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Zur Bedeutung des Élysée-Vertrags | Deutschland und Frankreich | bpb.de

Deutschland und Frankreich Editorial Zur Bedeutung des Élysée-Vertrags "Eiserner Kanzler" und "Grande Nation" Die Meistererzählung von der "Versöhnung" Von "Merkozy" zu "Merkollande"? Deutschland und Frankreich und die Krise im Euro-Raum Hat der deutsch-französische Bilateralismus Zukunft? Grenzüberschreitende Kooperation am Beispiel Lothringen Ein kritischer Zwischenruf zur Kulturpolitik

Zur Bedeutung des Élysée-Vertrags

Ulrich Pfeil

/ 15 Minuten zu lesen

Der Élysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 ist in den nationalen, bilateralen und multilateralen Kontexten der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 zu sehen, die gleich nach Kriegsende auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene wieder aufgenommen wurden. Erst die Vorarbeit ermöglichte den bilateralen Abschluss, dessen in vielerlei Hinsicht improvisiertes und übereiltes Zustandekommen auch zu seiner Vorgeschichte gehört. Der Vertrag war in erster Linie das Ergebnis einer allmählichen Annäherung zweier Männer, zu deren Lebenszielen die deutsch-französische Aussöhnung zählte und die sich nach dem Scheitern von multilateralen europäischen Plänen für den Bilateralismus entschieden. So wurde der Élysée-Vertrag zwar zu einem symbolischen Ereignis, doch barg er bereits die Keime für sein kurzfristiges Scheitern, das in der Präambel des Bundestages, in dem sich beschleunigenden Autoritätsverlust Konrad Adenauers und den Spannungen zwischen Ludwig Erhard und Charles de Gaulle zum Ausdruck kam.

Auf dem Weg zum Vertrag

Wer sich heute mit der Geschichte des Élysée-Vertrags beschäftigt, steht zum einen vor der Frage, ob dieser als Wendepunkt der bilateralen Beziehungen und Beginn einer deutsch-französischen Erfolgsgeschichte zu verstehen ist. Zum anderen stößt er schnell auf das Paradox, dass am Beginn seiner Wirkungsgeschichte ein kapitaler Fehlstart stand und viele Zeitgenossen ihn schon auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen hatten, dass dieser halbtote Vertrag aber schließlich reanimiert, nach 20 Jahren eine dauerhafte Kraft entfalten und heute zum Symbol beziehungsweise Erinnerungsort der deutsch-französischen "Aussöhnung" werden konnte. Doch beschäftigen wir uns zunächst mit dem anfänglichen Scherbenhaufen und der damit zusammenhängenden Frage, warum sich Adenauer für einen exklusiven deutsch-französischen Zweibund entschied und für eine Vertragsform optierte, obwohl im Vorfeld immer nur von einem gemeinsamen (risikoloseren) Protokoll gesprochen wurde.

Das Eintreten für die deutsch-französische Aussöhnung lässt sich bei Adenauer bereits in die 1920er Jahre datieren, als er in seiner Funktion als Kölner Oberbürgermeister auch mentale Brücken über den Rhein zu bauen versuchte. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er dieses Vorhaben wieder auf und bezeichnete die Annäherung zwischen den beiden "Erbfeinden" als eines seiner wichtigsten Ziele als Bundeskanzler. Durch Adenauers Vorschläge sah sich nicht zuletzt der französische Außenminister Robert Schuman ermutigt, so dass er im Mai 1950 den nach ihm benannten Plan vorlegte, der eine wichtige Etappe der europäischen Integration und des deutsch-französischen Annäherungsprozesses darstellte. Der Ost-West-Konflikt tat in dieser Phase sein Übriges, so dass sich nicht nur Frankreich und die Bundesrepublik näher kamen, sondern die "Bonner Republik" rascher als von vielen erwartet in die westlichen Bündnisstrukturen integriert wurde.

