An der Spitze der Zivilisation zu marschieren oder, deutlicher gesagt, diese mit der in Frankreich heimischen Gesittung gleichzusetzen, ist die bescheidenste Forderung der Franzosen." Aus mehreren Gründen ist dieser Satz geradezu emblematisch für ein lange Zeit in Deutschland vorherrschendes Frankreich-Bild. Zum einen stammt er aus einem Buch, dessen Titel auf die Verdichtung eines zentralen deutschen Frankreich-Klischees anspielt, nämlich Friedrich Sieburgs "Gott in Frankreich?", das 1929 erschien und keinesfalls frei war von Polemik, vor allem jedoch nicht von Stereotypen, die sich als überaus wirkmächtig erweisen sollten. Zum anderen spielt dieser Satz auf die bis weit ins 20. Jahrhundert die deutsch-französischen Beziehungen eher vergiftende als befruchtende Unterscheidung zwischen "Kultur" und "Zivilisation" an, die für Thomas Manns antifranzösische Polemik in seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen" ebenso konstitutiv war wie für die französische Selbstwahrnehmung, wie sie sich bei den großen Historikern des 19. Jahrhunderts wie Jules Michelet oder Ernest Renan artikuliert. Norbert Elias hat übrigens diese auf deutscher wie französischer Seite ähnlich gemachte, aber gegensätzlich bewertete Unterscheidung in seinem 1939 erschienenen Werk "Über den Prozeß der Zivilisation" analysiert und stellte fest: "Aus einer vorwiegend sozialen wird eine vorwiegend nationale Antithese."
Und schließlich ist es sein Autor, der den eingangs zitierten Satz zu einem wichtigen Puzzleteil der deutschen Frankreich-Wahrnehmung macht: Friedrich Sieburg ist eine der schillerndsten Gestalten im Labyrinth deutsch-französischer Verständigungen und Missverständnisse – vergleichbar wohl nur mit Ernst Jünger, dem es ebenso wie Sieburg gelang, trotz seines "Flirts" mit dem Nationalsozialismus im entscheidenden Moment die Distanz zu wahren.
Mythos vom unveränderlichen Bild des Nachbarn
An Intellektuellen wie Friedrich Sieburg oder Ernst Jünger wird deutlich, welche Last der Geschichte auf den Selbst- und Fremdwahrnehmungen von Deutschen und Franzosen und auf ihrer leichtfertig zur "Erbfeindschaft" stilisierten Beziehung liegt – einer Beziehung, die in den vergangenen 50 Jahren womöglich ebenso leichtfertig wie vorschnell zur "(Erb-)Freundschaft" erklärt wurde.
Die intensiven Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und die Reflexion der Bilder des jeweiligen Nachbarn haben die Gefahr des Überdrusses ein halbes Jahrhundert nach dem Abschluss des Élysée-Vertrags keinesfalls gebannt: Anfang 2012 äußerte der Historiker Pierre Nora in einem Interview, dass sich seines Erachtens Deutschland und Frankreich nach Jahren des kulturellen Austausches und der gegenseitigen Bereicherung voneinander entfernten, weil sie sich jenseits ihrer ökonomischen Beziehungen nichts mehr zu sagen hätten.
