Manuel Segovia und Isidro Velázquez, zwei betagte Männer, die im Dorf Ayapa im mexikanischen Gliedstaat Tabasco rund 500 Meter voneinander entfernt wohnen, sprechen wegen persönlicher Animositäten nicht miteinander. Und weil sie die beiden letzten Sprecher des Ayapaneco sind, einer vom Aussterben bedrohten indigenen Sprache, werden die beiden Griesgrame das Erbe einer ganzen Kultur mit sich ins Grab nehmen. Die 2011 von Medien auf beiden Seiten des Atlantiks verbreitete Story war bestürzend und spektakulär. Bloß stimmte sie so nicht. Segovia und Velázquez sind tatsächlich die kompetentesten Träger des Ayapaneco, und miteinander pflegen sie durchaus keinen Kontakt. Doch beherrschen laut einem amerikanischen Anthropologen noch weitere Personen die Sprache zumindest bruchstückhaft. Und mit dem angeblich kleinlichen Gehabe der alten Männer hat der unausweichliche Untergang des Ayapaneco ohnehin nichts zu tun.
Moderner Konservierungseifer
Die Maya sprechenden Einwohner Mexikos und Zentralamerikas weisen mit den letzten Trägern des Ayapaneco einige Gemeinsamkeiten auf, obwohl ihre Zahl auf sechs bis acht Millionen geschätzt wird und ihre Sprache erst langfristig ihr wortwörtliches Ende erreichen dürfte. Indigene Völker geraten zunehmend ins Blickfeld einer modernen, westlichen Welt, die den Rückgang an kultureller Vielfalt als Verlust betrachtet und aufzuhalten versucht. In Mexiko inventarisieren in- und ausländische Wissenschaftler in einem Rennen gegen die Zeit mit heißem Eifer Sprachen, Riten oder heilpflanzliches Wissen vormodernen Ursprungs. Die Bundesregierung und die Gliedstaaten der Halbinsel Yucatán, dem Hauptsiedlungsgebiet der Maya in Mexiko, investieren seit einigen Jahren in Schulen und Universitäten, an denen in Maya gelehrt und gelernt wird. Die Verurteilung der Diskriminierung von Ureinwohnern ist fester Bestandteil der Political Correctness geworden, und Behörden zur Bekämpfung solcher Diskriminierung sind gleichsam ins Kraut geschossen.
Der yucatekische Anthropologe Luis Ramírez beschreibt solche Bemühungen als "musealen Kraftakt". Geplagt von einem schlechten Gewissen wollten wir Angehörigen der modernen Welt den Rest an kultureller und auch biologischer Vielfalt bewahren, die unsere expansive und zerstörerische Lebensweise noch nicht plattgewalzt habe. Weil wir aber nicht zum Verzicht auf die wirtschaftliche Nutzung dieser Lebensräume bereit seien – die touristischen Großprojekte an der karibischen Küste Yucatáns legen davon eindrückliches Zeugnis ab –, würde die kulturelle und biologische Diversität in eigens dafür bestimmten sozialen und geografischen Räumen konserviert. Solche Reservate befriedigen jedoch weniger die Bedürfnisse der Bewahrten als vielmehr ihrer Außenwelt. So wie die Nachfrage der amerikanischen und europäischen Medienkonsumenten nach ungewöhnlichen Geschichten dafür verantwortlich war, wie das Schicksal des Ayapaneco und seiner vermeintlich letzten, zerstrittenen Sprecher dargestellt wurde, so entspringt der Schutz des indigenen Erbes in Mexiko durch Staat und Wissenschaft dem Blick und den Bedürfnissen der modernen Mehrheitsgesellschaft.
Just in einer solchen Projektion fremder Hoffnungen und Ängste auf den prähispanischen Nachlass Mexikos gründet auch der mediale Hype um eine angebliche Prophezeiung der prähispanischen Maya, wonach am 21. Dezember 2012 die Welt untergehen werde. In Nordamerika und Westeuropa ist eine Unzahl an Büchern, Artikeln und Blogs über apokalyptische Fantasien publiziert worden, die sich auf die Maya beziehen. Die englischsprachige Wikipedia widmet dem "2012 phenomenon" einen langen, kritischen und aufschlussreichen Beitrag, und der Fachmann für Katastrophenfilme, der deutsche Regisseur Roland Emmerich, bannte bereits vor drei Jahren mit "2012" das Untergangsjahr schlechthin auf die Leinwand.
