Der Élysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 ist in den nationalen, bilateralen und multilateralen Kontexten der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 zu sehen,
Auf dem Weg zum Vertrag
Wer sich heute mit der Geschichte des Élysée-Vertrags beschäftigt, steht zum einen vor der Frage, ob dieser als Wendepunkt der bilateralen Beziehungen und Beginn einer deutsch-französischen Erfolgsgeschichte zu verstehen ist. Zum anderen stößt er schnell auf das Paradox, dass am Beginn seiner Wirkungsgeschichte ein kapitaler Fehlstart stand und viele Zeitgenossen ihn schon auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen hatten, dass dieser halbtote Vertrag aber schließlich reanimiert, nach 20 Jahren eine dauerhafte Kraft entfalten und heute zum Symbol beziehungsweise Erinnerungsort der deutsch-französischen "Aussöhnung" werden konnte.
Das Eintreten für die deutsch-französische Aussöhnung lässt sich bei Adenauer bereits in die 1920er Jahre datieren, als er in seiner Funktion als Kölner Oberbürgermeister auch mentale Brücken über den Rhein zu bauen versuchte. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er dieses Vorhaben wieder auf und bezeichnete die Annäherung zwischen den beiden "Erbfeinden" als eines seiner wichtigsten Ziele als Bundeskanzler.
Vertrauensvolle Beziehungen unterhielt der Kanzler in den 1950er Jahren auch zu den französischen Staatsmännern Pierre Mendès France und Guy Mollet, so dass bereits wichtige Grundlagen für eine deutsch-französische Kooperation gelegt waren, als Charles de Gaulle im Jahre 1958 in Frankreich wieder die Macht übernahm.
Zwar entstanden neue Spannungen, als der General seine Europa-Ideen ("Vom Atlantik bis zum Ural") präsentierte und Europa zu einer eigenständigen Macht zwischen den Blöcken machen wollte, doch gelang es ihm schließlich bei dem Treffen in Rambouillet Ende Juni 1960, die Befürchtungen des Bundeskanzlers zu mindern. De Gaulle sprach sich in den Gesprächen für eine politische Union Europas und eine deutsch-französische Achse aus, was bei Adenauer schon deshalb auf offene Ohren stieß, weil seine Beziehungen zu dem schwankenden US-Präsidenten John F. Kennedy nach der Verkündung der "McNamara-Doktrin" in eine schwere Krise gerieten. Die von Washington proklamierte Flexible-response-Strategie wurde vom Kanzler als Einschränkung der amerikanischen Sicherheitsgarantie für Europa interpretiert.
Was der Vertrag regelte
Dem Vertrag ging eine Erklärung voraus, in der beide Seiten festlegten, dass die Aussöhnung zwischen dem deutschen und französischen Volk ein "historisches Ereignis" darstelle und "das Verhältnis der beiden Länder zueinander von Grund auf neu gestalte". Ein besonderer Platz wurde der Jugend beider Länder eingeräumt, der "eine entscheidende Rolle bei der Festigung der deutsch-französischen Freundschaft" zukomme. Gleichzeitig wurde betont, dass die bilaterale Kooperation ein unerlässlicher Schritt zum vereinigten Europa sei.
In dem mit "Organisation" überschriebenen ersten Teil des Vertrags wurde ein Konsultationskalender fixiert, der unabhängig von den politischen Notwendigkeiten regelmäßige Treffen vorsah: die Staats- und Regierungschefs mindestens zweimal jährlich, die Außen- und Verteidigungsminister sowie die für Erziehungs- und Kulturfragen zuständigen Minister mindestens alle drei Monate und der Bundesminister für Familien- und Jugendfragen sowie sein französischer Kollege sogar alle zwei Monate. Schließlich waren interministerielle Kommissionen auf beiden Seiten vorgesehen, welche die Aktivitäten zwischen beiden Ländern koordinieren und darüber Bericht erstatten sollten.