Vertrauensvolle Beziehungen unterhielt der Kanzler in den 1950er Jahren auch zu den französischen Staatsmännern Pierre Mendès France und Guy Mollet, so dass bereits wichtige Grundlagen für eine deutsch-französische Kooperation gelegt waren, als Charles de Gaulle im Jahre 1958 in Frankreich wieder die Macht übernahm. Adenauer begegnete ihm anfänglich mit Misstrauen und fürchtete ein Wiederaufleben einer französisch-russischen Allianz, war der General in der unmittelbaren Nachkriegszeit doch nicht unbedingt für deutschlandfreundliche Positionen bekannt gewesen. Zudem galt er mit seiner Idee vom "Europa der Vaterländer" als Gegner supranationaler Strukturen. Eine privilegierte deutsch-französische Kooperation stand daher 1958 noch nicht auf der Tagesordnung, doch änderte sich dies, als Frankreich anders als etwa die USA während der Berlin-Krise beziehungsweise beim Mauerbau fest an der Seite Bonns stand und gegenüber den sowjetischen Erpressungsversuchen keine Bereitschaft zu einem Nachgeben signalisierte, was Adenauer de Gaulle hoch anrechnete.

Zwar entstanden neue Spannungen, als der General seine Europa-Ideen ("Vom Atlantik bis zum Ural") präsentierte und Europa zu einer eigenständigen Macht zwischen den Blöcken machen wollte, doch gelang es ihm schließlich bei dem Treffen in Rambouillet Ende Juni 1960, die Befürchtungen des Bundeskanzlers zu mindern. De Gaulle sprach sich in den Gesprächen für eine politische Union Europas und eine deutsch-französische Achse aus, was bei Adenauer schon deshalb auf offene Ohren stieß, weil seine Beziehungen zu dem schwankenden US-Präsidenten John F. Kennedy nach der Verkündung der "McNamara-Doktrin" in eine schwere Krise gerieten. Die von Washington proklamierte Flexible-response-Strategie wurde vom Kanzler als Einschränkung der amerikanischen Sicherheitsgarantie für Europa interpretiert. Diese Spannungen wusste Frankreich für seine Zwecke zu nutzen und unterbreitete der Bundesrepublik nach dem Scheitern der "Fouchet-Pläne" (Projekt einer europäischen politischen Union) am 19. September 1962 ein Memorandum, in dem vorgeschlagen wurde, die Form der künftigen "organischen und regelmäßigen Kooperation" in einem Protokoll niederzulegen. Adenauer wollte noch weitergehen, um seine Nachfolger zu binden, und schlug Anfang November eine inhaltliche Erweiterung der gegenseitigen Konsultationen vor. Von einem Vertrag war zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rede, doch die spannungsreichen internationalen Beziehungen und die Kontroversen zwischen "Atlantikern" und "Gaullisten" in der eigenen Partei verstärkten seinen Willen, die deutsch-französische Abmachung unter Dach und Fach zu bringen. In letzter Minute entschlossen sich beide Seiten schließlich zu einem Vertrag, der am 22. Januar 1963 im Élysée-Palast unterzeichnet wurde.

Was der Vertrag regelte

Dem Vertrag ging eine Erklärung voraus, in der beide Seiten festlegten, dass die Aussöhnung zwischen dem deutschen und französischen Volk ein "historisches Ereignis" darstelle und "das Verhältnis der beiden Länder zueinander von Grund auf neu gestalte". Ein besonderer Platz wurde der Jugend beider Länder eingeräumt, der "eine entscheidende Rolle bei der Festigung der deutsch-französischen Freundschaft" zukomme. Gleichzeitig wurde betont, dass die bilaterale Kooperation ein unerlässlicher Schritt zum vereinigten Europa sei.

In dem mit "Organisation" überschriebenen ersten Teil des Vertrags wurde ein Konsultationskalender fixiert, der unabhängig von den politischen Notwendigkeiten regelmäßige Treffen vorsah: die Staats- und Regierungschefs mindestens zweimal jährlich, die Außen- und Verteidigungsminister sowie die für Erziehungs- und Kulturfragen zuständigen Minister mindestens alle drei Monate und der Bundesminister für Familien- und Jugendfragen sowie sein französischer Kollege sogar alle zwei Monate. Schließlich waren interministerielle Kommissionen auf beiden Seiten vorgesehen, welche die Aktivitäten zwischen beiden Ländern koordinieren und darüber Bericht erstatten sollten.