Die Lange Zählung der alten Maya
Als Beleg für den zu erwartenden Schrecken wird die sogenannte Lange Zählung der alten Maya angeführt, die zwischen dem 4. und 10. Jahrhundert n. Chr. eine hochentwickelte Zivilisation aufbauten. Worum handelte es sich bei der Langen Zählung? Wie andere indigene Völker Mesoamerikas, also des Kulturraums, der sich von der heutigen guatemaltekisch-honduranischen Grenze bis nach Zentralmexiko erstreckte, blickten die Maya gebannt zum Himmel hoch, der in ihrer Vorstellung neben der Erde und der Unterwelt einen der drei kosmischen Bereiche darstellte. Die Gestirne waren wie alle anderen Naturerscheinungen "stoffliche Manifestation des Geistigen" – und das Geistige "das wahre Wesen der Natur".
Während in der westlichen Kultur das Naturgeschehen durch die Wissenschaft erklärt wird und diesbezügliche religiöse Begründungen seit dem Beginn der Neuzeit im 16. Jahrhundert sukzessive an Glaubwürdigkeit eingebüßt haben, dominierte die Spiritualität die Umweltwahrnehmung der Maya. Sie glaubten, eine von zwei miteinander verbundenen Seinssphären zu bewohnen. In der anderen lebten die Götter, Ahnen und weitere Geistwesen. Wenn sich nun die geistige, jenseitige Welt in Naturerscheinungen manifestierte, zum Beispiel den Gestirnen, so mussten diese interpretiert werden. Denn davon, ob die Maya die am Himmel abgebildeten kosmischen Kräfte richtig interpretierten und angemessen darauf reagierten, hingen die Geschicke sowohl der Erdenbürger wie der Jenseitsbewohner ab.
Die Beobachtung und Interpretation der Gestirne war Sachverständigen übertragen, die – entsprechend der Verwobenheit von Dies- und Jenseits – im westlich-modernen Verständnis zugleich als Astronomen und Astrologen wirkten. Sie fertigten Kalender an, denen entnommen werden konnte, ob die Zeit für bestimmte Aktivitäten wie Kriege, Handel, Aussaat, Ernte oder Eheschließung günstig war oder nicht. So waren die Menschen in eine feste Struktur des Ablaufs und der Perioden der Zeit eingebunden. Angesichts der kausalen Verbindungen zwischen den beiden Seinssphären überrascht nicht, dass die Maya ein theokratisches System hatten, der König als göttergleicher Schamane also politischer und religiöser Führer war.
Das Zählsystem, das den Kalendern zugrunde lag, beruhte auf der Zahl 20. Während in Europa mit den zehn Fingern gezählt wird, nahmen die Maya auch noch die zehn Zehen zu Hilfe. Deshalb fassten sie die Tage in 20er-Einheiten zusammen. Anhand dieser entwickelten sie kürzere Zyklen, etwa den religiösen Ritualkalender von 13 mal 20 Tagen, oder den für die Landwirtschaft wichtigen Kalender, der das Sonnenjahr spiegelte und 18 mal 20 Tage zählte (die fünf überschüssigen Tage wurden einem Kurzmonat zugeordnet, der "Ruhe" oder "Schlaf" des Jahres hieß). Indem die Maya diese Kalender beliebig oft mit der Zahl 20 multiplizierten, gelangten sie zu potenziell unendlich großen Zyklen. Der zeitliche Raum, in dem sich diese abspielten, war die Lange Zählung. Und weil die Maya diese Zählung an einem bestimmten Tag beginnen ließen, der im gregorianischen Kalender dem 13. August 3114 v. Chr. entspricht, konnten sie auch für große Zyklen präzise einen Anfangs- und Schlusstag definieren – wie den 21. Dezember 2012, an dem ein Zyklus von 5125 Jahren endet.
Ende des vierten Weltzeitalters
Diese Erkenntnisse über die alten Maya sind nicht kontinuierlich überliefert, sondern in mühsamer Kleinarbeit rekonstruiert worden. Die Spanier, die ab dem frühen 16. Jahrhundert weite Teile des heutigen Mexikos eroberten, wussten um die politische Bedeutung der Maya-Kalender. In ihrem missionarischen Eifer und Hochmut und im Willen zur vollkommenen Unterwerfung der Ureinwohner spürten die Konquistadoren die Kalender als wichtigste kulturelle "Speicher" auf und zerstörten sie. Das Kalkül ging auf: Das komplexe Wissen der Maya über die Gestirne und ihre religiös-politischen Interpretationen, die nur der kleinen Oberschicht zugänglich gewesen waren, verlor sich ziemlich rasch. Die entmündigten und christianisierten Knechte, als die die Maya weiterlebten, konnten ihre alte Kultur nur marginal und heimlich bewahren.