Neben der Analyse einiger eher schlichter, aber nichtsdestoweniger in der Vergangenheit wirkmächtiger Klischees
Idealisierung und Dämonisierung
Das Bild, das sich die Deutschen von Frankreich machten, rief bei den einen Bewunderung, bei den anderen Ablehnung hervor, und beide gegenläufigen Tendenzen existierten gleichzeitig. Die französischen Deutschland-Bilder hingegen waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Idealisierung durch Germaine de Staël dominiert, auf die erst nach der Rheinkrise 1840 und schließlich durch den Krieg von 1870/1871 eine Ernüchterung, ja ein Umschwung folgte: Madame de Staëls "De l’Allemagne" und der Krieg Otto von Bismarcks gegen das Kaiserreich Napoleons III. sind somit Wegmarken der Entwicklung des Bildes beziehungsweise der Bilder, die man sich in Frankreich vom Nachbarn im Osten machte. Die zwei aufeinanderfolgenden Bilder – zunächst das durch de Staël geprägte Bild Deutschlands als ein Land, dessen friedliebende Bewohner sich vor allem für philosophische Ideen begeistern und dann, nach dem Krieg von 1870/1871, die Dämonisierung der Deutschen als kriegslüsternes Volk – verschmolzen zu einer Art Doppelgesichtigkeit Deutschlands. Zu jener Zeit entstand nicht nur die despektierliche Bezeichnung der Deutschen als boches;
Diese aus der Erfahrung der Niederlage von 1871 geborene französische Wahrnehmung der Deutschen, in der Deutschland und sein Kanzler Bismarck geradezu ineinander verschmolzen, hat ein wirkmächtiges Phänomen bewirkt, das der Historiker Claude Digeon "die deutsche Krise im französischen Denken" nannte,
Bezeichnenderweise taucht dieses doppelte Deutschland-Bild als bestimmendes Moment für die französische Wahrnehmung des Nachbarn zwischen 1949 und 1989 wieder auf: Während der Zeit des Kalten Krieges boten die beiden deutschen Staaten den an Deutschland interessierten französischen Intellektuellen die Möglichkeit, ihre eigenen politischen Überzeugungen in dem einen oder dem anderen politischen Modell gleichsam zu spiegeln und zu konturieren. Eine Parteinahme für die DDR, womöglich sogar Sympathie mit diesem Staat, konnte innerhalb Frankreichs als Akt des Protests gegen die eigene politische Klasse gewertet werden, während die Zustimmung zur Bundesrepublik eher einer gaullistischen Position entsprach.
Die Schärfung, ja Spiegelung eigener politischer Überzeugungen im Bild des Nachbarn legt indes auch gewisse verborgene Unterströmungen des politischen Denkens in Frankreich offen, die eher unbewusst sind und daher von Eric Weil zurecht "Komplexe" genannt wurden:
Sind diese französischen Deutschland-Stereotype nicht also vor allem Verdrängungen der "Komplexe", die Eric Weil nennt und die nicht ins Bewusstsein vordringen, solange sie sich auf das Nachbarland beziehen? Der tiefere Grund, von Deutschland zumindest in doppelter Form, in jedem Fall aber im Plural zu sprechen, wäre folglich eine Verschränkung französischer Auto- und Heterostereotypen: Von Deutschland im Plural zu sprechen steht somit im Zusammenhang mit der (lexikalisch-morphologisch nur schwer zu akzeptierenden) Rede von "les deux France"
Bilder und Karikaturen – und die Gefahr der Banalisierung
Die Matrix der Bilder des jeweiligen Nachbarn besteht nur vordergründig aus der Idee einer Fundamentalopposition oder der eines unüberwindbaren Gegensatzes, wie der Begriff "Erbfeindschaft" suggeriert, der ja, wie Michael Jeismann betont, im Kern das Resultat einer doppelten Kollision ist: nämlich einerseits "einer Kollision zwischen dem universalen Anspruch (des französischen wie des deutschen Nationalismus, C.K.) (…) und seiner stets nur national gedachten Einlösung"
Von diesen Bildern gibt es indes einen geradezu unüberschaubaren Vorrat im jeweiligen kollektiven Gedächtnis, und bei manchen von ihnen könnte man meinen, dass sie der Vergangenheit angehörten. Die aktuellen Krisen in den internationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen beleben jedoch nationale Stereotype und zeigen, dass es sich bei ihnen um eine Vergangenheit handelt, die nicht vergeht.