Dieser organisatorische Rahmen wurde im Programmteil des Vertrags (II.) präzisiert. Erstens sollte es auf dem Feld der Außenpolitik (II. A.) vor jeder wichtigen Entscheidung, insbesondere bei Fragen gemeinsamen Interesses, zu Konsultationen kommen, die den Zweck verfolgten, "so weit wie möglich zu einer gleichgerichteten Handlung zu gelangen". Zweitens wurden konkrete Zielsetzungen im Verteidigungsbereich formuliert (II. B.): "Auf dem Gebiet der Strategie und der Taktik bemühen sich die zuständigen Stellen beider Länder, ihre Auffassungen einander anzunähern, um zu gemeinsamen Konzeptionen zu gelangen." Dieser Passus bedeutete nichts anderes als die Ausarbeitung eines gemeinsamen Verteidigungsplans, zu dessen Zweck deutsch-französische Institute für operative Forschung errichtet und der Personalaustausch zwischen den Streitkräften verstärkt werden sollten. Drittens wurde die Kooperation auf dem Gebiet der "Erziehungs- und Jugendfragen" (II. C.) fixiert: Neben der Intensivierung des Unterrichts in der Partnersprache sah der Vertrag eine Regelung in der Frage der Gleichwertigkeit der Diplome sowie einen Ausbau der wissenschaftlichen Beziehungen vor. Wie bereits in der einleitenden Erklärung wird dem Jugendaustausch besondere Bedeutung zugeschrieben, "um die Bande (…) enger zu gestalten und ihr Verständnis füreinander zu vertiefen". Zu diesem Zweck wurde die Einrichtung des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) beschlossen, das schließlich am 5. Juli 1963 gegründet wurde.

Was der Vertrag nicht regelte

Auch wenn die wirtschaftliche Kooperation keine Aufnahme in den Élysée-Vertrag fand, war sie im Vorfeld nie ganz abwesend, sondern wurde stets im Rahmen der außenpolitischen Fragen diskutiert. Gleichzeitig war es aber auch kein Zufall, dass sie keinen Eingang in den Vertrag fand, denn auch in wirtschaftlichen Fragen prallten die unterschiedlichen Grundpositionen beider Länder aufeinander: Während der Bundeskanzler die bestehenden Institutionen nicht infrage stellte, versuchte der General stets, die supranationalen durch zwischenstaatliche Strukturen zu ersetzen. Dass die Wirtschaft im Jahre 1963 schließlich ausgeklammert blieb, muss daher als ein neutraler Akt gegenüber der Europäischen Gemeinschaft verstanden werden. Zudem bestand bereits seit Mitte der 1950er Jahre ein dichtes Netz institutionalisierter bilateraler und multilateraler Kontakte, das auch politische Krisen unbeschadet überstand. So hatte die Wirtschaft selbst nur wenig Interesse an einer Einbeziehung in das Vertragswerk, das für sie in erster Linie ein politischer und symbolischer Akt war.

Obgleich es üblich ist, in Bezug auf den Abschnitt II. C. von dem kulturellen Teil des Élysée-Vertrags zu sprechen, muss festgehalten werden, dass das Wort "Kultur" im Vertragstext nicht vorkommt. Dies mag erstaunen, denn zwischen 1945 und 1963 hatte sich der Staat nie aus den kulturellen Beziehungen herausgehalten. Bereits in den unmittelbaren Nachkriegsjahren führte die französische Besatzungsmacht eine Kulturpolitik, die einen der konstruktivsten und am nachhaltigsten wirkenden Aspekte der französischen Deutschlandpolitik dieser Phase darstellte. Auch in den 1950er Jahren maßen die Regierungen beider Länder den soziokulturellen Austauschbeziehungen einen hohen Stellenwert zu, wie unter anderem im Abschluss des deutsch-französischen Kulturabkommens vom 23. Oktober 1954 zum Ausdruck kam.

Obgleich in den folgenden Jahren viele Probleme ungelöst blieben, lässt sich trotzdem von einem originellen und lebendigen Zeitabschnitt sprechen, in dem sich durch den intensivierten Erfahrungsaustausch zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Repräsentanten in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen eine neuartige Konzeption transnationaler Kommunikation entwickelte, die ihren Niederschlag im Élysée-Vertrag fand (II. C1+2) und das Fundament für die funktionale Verbindung zwischen privaten Initiativen und staatlicher Repräsentanz im Gründungsdokument für das DFJW darstellte. Der eigentliche Grund für diese "Leerstelle" ist daher eher in den Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem französischen Außenministerium und dem neu geschaffenen Kulturministerium zu suchen, welches der Quai d’Orsay aus den bilateralen Beratungen mit der Bundesrepublik heraushalten wollte. In der Frage der Kulturhoheit der Länder behalf sich die deutsche Seite mit der Schaffung eines "Kulturbevollmächtigten", der seit jener Zeit stets von einem Ministerpräsidenten eines Bundeslandes gestellt wird und in kulturellen Fragen der Verhandlungspartner der französischen Seite ist.