Es waren bezeichnenderweise mehrheitlich europäische und amerikanische Forscher, die anhand der wenigen erhaltenen Kalender die Lange Zählung rekonstruierten. Ernst Förstemann, der Bibliothekar, der im späten 19. Jahrhundert ein in Dresden befindliches Maya-Buch entzifferte, glaubte auf der letzten Seite dieses Kalenders die Voraussage einer apokalyptischen Flut zu erkennen. Zur Rekonstruktion einer ähnlichen Prophezeiung gab das Buch "Popol Vuh" Anlass: Gemäß dieser Niederschrift von Schöpfungsmythen der Maya leben wir im vierten Weltzeitalter, das im gregorianischen Kalender 5125 Jahren entspricht und am ersten Tag der Langen Zählung begann. Seitdem es Mayanisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelungen ist, den 13. August 3114 v. Chr. als Ursprung der Langen Zählung zu bestimmen, stellt sich natürlich die Frage, was am letzten Tag des vierten Weltzeitalters, der Wintersonnenwende 2012, geschehen wird.
Hier kommen die apokalyptischen Hoffnungen und Ängste ins Spiel, die in der Geschichte der Menschheit in nahezu allen Kulturkreisen gewirkt und bis heute nichts an Faszination eingebüßt haben. Wenn der Maya-Kalender eines mit Gewissheit belegt, dann dies. Denn für die große Mehrheit der Wissenschaftler liegt angesichts des zyklischen Zeitverständnisses der Maya die Interpretation nahe, dass am 21. Dezember "nur" der Übergang von einem langen Zyklus zum nächsten stattfinden wird. Kein seriöser Maya-Erforscher verstiege sich zur Aussage, das Ende des Zyklus bedeute das Ende der Welt. Aber die nach wie vor erheblichen Wissenslücken über die alten Maya einerseits und die per Definition offene Zukunft andererseits sorgen für einen Dunkelraum, in dem Gerüchte und Spekulationen vortrefflich gedeihen.
Der gegenwärtige Weltuntergangsdiskurs, der vor allem in Europa und Nordamerika um den 21. Dezember 2012 kreist, reicht in die 1970er Jahre zurück, als eine verzagende Ungewissheit über der westlichen Welt lag. Die bürgerliche Gesellschaft und die kapitalistische Wirtschaft der Moderne waren bereits in den Protesten von 1968 mit Vehemenz hinterfragt worden. Danach hatten Wirtschafts- und Währungskrisen die "goldenen", boomenden Nachkriegsjahrzehnte jäh beendet und die für alle Zeit verbannt geglaubte Arbeitslosigkeit war mit Wucht zurückgekehrt. Das neue Bewusstsein von den ökologischen "Grenzen des Wachstums", das der Club of Rome mit seinem gleichnamigen Bericht weckte, der linke Terrorismus in Westeuropa sowie zahlreiche Kriege und politische Krisen verstärkten die um sich greifende Unsicherheit. Und niemand hatte diese krisenhafte Zeit kommen sehen.
Eine fiebrige Suche nach neuen Gewissheiten setzte ein. Schon in den späten 1960er Jahren hatte das renommierte Hudson-Institut in Washington ein Buch über mögliche Szenarien im Jahr 2000 publiziert und hatten sich illustre Wissenschaftler unter dem Vorsitz des Soziologen Daniel Bell, Autor von "The End of Ideology" und "The Coming of Post-Industrial Society", in einer Kommission zusammengeschlossen, um die Zukunft zu erforschen. Aber natürlich wurde die Nachfrage nach Prognosen auch von nicht-wissenschaftlichen Autoren gestillt. Hal Lindeys biblisch inspiriertes apokalyptisches Buch "Late Great Planet Earth" wurde über sechs Millionen Mal verkauft. Die CIA heuerte Personen an, von denen sie glaubte, sie könnten als "Medium" in die Zukunft blicken. Ronald Reagan soll als Gouverneur von Kalifornien und später als Präsident der USA bei fast allen wichtigen Handlungen und Entscheidungen auf astrologische Konstellationen und Prophezeiungen geachtet haben, und in einer amerikanischen Studie von 1978 gaben 39 Prozent der Befragten an, sie glaubten an die menschliche Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen.
