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Letzte Menschen. Die Heldinnen und Helden des Weltuntergangs

Judith Schossböck

/ 16 Minuten zu lesen

Hinter den Geschichten vom Weltuntergang, die wir erzählen, steckt eine Sehnsucht – nach Transformation und Umkehr, aber auch der Möglichkeit, das vollkommen Andere zu denken, sei es in Bezug auf gesellschaftliche Umbrüche, aber auch im Hinblick auf Potenziale des eigenen Ichs oder des Menschseins an sich. So beschreiben viele, die sich mit Szenarien vom Untergang der Menschheit beschäftigen, den spezifischen Reiz daran anhand der Möglichkeit, in der (Post)Apokalypse dem nahe zu kommen, was den Menschen eigentlich ausmacht. Science-Fiction-Forscher Mike Alsford stellt dazu fest, dass dieses Genre weniger mit der Zukunft oder Technologie zu tun hat als mit der human condition, also mit den Bedingungen und der Lage des Menschen an sich: "The question that consumes producers of SF as much as it does theologians and philosophers is what one might call the primal question: What are we?"

Wer sind aber diese letzten Menschen, und wie verhalten sie sich, wenn alle gesellschaftlichen Sicherheiten beziehungsweise Gegenüber plötzlich weggefegt sind? Dieser Beitrag wirft einen exemplarischen Blick auf diese Figuren und behandelt hierzu vorrangig Beispiele der Neueren Deutschen Literatur nach 1945. Ein wichtiges Bestimmungsmerkmal der Texte ist dabei, dass der Roman von einer Hauptfigur getragen wird beziehungsweise nur ein perspektivischer Überlebender/eine perspektivische Überlebende vorhanden ist.

Der Wunsch nach Einsamkeit beziehungsweise dem Verschwinden der uns manchmal an unserer Selbstentfaltung hinderlichen Umgebung ist nicht unbedingt mit apokalyptischen Vorstellungen verbunden. Der (post)apokalyptische Kontext macht es aber leichter, fungiert als narratives Setting, in der grundsätzliche Fragen des Menschseins beziehungsweise von Menschlichkeit verhandelt werden. In einem Tagebuch-Eintrag von Franz Kafka aus dem Jahr 1913 findet sich eine Stelle, in der er den "Wunsch nach besinnungsloser Einsamkeit. Nur mir gegenübergestellt sein." verzeichnet. Genau dieser Selbstkonfrontation mangelt es den Protagonistinnen und Protagonisten meiner Textauswahl nicht. Deren Isolation ist jedoch meist nicht selbst gewählt beziehungsweise nicht aus eigenem Entschluss gefasst, wenngleich sie manchmal nicht ungelegen kommt oder sich oft in der Persönlichkeitsstruktur vorabzeichnet.

Der letzte Mensch in Kultur- und Literaturgeschichte

Der Weltuntergang beziehungsweise die Auseinandersetzung mit diesen Räumen der Einsamkeit ist Teil der Kulturgeschichte. Immer, so der Salzburger Arzt und Psychoanalytiker Bodo Kirchner in Bezug auf Wurzeln der Apokalypse, trägt dieser Untergang auch einen Retter oder eine Retterin in sich. Und wenn nicht, dann zumindest eine Heldin oder einen Helden, aus deren oder dessen Perspektive der Untergang uns alle betrifft. Von daher ist die Figurenzeichnung der letzten Überlebenden alles andere als irrelevant: Vertreten sie einen "richtigen" Glauben, sind sie welche von den "Guten", tun wir gut daran, uns dieser Richtung anzuschließen, wenn uns der Untergang droht? Die ethischen Bezüge rund um die Thematik sind evident.

