Neuverhandlung des Fiskalpakts zurücknahm und sich mit der formalen Realisierung seiner Forderung eines EU-Wachstumspakts zufrieden geben musste, führte auch zu keiner Besserung im Verhältnis zwischen Paris und Berlin. Während der ersten Monate der gemeinsamen Regierungszeit gab es keine nachhaltigen Anzeichen der Annäherung von Merkel und Hollande, obwohl die feierliche Eröffnung des deutsch-französischen Jahres im September 2012 in Ludwigsburg und etliche gemeinsame EU-Gipfel dazu Anlass geboten hätten.
Das faktische Eingeständnis der Aussichtslosigkeit eines klassischen sozialistischen Wirtschaftsmodells, das Sarkozy – unterstützt von Merkel – im Präsidentschaftswahlkampf vorhergesagt hatte, verbaute bisher den Weg zur engen politischen Koordinierung zwischen Hollande und Merkel. Die tatsächliche Annäherung der inhaltlichen Positionen seit dem Sommer 2012 erleichterte zwar die Arbeitsbeziehungen zwischen deutschen und französischen Fachministern erheblich, die atmosphärische Störung zwischen Bundeskanzlerin und Präsident blieb davon jedoch weitgehend unberührt, wie auch die Divergenzen zur EU-Bankenunion im Oktober 2012 belegten.
Fazit
Die festgestellte Abkühlung der deutsch-französischen Beziehungen unter Merkel und Hollande weist auf die Grenzen des Élysée-Vertrags mit den diversen Ergänzungsabkommen hin: De Gaulle und Adenauer ist es zweifellos gelungen, bis heute alle Nachfolger auf die Intensivierung des bilateralen Meinungsaustausches zu verpflichten. Die Qualität und politische Wirkung dieser Mechanismen hängt aber weiterhin alleine davon ab, ob die jeweiligen Führungspersonen in Paris und Berlin diese Form persönlich mit Leben füllen. Konvergenz oder gar Deckungsgleichheit der Interessen und Positionen ist hierfür nicht alleine ausschlaggebend. Das zum Ende der gemeinsamen Amtsjahre geradezu mystifizierte Paar "Merkozy" liefert hierfür den mustergültigen Beleg, wie der Überblick über die gemeinsamen Versuche der Krisenbewältigung zeigt. Die gemeinsame Führungsrolle in der EU der 27 war nur in den Themenfeldern zu erreichen, in denen beide die mühsame Kompromisssuche trotz erheblicher inhaltlicher und stilistischer Gegensätze engagiert betrieben (Vertragsreform, Finanzkrisen). In der Außen- und Sicherheitspolitik hatten die bilateralen Koordinierungsmängel dagegen einen wesentlichen Anteil an der Handlungsschwäche der EU (Mittelmeerunion, Georgien, "Arabischer Frühling").
Die Bereitschaft zur deutsch-französischen Kompromisssuche war immer schon das entscheidende Momentum, um davon ausgehend im europäischen Rahmen ein Ziel gemeinsam erreichen zu können. Damit wird noch einmal das entscheidende Gewicht des europäischen Faktors für ein fruchtbares bilaterales Verhältnis zwischen Paris und Berlin deutlich, das auch über die Entwicklungsperspektive der Beziehungen zwischen Merkel und Hollande entscheiden wird. Kommt es bei der Zielformulierung auf europäischer Ebene nicht zum Kompromiss zwischen Bundeskanzlerin und Präsident, werden die bilateralen Beziehungen weiterhin von pragmatischer Kühle geprägt bleiben – "Merkollande" wäre dann eine unerreichbare Vorstellung.
Ein zuverlässiger und durchzugsstarker "europäischer Motor" wird aber angesichts der fortdauernden Rezession in weiten Teilen des Kontinents dringender denn je benötigt. Ohne funktionierendes "deutsch-französisches Getriebe" kann dieser jedoch nicht in Fahrt kommen.