In diesem Kontext blühten die Ideen des New Age ("Neues Zeitalter"), eines Sammelbegriffes für esoterische Strömungen im Umfeld der Hippie-Bewegung, und die Vorstellungen von einem Ende oder – positiv gewendet – einer Überwindung der verachteten Moderne. Der amerikanische Ethnobotaniker Terence McKenna, der unter anderem im amazonischen Regenwald die bewusstseinserweiternden Effekte pflanzlicher Drogen erforschte, publizierte 1975 mit seinem Bruder das Buch "The Invisible Landscape". In diesem prognostizierte er für die Wintersonnenwende 2012 das Ende der Zeit. Im selben Jahr erschien "The Transformative Vision" José Argüelles’, in dem sich der mexikanisch-amerikanische Schriftsteller als Seher einer nahenden Apokalypse darstellte. Obwohl Argüelles bereits vom 21. Dezember 2012 als Ende eines Maya-Zyklus wusste, griff er das Datum erst in seinem Buch "The Mayan Factor" von 1987 auf, das bei einem für Esoterik empfänglichen Publikum ein enormes Echo auslöste. In diesen Jahren und im Kontakt mit Argüelles, so scheint es, wurde sich Terence McKenna bewusst, dass seine apokalyptische Prophezeiung dasselbe Jahr betraf wie der Maya-Kalender – was als weiteres Indiz für ihre Richtigkeit gewertet werden konnte und die Wirkung seines neu aufgelegten Buches verstärkte. Eine Flut von Publikationen schloss sich den Werken Argüelles’ und McKennas an, die bis heute nicht abgeebbt ist.
Diskriminierte Nachkommen der Ureinwohner
Als ich kürzlich Doña Carmen und Doña Elodia am Telefon fragte, was sie vom Aufheben um die kommende Wintersonnenwende hielten, schwiegen sie betreten. Die beiden Frauen arbeiten auf der Halbinsel Yucatán als Hebammen. Wie ihre Vorfahren, die alten Maya, achten sie in der Begleitung der Schwangeren stets auf den Mondzyklus. Der Mond verrate nicht nur die Zahl der verflossenen Monate, sondern auch das Geschlecht und den Charakter des Ungeborenen, erzählten sie. Der Erdentrabant ist als Referenz umso wichtiger, als viele Maya-Hebammen im Alter von Doña Carmen und Doña Elodia nicht lesen und schreiben können. Aber von einem anderen, einem langen Zyklus, der am 21. Dezember zu Ende gehen soll, hatten sie noch nie etwas gehört.
Dies bedeutet nicht, dass alle Bewohner Yucatáns dem Datum ahnungslos entgegenblicken. Speziell in den touristischen Gebieten, zum Beispiel rund um die Pyramiden von Chichén Itzá und Uxmal oder entlang der karibischen Küste von Cancún bis hinunter nach Tulum, läuft die Vermarktung des 21. Dezembers 2012 auf Hochtouren. Die Bundesregierung und die Gliedstaaten werben mit der magischen Zahl seit vergangenem Jahr um Touristen, und die Buchungslisten der Hotels lassen erahnen, dass die Kampagne nicht ohne Erfolg geblieben ist. Ein Großteil des Hotelpersonals oder der Fremdenführer sind Indigene. Eine Bekannte aus der Gegend erzählt, immer wieder berichteten ihr Maya, sie hätten erfahren, dass laut den Maya im Dezember möglicherweise die Welt untergehen werde. Dabei sprächen sie von "den" Maya in der dritten Person. Auch die Hebamme Doña Carmen bedient sich dieser Redeweise, obwohl sie einer Familie entstammt, in der noch heute Maya gesprochen wird. Sie zieht keine Linie der Kontinuität zwischen sich und den Urhebern des Kalenders, der für den ganzen Aufruhr sorgt. Wie praktisch alle Maya betrachtet Doña Carmen das Ende des 5125-Jahres-Zyklus – einmal darüber aufgeklärt – als äußerliches Phänomen, mit dem sie nicht mehr zu tun hat als die Touristen aus Europa, Nordamerika oder Mexiko-Stadt.