Deutsch-französische Erfolgsgeschichte?

Die Analyse des Vertragstextes zeigt nicht nur, dass Papier geduldig ist, sondern deutet in erster Linie auf die grundlegenden Ambivalenzen in den bilateralen Beziehungen hin: Adenauer verfolgte das Ziel, die deutsch-französische Versöhnung und deren dauerhafte Verankerung voranzutreiben. De Gaulle teilte diese versöhnende und verbindende Absicht, doch ging es ihm vor allem um die Emanzipation Europas von den USA. Dieses Missverständnis fand ihren Ausdruck in der Präambel, die der Deutsche Bundestag bei der Ratifizierung am 15. Juni 1963 dem Vertragswerk voranstellte. Sie bekräftigte die engen politischen, wirtschaftlichen und verteidigungspolitischen Beziehungen mit den USA, Großbritannien und der NATO und korrigierte damit den von Adenauer und de Gaulle eingeschlagenen Weg auf einschneidende Weise.

Dass die bundesdeutschen Parteien derart ablehnend auf die Vertragsunterzeichnung reagierten, lag in erster Linie am allgemeinen Eindruck, dass der französische Präsident Adenauer auf einen Weg mitgenommen habe, der die bisherigen Säulen bundesdeutschen Selbstverständnisses infrage stellte: die (supranationale) europäische Integration und die transatlantische Bindung. Die Unionsparteien zerfielen zwischenzeitlich in zwei Lager, auf der einen Seite die "Gaullisten", zu denen neben Adenauer auch Franz Josef Strauß gehörte; auf der anderen Seite die "Atlantiker" mit Ludwig Erhard und Gerhard Schröder an der Spitze, die eher eine privilegierte Beziehung mit den USA befürworteten. Die in dieser Etikettierung zum Ausdruck kommende Ausschließlichkeit entsprach jedoch nicht der Realität, denn weder sprachen sich die "Atlantiker" gegen eine Vertiefung der westdeutsch-französischen Annäherung aus, noch dachten die "Gaullisten" daran, die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den USA zugunsten eines deutsch-französischen rapprochement zu suspendieren. Für keine der beiden Seiten stellte sich die Frage des Entweder-Oder, keiner wollte öffentlich de Gaulle und (aus innenpolitischen Gründen schon gar nicht) Adenauer brüskieren beziehungsweise desavouieren, doch verweigerten sie sich den vom französischen Präsidenten angestrebten strikt bilateralen Beziehungen.

In den Augen de Gaulles war der Élysée-Vertrag damit seines Sinnes entleert, so dass der Präsident das Bild einer missratenen Hochzeitsnacht wählte, nach der er sich – so seine Worte – weiterhin jungfräulich fühle. Dass es so weit gekommen war, verantwortete der General jedoch in hohem Maße selber, denn seit seiner berühmten Pressekonferenz vom 14. Januar 1963, in der er sich gegen die Aufnahme der Briten in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ausgesprochen hatte, und dem Abbruch der Brüsseler Beitrittsgespräche, die der französische Außenminister Maurice Couve de Murville am 29. Januar bekanntgegeben hatte, läuteten sowohl in Washington wie auch bei allen Bonner Parteien die Alarmglocken.

Den USA, die nicht auf ihre transatlantische Führungsrolle verzichten wollten, war es damit durch subtilen Druck auf Bonn gelungen, dem Élysée-Vertrag seine antiamerikanischen Spitzen zu nehmen. Sie hatten sich durch die aufflammenden Diskussionen zwischen "Atlantikern" und "Gaullisten" innerhalb der CDU/CSU bestärkt gefühlt und es verstanden, die Entstehung eines geschlossenen deutsch-französischen Systems zu verhindern. Zum großen Verdruss de Gaulles konservierte die Präambel-Lösung die bipolare Weltordnung und machte es ihm unmöglich, die europäische Rolle und Dominanz der USA zu konterkarieren. Die hehren Ziele des Élysée-Vertrags lagen damit in weiter Ferne, und die deutsch-französischen Beziehungen blieben daher bis zum Ende der Ära de Gaulle von Spannungen geprägt.