Welche Eigenschaften die Figuren, die in die Dialektik von Überleben und Verhandeln von Beziehungen im Angesicht des Untergangs eingewoben sind, tendenziell an den Tag legen und ob sich darin bestimmte Muster beziehungsweise Vergleichsmomente finden lassen, ist unter anderem Gegenstand dieser Betrachtung. Auch zeigen sich im postapokalyptischen Überlebenskampf oftmals dieselben, klassischen Probleme – beispielsweise hinsichtlich der Frage, wie man sich als letzter Mensch denn alleine einen Zahn zieht beziehungsweise mit Zahnschmerzen umgeht. Einfach selber reißen? Schmerztabletten auftreiben? Sich selbst überlisten? Ein derartiges Szenario ist deshalb besonders häufig und eben auch narrativ ergiebig, weil die damit aufgeworfenen Bedeutungsebenen von Schmerz, Krankheit und Expertentum eine besonders gute Metapher für unsere Abhängigkeit von anderen darstellen und damit die Unmöglichkeit des Austritts aus der Gesellschaft versinnbildlichen. Ebenso individuell ist der unterschiedliche Grad von Rebellion gegen gesellschaftliche Strukturen. Häufig werden jedoch letzte Menschen vorgestellt, die in irgendeiner Art und Weise eine Tendenz zum Außenseiter oder zur Außenseiterin aufweisen beziehungsweise mit bestimmten gesellschaftlichen Vorgängen bereits vor dem Einbruch der Katastrophe irgendwie auf Kriegsfuß standen.

Das Phänomen Postapokalypse betrachte ich als Genre, welches wiederum ein System von Teilgenres konstituieren kann. Literaturgeschichtlich lässt sich seit den 2000er Jahren ein Trend zur Darstellung einer unbestimmten und undefinierten Katastrophe ausmachen. In den Jahren zuvor, insbesondere den 1980er Jahren, in der die Ausgestaltung von Szenarien mit Bezug auf Atomwaffen und -kraft vorherrschend ist, findet man hingegen meist sehr konkrete Beschreibungen der Gründe für den Weltuntergang. In den 1960er und 1970er Jahren wurde Apokalypse gewissermaßen zum Modewort – viele Weltuntergangsvisionen begleitete eine "fundamentale Zivilisationskritik". Gerade jüngere Publikationen stehen symptomatisch für eine neuere Entwicklung, die suggeriert, dass die konkrete Gestaltung des Untergangs zugunsten vager und uneindeutiger Darstellungen in den Hintergrund tritt.

Das Motiv des letzten Menschen reiht sich darüber hinaus in eine lange Tradition des philosophischen Diskurses ein. So bildet beispielsweise "Der letzte Mensch" von Maurice Blanchot ab, wie ein Wesen ohne Schicksal und Wahrheit literarisch aussehen könnte. Der letzte Mensch von Blanchot ist auch als Abspaltung des eigenen Ichs begreifbar. Weitere Betrachtungen des Motivs finden sich beispielsweise bei Friedrich Nietzsche in "Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst. Ein Fragment aus der Geschichte der Nachwelt" (1872/73). Dieser Text beginnt mit den Worten: "Den letzten Philosophen nenne ich mich, denn ich bin der letzte Mensch". Die existenziellen Bezüge des Motivs sowie dessen Fruchtbarkeit für Fragen der Identität und des Menschseins sind evident.

Die Allgegenwart des Themas "Untergang der Menschheit" und dessen nahezu ständige Aktualität wird bei der Betrachtung von Diskussionen um nukleare Katastrophen, aber auch dem Klimawandel deutlich. Aufgrund einer inflationären Verwendung von Katastrophenbegriffen nimmt man in der Kulturwissenschaft eine "Normalität" des apokalyptischen Diskurses an. Laut Jacques Derrida befinden wir uns durch die potenzielle Vernichtung des gesamten literarischen Archivs und damit aller symbolischer Kapazität in einem postapokalyptischen Zeitalter. Unser Zeitalter ist postapokalyptisch, insofern auch die Apokalypse immer schon stattgefunden hat – in den Texten, den Medien, den Simulationszentren, die voll sind von ihrer sinnlich anschaulichen Präsenz. Vielleicht denken wir uns also deshalb gerne als letzten Menschen, weil wir uns bereits an die Vorstellung des postapokalyptischen Raums gewöhnt haben.