Dieser organisatorische Rahmen wurde im Programmteil des Vertrags (II.) präzisiert. Erstens sollte es auf dem Feld der Außenpolitik (II. A.) vor jeder wichtigen Entscheidung, insbesondere bei Fragen gemeinsamen Interesses, zu Konsultationen kommen, die den Zweck verfolgten, "so weit wie möglich zu einer gleichgerichteten Handlung zu gelangen". Zweitens wurden konkrete Zielsetzungen im Verteidigungsbereich formuliert (II. B.): "Auf dem Gebiet der Strategie und der Taktik bemühen sich die zuständigen Stellen beider Länder, ihre Auffassungen einander anzunähern, um zu gemeinsamen Konzeptionen zu gelangen." Dieser Passus bedeutete nichts anderes als die Ausarbeitung eines gemeinsamen Verteidigungsplans, zu dessen Zweck deutsch-französische Institute für operative Forschung errichtet und der Personalaustausch zwischen den Streitkräften verstärkt werden sollten. Drittens wurde die Kooperation auf dem Gebiet der "Erziehungs- und Jugendfragen" (II. C.) fixiert: Neben der Intensivierung des Unterrichts in der Partnersprache sah der Vertrag eine Regelung in der Frage der Gleichwertigkeit der Diplome sowie einen Ausbau der wissenschaftlichen Beziehungen vor.
Was der Vertrag nicht regelte
Auch wenn die wirtschaftliche Kooperation keine Aufnahme in den Élysée-Vertrag fand, war sie im Vorfeld nie ganz abwesend, sondern wurde stets im Rahmen der außenpolitischen Fragen diskutiert. Gleichzeitig war es aber auch kein Zufall, dass sie keinen Eingang in den Vertrag fand, denn auch in wirtschaftlichen Fragen prallten die unterschiedlichen Grundpositionen beider Länder aufeinander: Während der Bundeskanzler die bestehenden Institutionen nicht infrage stellte, versuchte der General stets, die supranationalen durch zwischenstaatliche Strukturen zu ersetzen. Dass die Wirtschaft im Jahre 1963 schließlich ausgeklammert blieb, muss daher als ein neutraler Akt gegenüber der Europäischen Gemeinschaft verstanden werden. Zudem bestand bereits seit Mitte der 1950er Jahre ein dichtes Netz institutionalisierter bilateraler und multilateraler Kontakte, das auch politische Krisen unbeschadet überstand. So hatte die Wirtschaft selbst nur wenig Interesse an einer Einbeziehung in das Vertragswerk, das für sie in erster Linie ein politischer und symbolischer Akt war.
Obgleich es üblich ist, in Bezug auf den Abschnitt II. C. von dem kulturellen Teil des Élysée-Vertrags zu sprechen, muss festgehalten werden, dass das Wort "Kultur" im Vertragstext nicht vorkommt.
Obgleich in den folgenden Jahren viele Probleme ungelöst blieben, lässt sich trotzdem von einem originellen und lebendigen Zeitabschnitt sprechen,
Deutsch-französische Erfolgsgeschichte?
Die Analyse des Vertragstextes zeigt nicht nur, dass Papier geduldig ist, sondern deutet in erster Linie auf die grundlegenden Ambivalenzen in den bilateralen Beziehungen hin: Adenauer verfolgte das Ziel, die deutsch-französische Versöhnung und deren dauerhafte Verankerung voranzutreiben. De Gaulle teilte diese versöhnende und verbindende Absicht, doch ging es ihm vor allem um die Emanzipation Europas von den USA. Dieses Missverständnis fand ihren Ausdruck in der Präambel, die der Deutsche Bundestag bei der Ratifizierung am 15. Juni 1963 dem Vertragswerk voranstellte. Sie bekräftigte die engen politischen, wirtschaftlichen und verteidigungspolitischen Beziehungen mit den USA, Großbritannien und der NATO und korrigierte damit den von Adenauer und de Gaulle eingeschlagenen Weg auf einschneidende Weise.
Dass die bundesdeutschen Parteien derart ablehnend auf die Vertragsunterzeichnung reagierten, lag in erster Linie am allgemeinen Eindruck, dass der französische Präsident Adenauer auf einen Weg mitgenommen habe, der die bisherigen Säulen bundesdeutschen Selbstverständnisses infrage stellte: die (supranationale) europäische Integration und die transatlantische Bindung. Die Unionsparteien zerfielen zwischenzeitlich in zwei Lager, auf der einen Seite die "Gaullisten", zu denen neben Adenauer auch Franz Josef Strauß gehörte; auf der anderen Seite die "Atlantiker" mit Ludwig Erhard und Gerhard Schröder an der Spitze, die eher eine privilegierte Beziehung mit den USA befürworteten. Die in dieser Etikettierung zum Ausdruck kommende Ausschließlichkeit entsprach jedoch nicht der Realität, denn weder sprachen sich die "Atlantiker" gegen eine Vertiefung der westdeutsch-französischen Annäherung aus, noch dachten die "Gaullisten" daran, die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den USA zugunsten eines deutsch-französischen rapprochement zu suspendieren. Für keine der beiden Seiten stellte sich die Frage des Entweder-Oder, keiner wollte öffentlich de Gaulle und (aus innenpolitischen Gründen schon gar nicht) Adenauer brüskieren beziehungsweise desavouieren, doch verweigerten sie sich den vom französischen Präsidenten angestrebten strikt bilateralen Beziehungen.