Karikaturen bieten die Möglichkeit, in der provozierenden Zuspitzung des bestehenden Bildes vom Nachbarn dessen tiefere Motive, die ihm selbst womöglich gar nicht bewusst sind, zu entschlüsseln, ihm somit einen Spiegel vorzuhalten. Verschiedene Studien zu deutsch-französischen Auto- und Heterostereotypen in der Karikatur
Diese Dialektik zu verdeutlichen, ist das Anliegen der oben genannten "Imagologie". Man wirft der Karikatur – oftmals zu unrecht – vor, Zusammenhänge zu bagatellisieren; aber ist es nicht so, dass Karikaturen oftmals vielmehr gerade die Vergangenheit, die nicht vergehen will, beim Namen nennen und ins Bewusstsein heben können? Karikaturen sind der Stachel im Fleische dessen, was Pierre Nora an der Entwicklung der deutsch-französischen Beziehung kritisiert und was schon vor über 40 Jahren als Gefahr der "indifférence amicale"
Die gegenseitige Verschränkung der Idee von der Pluralität des eigenen Landes – "les deux France" als unbewusstes Motiv der Rede von "les deux Allemagnes" – ist ein Element des jederzeit abrufbaren Vorrats an deutsch-französischen Bildern des Nachbarn. Dieser Vorrat wurde und wird bemüht, wenn es die identité nationale – oder wahlweise die "(deutsche) Leitkultur" – zu bekräftigen gilt; und hier zeigt(e) sich, dass die größte Schwäche dieses Bilder-Vorrats in seiner Anfälligkeit für Banalisierungen liegt. Eine der am häufigsten bemühten Darstellungen der deutsch-französischen Beziehungen ist das Bild des Paares, wobei die Rollenverteilung durchaus divergiert: Frankreich ("la" France) spielt nicht notwendigerweise den weiblichen Part, der bisweilen – man denke an die berühmte Karikatur von Klaus Pielert, die am 5. Juli 1952 im "Kölner Stadt-Anzeiger" veröffentlicht wurde (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version), – sogar dem 80-jährigen Konrad Adenauer zugeteilt wird. Das Bild des deutsch-französischen Paares – wahlweise wird auch dasjenige des "Tandems" oder des "Motors" gewählt – suggeriert partnerschaftliche, ja harmonische Beziehungen auch jenseits der zur Tagespolitik gehörenden Konflikte.
In diese vermeintliche Harmonie mischen sich indes gelegentliche Zwischentöne: Zu ihnen gehört die immer wieder zu hörende deutsche Rede von Frankreich als der Grande Nation, bei der bisweilen ein ironischer, ja polemischer Unterton unüberhörbar ist.
Produktive Missverständnisse
Trotz der seit Beginn der 1960er Jahre erfolgreichen Bemühungen einer Annäherung zwischen zwei bis dato in ihren Klischees verharrenden Ländern wird auch in jüngeren Veröffentlichungen
Durch diesen grundsätzlichen Unterschied entstehen auch 50 Jahre nach Abschluss des Élysée-Vertrags von 1963 Missverständnisse in der Wahrnehmung des jeweiligen Nachbarn, die bisweilen unüberwindbar scheinen; erinnert sei hier an das immer wieder von Alfred Grosser geäußerte Wort "Die Franzosen möchten von den Deutschen respektiert werden, aber die Deutschen werden die Franzosen nie respektieren. Und die Deutschen wollen von den Franzosen geliebt werden, aber die Franzosen werden die Deutschen nie lieben." Wie kaum ein anderer verkörpert der 1925 in Frankfurt geborene und 1933 mit seinen Eltern nach Frankreich emigrierte Grosser die deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Ob Grossers Einschätzung noch Gültigkeit hat, sei dahingestellt; jedenfalls ist das grundsätzliche gegenseitige Unverständnis überwunden, das Ernest Renan im August 1870 wohl zu recht feststellte.
Dass auch 50 Jahre nach dem Vertragswerk von Paris deutsche und französische Selbst- und Fremdwahrnehmungen bisweilen voneinander abweichen, ja miteinander kollidieren, ist keinesfalls als Defizit anzusehen, sondern als Chance, das eigene Selbstverständnis durch die Wahrnehmung des Nachbarn zu reflektieren. Womöglich ist die permanente Auseinandersetzung mit diesen Divergenzen das effektivste Mittel, der von Pierre Nora unlängst beklagten Entfremdung und Gleichgültigkeit in den deutsch-französischen Beziehungen entgegenzusteuern.