Warum wir uns gerne alleine denken

Szenarien vom Untergang der Menschheit werden oft auf deren gesellschaftliche, ontologische und identitätspolitische Relevanz hinterfragt. Auch personifizierte Ängste, die mehr oder weniger diffus in unserem Unbewussten existieren, spielen dabei eine Rolle. In den meisten Erzählungen vom Ende wird die Frage, was den Menschen, seine Identität und sein "Ich" eigentlich ausmacht beziehungsweise auszeichnet, früher oder später ausführlich gestellt. In Bezug auf die gesellschaftskritische Komponente bieten die Figuren für den Leser oder die Leserin auch eine Möglichkeit, sich eine Art "anarchistische Tarnkappe" aufzusetzen beziehungsweise in eine revolutionäre Rolle, die gängigen Gesellschaftsentwürfen entgegensteht oder diese anzweifelt, zu schlüpfen. Insofern stellt der Entwurf von Weltuntergängen immer auch einen Angriff auf bestehende Mächte dar, durch den wir unbewusst unsere Wut gegen ein Gesellschaftssystem ausdrücken. Und wenn sich diese letzten Menschen mit weniger zufrieden geben müssen, spiegelt das auch den freiwilligen Verzicht wider, der als Antithese zu kapitalistischen und konsumbasierten Modellen oft gefordert wird. Damit im Zusammenhang steht die Hypothese von der Erfüllung eines Wunsches (wish-fulfillment hypothesis): Wir halten an der Vorstellung eines Weltendes fest, weil wir uns insgeheim nach der Zerstörung der Gesellschaft allgemein oder speziell des Kapitalismus sehnen. Der letzte Mensch aus einem fiktionalen Szenario ermöglicht uns diesen kulturkritischen Prozess entlang eines Gedankenexperiments. In der Folge soll ein genauerer Blick auf Herkunft und Charakteristika dieser Figuren und deren mehr oder weniger anti-normative oder (gesellschafts-)kritische Eigenschaften geworfen werden.

Personale Einzigartigkeit in postapokalyptischen Szenarien

Im Zusammenhang mit der Frage der Charakteristik letzter Menschen wird oft die Frage nach deren Geschlecht aufgeworfen. Diese ist leicht beantwortet: Gemeinhin handelt es sich bei diesen Figuren, mit wenigen Ausnahmen, um männliche Protagonisten. Wenn Frauen vorkommen, so meist in Nebenrollen, häufig im Rahmen des Projekts des gemeinsamen Zusammenlebens von Mann und Frau. Judith Merills "Shadow on the Hearth" (1950) bietet eine der wenigen weiblichen Protagonistinnen in der Figur einer Hausfrau. Diese hält sich aber von Expeditionen fern, führt den Haushalt und kümmert sich um ihre zwei Töchter. Bekannter ist Marlen Haushofers Roman "Die Wand", der durchaus feministische Aspekte reflektiert und die Innenperspektive der Figur ins Zentrum stellt. Das Subjekt hinter der Wand wurde in diesem Zusammenhang als Anti-Robinson gesehen, denn während Robinson seinen Gefährten Freitag in seiner Überlegenheit missioniert, steht die Frau gerade für die Abstinenz von Machtausübung.

Häufig wird die genaue Herkunft der letzten Menschen nur angedeutet beziehungsweise erst im Laufe der Handlung genauer dargelegt. Wie sie vor der Katastrophe ihr Leben geführt haben, ist Teil der Auseinandersetzung der Figuren mit der eigenen Vorgeschichte – nicht selten auch mit den dunklen Stellen der eigenen Biografie. Inwieweit sind diese Figuren, die mit dem Überleben bestraft oder auserwählt werden, aber etwas Besonders – oder anders als die anderen? Handelt es sich bei der Darstellung von Katastrophenszenarien häufig um Wunschvorstellungen von zivilisationsmüden Individuen, die sich alles nur einbilden?

Ausgehend von der bereits festgestellten Fruchtbarkeit des Motivs für existenzielle Fragestellungen wird in der Folge der Frage nachgegangen, wie personale Einzigartigkeit in verschiedenen Werken verhandelt wird beziehungsweise sich Identität in einem vordergründig subjektleeren Raum konstituiert. Dabei werden Romane der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts herangezogen, die das Alleinsein eines Menschen nach einer Katastrophe behandeln. Relevant sind hier Arno Schmidts "Schwarze Spiegel" (1951), Marlen Haushofers "Die Wand" (1963), Herbert Rosendorfers "Großes Solo für Anton" (1976), "Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit" (ein 1990 in deutscher Übersetzung vorliegender Text des italienischen Autors Guido Morselli), Thomas Glavinics "Die Arbeit der Nacht" sowie der 2008 erschienene Roman "Der Tag, an dem die Sonne verschwand" von Jürgen Domian.