Dafür sind das gründliche Zerstörungswerk der Spanier und die bis heute andauernde Diskriminierung der indigenen Einwohner Mexikos verantwortlich. Weder in den Augen der meisten Maya, Nahua, Zapoteken oder Mixteken noch in den Augen der mestizischen Mehrheitsgesellschaft ist die direkte Abstammung von den Ureinwohnern ein positives Merkmal. Laut der Nationalen Kommission für die Entwicklung der indigenen Völker liegen die Einkommen, die Alphabetisierungsrate, der Zugang zu Gesundheitsdiensten und die Lebenserwartung der Ureinwohner weit unter dem nationalen Durchschnitt. Die ärmsten Gliedstaaten, Chiapas und Oaxaca, sind auch jene mit der größten indigenen Bevölkerung. Josefina Flores, die Chefin einer Mazahua-Gemeinschaft
Instrumentalisierung im Namen der Nation …
Von den 111 Millionen Mexikanern sind offiziell über 14 Millionen Ureinwohner. Während sich ihre absolute Anzahl vergrößert, geht ihre relative Bedeutung zurück. 1808 machten sie fast zwei Drittel der 6 Millionen Untertanen im Vizekönigreich Neu-Spanien aus, 1921 betrug ihr Anteil an den 14 Millionen Mexikanern noch knapp ein Drittel. Von den auf über 150 geschätzten Sprachen, die bei der Ankunft der Spanier 1517 existiert haben könnten, haben 68 überdauert. 23 von ihnen sind vom Aussterben bedroht.
Diese harten Zahlen gaukeln jedoch eine Realität vor, die so eindeutig gar nicht greifbar ist. Denn die Frage, wer überhaupt ein Indigener ist, lässt sich nicht leicht beantworten. In der Verfassung werden sie als Angehörige jener Völker definiert, die vor 1517 das heutige Territorium Mexikos besiedelten, die ihre Institutionen und Lebensformen mindestens teilweise erhalten haben und sich auch als indigen betrachten.
Doch was ist mit jenen Völkern, die nach 1517 einwanderten? Was ist mit jenem Drittel der Indigenen, das mittlerweile in der Stadt lebt? Die Natur als Mutter und Ort allen Lebens fällt dort als integraler Bestandteil indigener Kultur weg. "Die Natur hat für städtische Ureinwohner tatsächlich an Bedeutung verloren", sagt Xilonen Luna, eine leitende Angestellte der Nationalen Kommission für die Entwicklung der indigenen Völker. Umso wichtiger sei das fortgesetzte Leben in einer Gemeinschaft. Nur in dieser sei es möglich, die Sprache zu pflegen, Riten und Zeremonien zu feiern. Tatsächlich begründete Doña Carmen ihr Nicht-Maya-Sein damit, dass sie die Sprache ihrer Verwandten nicht mehr spricht. Ob andere überlieferte Praktiken, die sie zum Beispiel im Kreise der Familie oder als Hebamme weiterhin pflegt, ihr eine indigene Identität verleihen oder nicht, hängt vom subjektiven Empfinden ab. Xilonen Luna sagt, indigene Kultur im 21. Jahrhundert dürfe nicht als Verwässerung des prähispanischen Originals gewertet werden. "Die Ureinwohner haben in den vergangenen 500 Jahren eine große Wandlung durchgemacht. Es wäre anachronistisch und unfair, diesen Prozess als Verlust indigener Identität zu werten", sagt sie.
Diese hehre Forderung zerschellt jedoch an der Realität. Trotz den politischen Versuchen, die heutigen Ureinwohner besserzustellen, dominiert in der mexikanischen Gesellschaft eine Vorstellung, die solche Bemühungen untergräbt: Der tote ist der edle, der lebende der minderwertige "Indio". Es erfüllt die Mexikaner mit Blick auf die so mächtigen, bewunderten und zugleich als Parvenus verachteten amerikanischen Nachbarn mit Stolz, dass in ihnen ein uraltes kulturelles Erbe weiterlebt. Von der Eigenbezeichnung der Azteken – "Mexicas" – leitet sich der Name Mexiko ab. Der Adler, der in der Mitte der Nationalfahne prangt, ist jener, der gemäß der Legende die Azteken im 14. Jahrhundert nach langer Wanderschaft ins zentrale Hochtal führte. Mitten in einem riesigen See- und Sumpfgebiet setzte er sich auf einen Kaktus, was die Azteken als Zeichen deuteten, am verheißenen Ort angekommen zu sein. Sie gründeten Tenochtitlán, die prunkvolle Hauptstadt, die 1521 von den Spaniern eingenommen und zerstört wurde. Auf den Ruinen errichteten die Eroberer Mexiko-Stadt. Auf deren Prachtstraße Paseo de la Reforma thront heute aber nicht der siegreiche Hernán Cortés auf einem Denkmal, sondern der letzte Aztekenherrscher Cuauhtémoc.