Welch sensiblen Charakter die Präambel im Verhältnis zwischen Paris und Bonn auch noch zum fünften Jahrestag des Élysée-Vertrags im Jahre 1968 besaß, geht aus den Gesprächen zwischen Bundespresseamt und französischem Außenministerium im Vorfeld dieses ersten "runden" Jubiläums hervor, aus dessen Anlass beide Seiten eine gemeinsame Veröffentlichung vorbereiteten. Der Quai d’Orsay lehnte es offenbar auf höhere Weisung ab, die Präambel in einem Dokumentationsteil abzudrucken, so dass sich die bundesdeutsche Seite dafür aussprach, auf eine Publikation des Vertragswerkes in dieser Broschüre gänzlich zu verzichten. Auch in der operativen bundesdeutschen Außenpolitik glich es in diesen Jahren weiterhin einer Quadratur des Kreises, den angemessenen Abstand zu den beiden Partnern in dem auch weiterhin durch enge Wechselbeziehungen charakterisierten Dreieck Bundesrepublik–USA–Frankreich zu finden, wie die Diplomaten im Auswärtigen Amt 1967 feststellten: "Schwierigkeiten treten bei der Frage auf, wie eng und herzlich das deutsch-französische Verhältnis sein kann, ohne die amerikanischen Interessen in Europa zu gefährden."

Wenn das im Élysée-Vertrag formulierte Ziel einer "gleichgerichteten Haltung" im außenpolitischen Handeln auch nie erreicht werden konnte, so gelang es beiden Ländern doch, einen Schlussstrich unter eine unheilvolle Vergangenheit zu ziehen und die Grundlage für einen in die Zukunft weisenden Anfang zu schaffen. Zwar führte er zu keinem Kraftzentrum in der Mitte Europas, doch erwies er sich als lebensfähig und sorgte gerade ab den 1970er Jahren für eine kontinuierliche Arbeit am Projekt der deutsch-französischen Verständigung und Kooperation. Er hatte die Regierenden zu regelmäßigen Konsultationen verpflichtet, die zwar bisweilen von so eisiger Kälte geprägt waren, dass es den Übersetzern schwer fiel, das Schweigen des einen in die Sprache des anderen zu übertragen, doch ließ er den Kontakt nie abbrechen und zwang die Verantwortlichen, Resultate zu präsentieren, die in den 1960er Jahren jedoch eher bescheiden waren.

Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zeigt sich ebenfalls bei der deutsch-französischen Militärkooperation, der im Vertrag die Aufgabe übertragen worden war, eine Annäherung der jeweiligen Auffassungen auf dem Gebiet der militärischen Strategie und Taktik zu erreichen. Die unterschiedliche Ausrichtung der Verteidigungspolitik ließ die bilaterale Kooperation jedoch weit hinter den Erwartungen zurückbleiben. Bonn setzte auf die atlantische Karte und entschied sich ab Sommer 1963 für ein Einschwenken auf die amerikanische Nuklear- und Europapolitik. Zu keiner Zeit erachtete die Bundesregierung eine strategische deutsch-französische Kooperation als annehmbare Alternative und lehnte deshalb Angebote de Gaulles in diese Richtung ab. Nach dem Rückzug Frankreichs aus den integrierten Strukturen der NATO im Jahre 1966 und der Vernunftentscheidung Bonns für Washington befand sich die militärische Kooperation zwischen beiden Staaten damit endgültig in der Sackgasse. Erst in den 1980er Jahren ließ sich zwischen Paris und Bonn ein Neuanfang feststellen. Mit der Schaffung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats auf der Grundlage eines Ergänzungsprotokolls zum Élysée-Vertrag (22. Januar 1988) wurde ein wichtiger Meilenstein zur Verbesserung der Zusammenarbeit erreicht. Große Bedeutung kommt auch der Deutsch-Französischen Brigade zu, die am 1. Oktober 1993 dem Eurokorps unterstellt wurde und bis heute durch die Auslandseinsätze die Kontakte zwischen deutschen und französischen Soldaten fördert.