Aufgrund der Möglichkeit, im postapokalyptischen Setting frühere Ordnungen zu ignorieren, bieten sich für die Protagonistinnen und Protagonisten Chancen für neue, unabhängige Identitätsentwürfe und neue Verortungen des Selbst in Bezug auf gesellschaftliche Mechanismen. Im Gegensatz dazu steht das Bestreben, an den alten Konzepten und Konventionen festzuhalten und damit die Aufrechterhaltung von Normalität zu fingieren. In diesem Spannungsfeld schlagen sich eigentlich alle Figuren herum, ebenso mit Konzepten wie Schicksal oder "Auserwähltheit". Handelt es sich bei den letzten Menschen um Auserwählte, die nur nichts von ihrer Disposition wissen?

Auch wenn auf den ersten Blick der/die letzte Überlebende eher zufällig das ist, was er oder sie eben ist, so zeigen sich bei genauerer Betrachtung Zusammenhänge zwischen den Charakteristika der Hauptfiguren und deren Bedeutung für das postapokalyptische Setting. Bereits vor der Katastrophe erkennbare Aspekte von Zivilisationskritik kommen oft im Gewand des Einzelgängertums daher. Häufig werden auch intellektuell überlegene Menschen dargestellt. So grenzen sich die Figuren in "Die Wand" und "Schwarze Spiegel" ganz bewusst von der Mehrheitsmeinung und damit symbolisch vom Rest der Menschheit ab. Auch das Ich in "Die Arbeit der Nacht" ist durch eine individuelle Form gesellschaftlicher Unfähigkeit gekennzeichnet: Es kämpft gegen die Handlungen eines Alter Egos – was bereits vor dem Verschwinden der Menschheit angedeutet wird. Denn schon als Kind beschäftigte ihn die Wunschvorstellung, einmal ein Auserwählter sein zu dürfen, um beispielsweise eine Geiselnahme in der Bank zu überleben: "Er hatte sich gewünscht, vor allen Augen durch eine Gefahr gegangen zu sein. Die Auszeichnung zu tragen, eine harte Prüfung bestanden zu haben. Er hatte ein Überlebender sein wollen. Ein Auserwählter hatte er sein wollen. Der war er jetzt."

Auch die Ich-Erzählerin in "Die Wand" hat schon vor ihrer Abgeschiedenheit unter den Zuständen der Außenwelt gelitten: "Wären alle Menschen meiner Art gewesen, hätte es nie eine Wand gegeben, und der alte Mann müßte nicht versteinert vor seinem Brunnen liegen. Aber ich verstehe, warum die anderen immer in der Übermacht waren."

Der Held in "Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit" stellt einen intellektuell gezeichneten Außenseiter dar. In der Nacht auf das Unglück wollte er sich in einer Höhle umbringen, weil "das Negative das Positive überwog". Der Protagonist leidet bereits länger an Paramnesie: der Erinnerung an nie gelebte Dinge. Weitere Eigenarten der Figur sind ein Geflecht von Neurosen (beispielsweise Pyrophobie oder Wiederholungszwang). Er beantwortet die Frage, ob er durch Zufall überlebt hat oder eine Art Auserwählter ist, selbst: "Ich werde zu dem Schluß kommen, daß ich der Auserwählte bin, wenn ich davon ausgehe, daß die Menschheit ihr Ende in der Nacht zum 2. Juni verdient hat und die ‚dissipatio‘ eine Strafe war. Ich werde zu dem Schluß kommen, dass ich der Ausgeschlossene bin, wenn ich davon ausgehe, daß es ein glorreiches Geheimnis gegeben hat, Aufnahme in das Empyreum, Angelisierung der Spezies und so weiter."Schon vor dem Roman war dieser letzte Mensch entschlossen, den Freitod zu wählen, was nach der Katastrophe interessanterweise nicht mehr der Fall ist. Diese Figur sieht sich selbst als nicht integriert: "Gerade weil er Angst vor Menschen hat, schloss er sich schon zu Lebzeiten aus."