Doch den heutigen Ureinwohnern dienen solche Rückbezüge und Ehrerweisungen herzlich wenig. Sie sind ein Produkt, das den Interessen der einheimischen Oberschicht entsprungen ist. In der Kolonie hatten die Spanier wie auch die "Criollos", die auf dem amerikanischen Kontinent geborenen Nachkommen spanischer Einwanderer, die prähispanischen Kulturen als gottlos und minderwertig erachtet. Die Zeit vor der Eroberung galt es auszulöschen, nicht weiterzuführen.
Eine Umwertung fand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts statt, als die Unzufriedenheit mit der Krone und das Bedürfnis der Criollos nach Autonomie wuchsen. Im Bestreben, Neu-Spanien politisch und wirtschaftlich unabhängiger zu machen, schürten sie das Bewusstsein von einer kulturellen Eigenständigkeit. Und diese sollte in der eigentümlichen Vermischung von europäischer und prähispanischer Kultur wurzeln. Plötzlich wurden die Ruinen der alten Kulturen nicht weiter zerstört oder dem Verfall überlassen, sondern erforscht und bewahrt. Plötzlich bekamen die "blutrünstigen Heiden" von einst eine noble Rolle zugewiesen: Die im Bau befindliche mexikanische Nation brauchte sie zur Erklärung und Legitimierung ihrer selbst.
Auch in der Außendarstellung sollte die neue Bewertung der Vergangenheit zum Ausdruck kommen. Auf der Weltausstellung von 1889 in Paris trumpfte das Regime von Diktator Porfirio Díaz mit einem Pavillon auf, der auf Grundlage von neuesten archäologischen Erkenntnissen im Stile eines aztekischen Palastes gebaut worden war. Der Historiker Fausto Ramírez schreibt, dass diese Referenz nicht einem beliebigen Volk erwiesen wurde. Im vorangegangenen Projektwettbewerb war auch ein von den Maya inspirierter Pavillon präsentiert worden. Doch ließ sich Díaz’ zentralistische Politik mit den Azteken ungleich besser legitimieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tobte auf der von der Hauptstadt weit entfernten Halbinsel Yucatán ein Aufstand der Maya gegen den Zentralstaat, der mehrere Hunderttausend Tote forderte. Also zog es der Nationalstaat vor, sich eine aztekische Vorgeschichte zu geben. Unter Díaz wurde auch das erwähnte Denkmal von Cuauhtémoc auf dem Paseo de la Reforma errichtet.
…und des touristischen Geschäfts
Wohl weniger im Wissen um solche Beispiele der Instrumentalisierung der prähispanischen Vergangenheit als vielmehr mit einer historisch geprägten, skeptischen Intuition nehmen die Maya das Tohuwabohu um den 21. Dezember 2012 nicht als Würdigung ihrer selbst, sondern als das wahr, was es ist: ein gutes Geschäft. Sie wissen genau, was die Fremden sehen und hören wollen. Sie führen sie zu den Ruinen und in die Dörfer, wo sie ihnen vortanzen, vorsingen, vorkochen oder zur Schau Mais anpflanzen. Denn dort, im Dorfalltag, hat die prähispanische Kultur am ehesten überdauert. Aber natürlich heben die meisten Maya die kleinen Brosamen des großen Geschäfts als Küchengehilfen, Kellner oder Putzfrauen auf, nicht als Kleinunternehmer.
Eine Interpretation dieser Integration in den kapitalistischen Prozess ist, dass die Maya sich schlicht den Anforderungen und Chancen der Gegenwart anpassen und so dereinst – womöglich – aus der verbreiteten Armut aufsteigen werden. Der Anthropologe Luis Ramírez hingegen glaubt, dass die Maya zu ihrer eigenen Musealisierung beitragen, wenn sie ihren Alltag der touristischen Nachfrage anpassen. Ihre Kultur verliere dadurch an Authentizität und Lebendigkeit. In dieser Perspektive vollzieht sich der Untergang der "tiefen" Kultur, die im dörflichen Alltag die spanische Vernichtungspolitik und die Jahrhunderte überdauert hat, tagtäglich und leise, am Abend vor und wahrscheinlich auch am Morgen nach dem Ende des vierten Weltzeitalters.