Auch die Bilanz in den Erziehungs- und Jugendfragen ist ambivalent. Wunschdenken und Realität klaffen nicht zuletzt deswegen häufig auseinander, weil auf bundesdeutscher Seite Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern zu Verzögerungen führen. Der Fremdsprachenunterricht bleibt ein neuralgischer Punkt, genauso wie das Problem der Studienäquivalenzen, das erst in den 1980er Jahren ansatzweise gelöst werden konnte. Während die unterschiedlichen Strukturen der beiden Bildungssysteme immer wieder hemmend wirkten, war nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags trotz alledem ein spürbarer Aufschwung in den wissenschaftlichen Beziehungen zu verzeichnen.

Eine weitere Verschränkung der beiden Wissenschaftslandschaften fördert seit 1999 die Deutsch-Französische Hochschule in Saarbrücken, die neben anderen bilateralen Forschungsaktivitäten vor allem auch die grenzüberschreitenden Promotionsverfahren (co-tutelle) und integrierten Studiengänge unterstützt, bei denen – durch den Studienaufenthalt – die Studienleistungen sowie die Studiendauer gleichwertig auf beide Hochschulen verteilt werden müssen, um am Ende einen doppelten Abschluss zu erhalten. So leistet sie einen wichtigen Beitrag bei dem Erwerb von transnationalen Fachkompetenzen und zur Mobilität der Studenten. Zur Erfolgsgeschichte des Élysée-Vertrags im Bereich des Jugendaustausches gehört in jedem Fall das DFJW, das seit seiner Gründung über 300.000 Austauschprogramme aufgelegt hat, an denen sich in den bald 50 Jahren seines Bestehens über acht Millionen Jugendliche beteiligten.

Abschließend bleibt die Frage nach der symbolischen Wirkung des Élysée-Vertrags. Nachdem bei seinen runden Geburtstagen in den 1960er und 1970er Jahren Routine dominierte und Enthusiasmus nur schwerlich nachzuweisen war, bildete sich erst in den 1980er Jahren eine Symbolik heraus. Von entscheidender Bedeutung ist hier die Rede von François Mitterrand vor dem Bundestag im Januar 1983 – seitdem wird der Tag der Vertragsunterzeichnung für die Bestätigung der bilateralen Kooperation, aber auch zur Mystifikation des deutsch-französischen "Paares" benutzt. Seit 2003 wird der 22. Januar als "deutsch-französischer Tag" begangen, der gerade in den Bildungseinrichtungen beider Länder zum Anlass genommen werden soll, um über die unterschiedlichen Aspekte der deutsch-französischen Freundschaft zu diskutieren. Auch im deutsch-französischen Jahr 2012/2013 steht wieder die Jugend im Mittelpunkt, wie der Festakt in Ludwigsburg im September 2012 dokumentiert – jener Ort, an dem Charles de Gaulle vor 50 Jahren seine Rede an die deutsche Jugend hielt. Merkel und Hollande wollten diese Gelegenheit nutzen, um angesichts der Finanzkrise die besondere Bedeutung von Paris und Berlin für die Zukunft Europas zu demonstrieren. An dieser Zielvorgabe wird das couple franco-allemand auch in Zukunft gemessen werden.

Der Blick zurück verdeutlicht beispielhaft, dass die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 nicht ohne Weiteres als blütenweiße Erfolgsgeschichte verstanden werden kann, sondern sich durch ein permanentes Auf und Ab, Widersprüchlichkeiten und Paradoxien sowie Unvollkommenheiten auszeichnet. Mit diesen zu leben und sie gleichzeitig zu überwinden, wird entscheidend sein, damit auch der 100. Geburtstag des Élysée-Vertrags einmal gebührend begangen werden kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Corine Defrance/Ulrich Pfeil (Hrsg.), Der Élysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945–1963–2003, München 2005; dies. (éds.), La France, l’Allemagne et le traité de l’Élysée, 1963–2013, Paris 2012.

  2. Vgl. Gilbert Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Stuttgart 1997; Horst Möller/Klaus Hildebrand (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich: Dokumente 1949–1963, 4 Bde., München 1997, 1999; Ulrich Lappenküper, Die deutsch-französischen Beziehungen 1949–1963, München 2001; Corine Defrance/Ulrich Pfeil, Deutsch-Französische Geschichte, Bd. 10: Eine Nachkriegsgeschichte in Europa 1945–1963, Darmstadt 2011.