Anton L. aus "Großes Solo für Anton" besitzt ebenfalls einige psychologische Eigenarten und leidet an diversen Zwängen: Waschzwang und Hypochondrie ersten Grades wechseln sich mit einem eigenartigen Verhältnis zur Sauberkeit ab, wenn er sich wiederholt ein halbes Jahr lang nicht wäscht. Er fragt sich gleich zu Beginn: "Wer weiß, ob ich nicht wegen meines Geruches von der Katastrophe verschont geblieben bin, wer weiß." Auf der anderen Seite ist Anton L. aber ein kluger Mensch – auch hier zeigt sich somit ein weiteres Beispiel für die häufige Zeichnung eines "intellektuellen Außenseiters". Bezeichnend für ihn ist aber neben der nicht vorhandenen Hygiene, dass er ein Gewohnheitsmensch ist und sich oft bei stereotypen Handlungen ertappt. Er weist seltsame Verhältnisse zu seinen Mitmenschen auf und erschießt Tiere emotionslos. Erwähnenswert ist auch sein Autoritätskomplex: Anton L. ist ein duckmäuserischer Finanzbeamter. Die Forschung spricht von einer "abwegigen psychischen Struktur des Anton L.", der sich durch eine "Unvereinbarkeit zwischen Selbst und Bewußtsein" auszeichnet. Im Alltag bildet er sich auch allerhand ein, beispielsweise wenn er glaubt, in der ärgsten Sommerhitze mindestens acht Unterhemden und mehrere Pullover anhaben zu müssen.

Frühere Einbildungen oder Ängste werden auch in "Die Wand" thematisiert: "Als Kind hatte ich immer unter der närrischen Angst gelitten, daß alles, was ich sah, verschwand, sobald ich ihm den Rücken kehrte." Die Katastrophe kann also als Erfüllung eines unbewussten Wunsches und sogar als Idylle gelesen werden. Auch für Lorenz aus "Der Tag, an dem die Sonne verschwand" ist die Frage des Auserwähltseins relevant: "Und vor allem weiß ich nicht, warum ich noch lebe, warum gerade ich verschont wurde. Ich hatte doch an jenem Nachmittag gar nichts Außergewöhnliches getan, was mich auf wundersame Weise hätte schützen können. (…) Oder bin ich der letzte Mensch?"Der Protagonist gilt allgemein als durchschnittlich. Er fragt sich, was die erlebte Katastrophe mit seinen "kleinen Lebensverfehlungen" zu tun haben könnte und kommt zu dem Schluss, dass es absurd wäre, dass Gott ihn auserwählt hätte: "Ich will mir klarmachen, dass die Weltkatastrophe, in die ich hineingeraten bin, nichts mit meiner individuellen Vergangenheit zu tun hat."

Letztlich kann die Katastrophe in allen Fällen als Zwischenstatus zwischen Wunschvision und Wahnvorstellung gelesen werden, wobei die Katastrophe meist als Befreiung und als Grundlage einer neuen Existenz fungiert. Diese letzten Menschen zeichnen sich durch eine Abgrenzung von der bestehenden Ordnung aus, wobei sich verdrängte Anteile der eigenen Persönlichkeit zeigen können. Wesentliche Faktoren sind dabei "irrationale Kräfte im eigenen Wesen", die suggerieren, dass die Protagonisten und Protagonistinnen an den sie gefährdenden Extremsituationen nicht unbeteiligt sind und der Grund der Katastrophe irgendwie doch in den Figuren aufzuspüren ist.

Letzte Menschen sind also häufig intellektuelle Einzelgängerinnen und Einzelgänger beziehungsweise sehen sich in irgendeiner Weise als außerhalb der Gesellschaft stehend. Die "Entzivilisierung der Gesellschaft" im postapokalyptischen Setting schafft dabei Möglichkeiten für alternative Identitätsentwürfe.

Letzte Menschen – oder doch nicht?

Der letzte Mensch muss sich seiner selbst vergewissern. Er ist dabei nicht selten von einer Angst gegenüber dem mehr oder weniger bekannten "Anderen" und Misstrauen gegenüber möglichen weiteren Menschen geprägt. Interessant ist auch, dass meist an irgendeiner Stelle im Roman doch noch das andere Geschlecht auftaucht. Dahinter steckt unter Umständen die alte Vorstellung, dass nur ein Paar die Welt retten kann – dass es vielleicht also durch Liebe gelingen kann, den Untergang abzuwenden.