In den Augen de Gaulles war der Élysée-Vertrag damit seines Sinnes entleert, so dass der Präsident das Bild einer missratenen Hochzeitsnacht wählte, nach der er sich – so seine Worte – weiterhin jungfräulich fühle. Dass es so weit gekommen war, verantwortete der General jedoch in hohem Maße selber, denn seit seiner berühmten Pressekonferenz vom 14. Januar 1963, in der er sich gegen die Aufnahme der Briten in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ausgesprochen hatte, und dem Abbruch der Brüsseler Beitrittsgespräche, die der französische Außenminister Maurice Couve de Murville am 29. Januar bekanntgegeben hatte, läuteten sowohl in Washington wie auch bei allen Bonner Parteien die Alarmglocken.
Den USA, die nicht auf ihre transatlantische Führungsrolle verzichten wollten, war es damit durch subtilen Druck auf Bonn gelungen, dem Élysée-Vertrag seine antiamerikanischen Spitzen zu nehmen. Sie hatten sich durch die aufflammenden Diskussionen zwischen "Atlantikern" und "Gaullisten" innerhalb der CDU/CSU bestärkt gefühlt und es verstanden, die Entstehung eines geschlossenen deutsch-französischen Systems zu verhindern. Zum großen Verdruss de Gaulles konservierte die Präambel-Lösung die bipolare Weltordnung und machte es ihm unmöglich, die europäische Rolle und Dominanz der USA zu konterkarieren. Die hehren Ziele des Élysée-Vertrags lagen damit in weiter Ferne, und die deutsch-französischen Beziehungen blieben daher bis zum Ende der Ära de Gaulle von Spannungen geprägt.
Welch sensiblen Charakter die Präambel im Verhältnis zwischen Paris und Bonn auch noch zum fünften Jahrestag des Élysée-Vertrags im Jahre 1968 besaß, geht aus den Gesprächen zwischen Bundespresseamt und französischem Außenministerium im Vorfeld dieses ersten "runden" Jubiläums hervor, aus dessen Anlass beide Seiten eine gemeinsame Veröffentlichung vorbereiteten. Der Quai d’Orsay lehnte es offenbar auf höhere Weisung ab, die Präambel in einem Dokumentationsteil abzudrucken, so dass sich die bundesdeutsche Seite dafür aussprach, auf eine Publikation des Vertragswerkes in dieser Broschüre gänzlich zu verzichten. Auch in der operativen bundesdeutschen Außenpolitik glich es in diesen Jahren weiterhin einer Quadratur des Kreises, den angemessenen Abstand zu den beiden Partnern in dem auch weiterhin durch enge Wechselbeziehungen charakterisierten Dreieck Bundesrepublik–USA–Frankreich zu finden, wie die Diplomaten im Auswärtigen Amt 1967 feststellten: "Schwierigkeiten treten bei der Frage auf, wie eng und herzlich das deutsch-französische Verhältnis sein kann, ohne die amerikanischen Interessen in Europa zu gefährden."
Wenn das im Élysée-Vertrag formulierte Ziel einer "gleichgerichteten Haltung" im außenpolitischen Handeln auch nie erreicht werden konnte, so gelang es beiden Ländern doch, einen Schlussstrich unter eine unheilvolle Vergangenheit zu ziehen und die Grundlage für einen in die Zukunft weisenden Anfang zu schaffen. Zwar führte er zu keinem Kraftzentrum in der Mitte Europas, doch erwies er sich als lebensfähig und sorgte gerade ab den 1970er Jahren für eine kontinuierliche Arbeit am Projekt der deutsch-französischen Verständigung und Kooperation.
Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zeigt sich ebenfalls bei der deutsch-französischen Militärkooperation, der im Vertrag die Aufgabe übertragen worden war, eine Annäherung der jeweiligen Auffassungen auf dem Gebiet der militärischen Strategie und Taktik zu erreichen. Die unterschiedliche Ausrichtung der Verteidigungspolitik ließ die bilaterale Kooperation jedoch weit hinter den Erwartungen zurückbleiben. Bonn setzte auf die atlantische Karte und entschied sich ab Sommer 1963 für ein Einschwenken auf die amerikanische Nuklear- und Europapolitik. Zu keiner Zeit erachtete die Bundesregierung eine strategische deutsch-französische Kooperation als annehmbare Alternative und lehnte deshalb Angebote de Gaulles in diese Richtung ab. Nach dem Rückzug Frankreichs aus den integrierten Strukturen der NATO im Jahre 1966 und der Vernunftentscheidung Bonns für Washington befand sich die militärische Kooperation zwischen beiden Staaten damit endgültig in der Sackgasse. Erst in den 1980er Jahren ließ sich zwischen Paris und Bonn ein Neuanfang feststellen. Mit der Schaffung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats auf der Grundlage eines Ergänzungsprotokolls zum Élysée-Vertrag (22. Januar 1988) wurde ein wichtiger Meilenstein zur Verbesserung der Zusammenarbeit erreicht. Große Bedeutung kommt auch der Deutsch-Französischen Brigade zu, die am 1. Oktober 1993 dem Eurokorps unterstellt wurde und bis heute durch die Auslandseinsätze die Kontakte zwischen deutschen und französischen Soldaten fördert.
Auch die Bilanz in den Erziehungs- und Jugendfragen ist ambivalent. Wunschdenken und Realität klaffen nicht zuletzt deswegen häufig auseinander, weil auf bundesdeutscher Seite Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern zu Verzögerungen führen. Der Fremdsprachenunterricht bleibt ein neuralgischer Punkt, genauso wie das Problem der Studienäquivalenzen, das erst in den 1980er Jahren ansatzweise gelöst werden konnte. Während die unterschiedlichen Strukturen der beiden Bildungssysteme immer wieder hemmend wirkten, war nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags trotz alledem ein spürbarer Aufschwung in den wissenschaftlichen Beziehungen zu verzeichnen.
Eine weitere Verschränkung der beiden Wissenschaftslandschaften fördert seit 1999 die Deutsch-Französische Hochschule in Saarbrücken, die neben anderen bilateralen Forschungsaktivitäten vor allem auch die grenzüberschreitenden Promotionsverfahren (co-tutelle) und integrierten Studiengänge unterstützt, bei denen – durch den Studienaufenthalt – die Studienleistungen sowie die Studiendauer gleichwertig auf beide Hochschulen verteilt werden müssen, um am Ende einen doppelten Abschluss zu erhalten. So leistet sie einen wichtigen Beitrag bei dem Erwerb von transnationalen Fachkompetenzen und zur Mobilität der Studenten.
Abschließend bleibt die Frage nach der symbolischen Wirkung des Élysée-Vertrags. Nachdem bei seinen runden Geburtstagen in den 1960er und 1970er Jahren Routine dominierte und Enthusiasmus nur schwerlich nachzuweisen war, bildete sich erst in den 1980er Jahren eine Symbolik heraus. Von entscheidender Bedeutung ist hier die Rede von François Mitterrand vor dem Bundestag im Januar 1983 – seitdem wird der Tag der Vertragsunterzeichnung für die Bestätigung der bilateralen Kooperation, aber auch zur Mystifikation des deutsch-französischen "Paares" benutzt. Seit 2003 wird der 22. Januar als "deutsch-französischer Tag" begangen, der gerade in den Bildungseinrichtungen beider Länder zum Anlass genommen werden soll, um über die unterschiedlichen Aspekte der deutsch-französischen Freundschaft zu diskutieren. Auch im deutsch-französischen Jahr 2012/2013 steht wieder die Jugend im Mittelpunkt, wie der Festakt in Ludwigsburg im September 2012 dokumentiert – jener Ort, an dem Charles de Gaulle vor 50 Jahren seine Rede an die deutsche Jugend hielt. Merkel und Hollande wollten diese Gelegenheit nutzen, um angesichts der Finanzkrise die besondere Bedeutung von Paris und Berlin für die Zukunft Europas zu demonstrieren. An dieser Zielvorgabe wird das couple franco-allemand auch in Zukunft gemessen werden.
Der Blick zurück verdeutlicht beispielhaft, dass die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 nicht ohne Weiteres als blütenweiße Erfolgsgeschichte verstanden werden kann, sondern sich durch ein permanentes Auf und Ab, Widersprüchlichkeiten und Paradoxien sowie Unvollkommenheiten auszeichnet. Mit diesen zu leben und sie gleichzeitig zu überwinden, wird entscheidend sein, damit auch der 100. Geburtstag des Élysée-Vertrags einmal gebührend begangen werden kann.