  3. Vgl. Hélène Miard-Delacroix, Réfléxions sur la figure des couples franco-allemands de 1963 à nos jours, in: Allemagne d’Aujourd’hui, (2012) 201, S. 19–27.

  4. Siehe hierzu auch den Beitrag von Corine Defrance in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  5. Vgl. Klaus Schwabe (Hrsg.), Konrad Adenauer und Frankreich 1949–1963, Bonn 2005.

  6. Vgl. Andreas Wilkens (éd.), Le Plan Schuman dans l’histoire, Bruxelles 2004.

  7. Vgl. Knut Linsel, Charles de Gaulle und Deutschland (1914–1969), Sigmaringen 1998.

  8. Vgl. Eckart Conze, Die gaullistische Herausforderung. Deutsch-französische Beziehungen in der amerikanischen Europapolitik, München 1995.

  9. Vgl. Ansbert Baumann, Begegnung der Völker? Der Élysée-Vertrag und die Bundesrepublik Deutschland, Deutsch-französische Kulturpolitik von 1963 bis 1969, Frankfurt/M. 2003.

  10. Vgl. Hans Manfred Bock (Hrsg.), Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963–2003, Opladen 2003; ders./Corine Defrance/Gilbert Krebs/Ulrich Pfeil (éds.), Les jeunes dans les relations transnationales. L’Office franco-allemand pour la jeunesse 1963–2008, Paris 2008.

  11. Vgl. Andreas Wilkens, Warum ist die Wirtschaft nicht Gegenstand des Élysée-Vertrages?, in: C. Defrance/U. Pfeil (Anm. 1), S. 169–181; Werner Bührer, Wirtschaftliche Akteure und die deutsch-französische Zusammenarbeit, in: ebd., S. 183–195.

  12. Vgl. Corine Defrance, Sozio-kulturelle Beziehungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland nach 1945, in: Wolfgang Bergsdorf et al. (Hrsg.), Erbfreunde. Deutschland und Frankreich im 21. Jahrhundert, Weimar 2007, S. 7–24; dies., Aus Feinden werden Freunde. Frankreich und Deutschland nach 1945, in: Franz J. Felten (Hrsg.), Frankreich am Rhein, Stuttgart 2009, S. 217–233.

  13. Vgl. Ulrich Lappenküper, Sprachlose Freundschaft? Zur Genese des Deutsch-französischen Kulturabkommens vom 23. Oktober 1954, in: Lendemains, 21 (1996) 84, S. 67–82.

  14. Vgl. Corine Defrance/Michael Kißener/Pia Nordblom (Hrsg.), Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945, Tübingen 2010.

  15. Vgl. Reiner Marcowitz, Option für Paris? Unionsparteien, SPD und Charles de Gaulle 1958 bis 1969, München 1996.

  16. Stellungnahme der Abteilung IA3 im AA "Betr.: Deutsch-amerikanische und deutsch-französische Beziehungen", 30.3.1967; PA/AA, B 24, Bd. 607, Bl. 275.

  17. Vgl. Hélène Miard-Delacroix, Deutsch-Französische Geschichte, Bd. 11: Im Zeichen der europäischen Einigung 1963 bis zur Gegenwart, Darmstadt 2011.

  18. Der Abstimmung dienen seit Januar 2001 auch die sogenannten Blaesheim-Treffen, bei denen sich Kanzler und Staatspräsident informell und ohne feste Tagesordnung austauschen.

  19. Vgl. Corine Defrance/Ulrich Pfeil, Das Projekt einer deutsch-französischen Hochschule seit 1963, in: ders. (Hrsg.), Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert, München 2007, S. 309–337; dies., L’Université franco-allemande: médiateur académique, in: Allemagne d’Aujourd’hui, (2012) 201, S. 83–92; Jochen Hellmann, Binationale Integrierte Studiengänge: Akademischer Mehrwert durch Bilingualität und Bikulturalität am Beispiel der Studiengänge der Deutsch-Französischen Hochschule, in: Fremdsprachen Lehren und Lernen, 41 (2012) 2, S. 84–96.

  20. Siehe hierzu auch den Beitrag von Wolfram Hilz in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

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Dr. phil., geb. 1966; Professor für Deutschlandstudien an der Université de Lorraine, Metz, CEGIL – UFR Lettres et Langues, Île du Saulcy, 57045 Metz cedex 1/Frankreich. E-Mail Link: upfeil@orange.fr