Die Angst, schlussendlich doch noch auf den anderen zu treffen, drückt sich beispielsweise durch Bewaffnung aus: Jonas führt in "Die Arbeit der Nacht" dauerhaft eine Pumpgun mit sich. Auch die Kommunikation der letzten Menschen ist tendenziell durch Gewalt gekennzeichnet, das Motiv des Kampfes damit eng verbunden. Dies drückt sich aus in Kämpfen von Alter Egos (beispielsweise in "Die Arbeit der Nacht"), als Duell (etwa in "Großes Solo für Anton", siehe die kriegerische Formation der Hunde) oder durch Bewaffnung ("Schwarze Spiegel"). Zu einem Höhepunkt kriegerischer Auseinandersetzung kommt es in "Die Wand": Als eines Tages ein zweiter Überlebender auftaucht, der den Jungstier und den Hund der Frau ermordet, rächt sie sich und erschießt ihn mit einem Jagdgewehr. Hier wird insbesondere die männlich gezeichnete Figur als Aggressor friedlichen Lebens erfasst. Die Ich-Erzählerin grenzt sich von diesem symbolischen "Anderen", aber auch einem möglichen Paarungsverhalten und damit der Menschheit an sich ab. Auch Tiere können das Andere symbolisieren. Das Tierhafte in "Großes Solo für Anton" ist in der Figur des Anton L. dargestellt: Er frisst lebendige Fasane, ohne sie zu rupfen, spuckt die Knochen aus und spricht mit einem Hasen. Ohne Tiere kommt vordergründig nur "Die Arbeit der Nacht" aus, doch Jonas, der sich fragt, warum ihn diese so beschäftigen, sieht sich letztlich ebenfalls mit einer tierhaften Projektion seiner Ängste konfrontiert: einer Erscheinung eines Wolfsviehs, das ihn in seinen Träumen heimsucht. Jonas kommuniziert in "Die Arbeit der Nacht" darüber hinaus mit ihm bewussten Anteilen seines Ichs, aber auch mit seinem Alter Ego, dem Schläfer. Der Übergang in wahnhafte Ausprägungen dieser Selbst-Konfrontation ist fließend.

Durch das Fehlen gesellschaftlicher Projektionsflächen sind die Protagonistinnen und Protagonisten mit neuen Identitätsentwürfen konfrontiert. So lernt Lorenz in "Der Tag, an dem die Sonne verschwand" beispielsweise in der Einsamkeit, sich "moralisch korrekt" zu verhalten und wandelt sich als Ich deutlich. Auch das Ich aus "Die Wand" ist ein eindrucksvolles Beispiel für eine parabelhafte Lesart, in der sich das Ich im postapokalyptischen Raum völlig neu entwickelt. Und Jonas in "Die Arbeit der Nacht" steht für eine sich radikal transformierende Identität: Er verändert sich im Laufe des Romans vom gesellschaftlich geformten Stadtmenschen zu einer Art Wolfsvieh.

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass das Motiv des letzten Menschen besonders dafür geeignet ist, individuelle und gesellschaftliche Krisen – oder auch Exzesse unserer Lebensform – zu benennen und sie für uns nachvollziehbar zu machen. Katastrophen als Ereignisse, die den Lauf der Dinge jäh unterbrechen, machen diese Auseinandersetzung anstrengend, aber rütteln das Individuum auf, machen seine gesellschaftlichen Bezüge fassbar und helfen bei ontologischen Einsichten. Bei der Vorstellung vom letzten Menschen geht es daher hauptsächlich um die Konfrontation mit unserem eigenen Selbst, die wir anhand der Extremsituation der dargestellten Hauptfiguren mit all ihren Eigenheiten gerne nacherleben. In diesem Sinne: Sind wir nicht alle ein bisschen auserwählt, uns mit dem Weltuntergang zu beschäftigen?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mike Alsford, What if? Religious Themes in Science Fiction, London 2000, S. 26.

  2. Der Beitrag beruht unter anderem auf: Judith Schossböck, Letzte Menschen. Postapokalyptische Narrative und Identitäten in der Neueren Literatur nach 1945, Bochum 2012; dies., Das bin (doch) ich. Identität und personale Einzigartigkeit in postapokalyptischen Szenarien, in: Leo Schlöndorff (Hrsg.), Die Apokalypse. Funktionen und symbolische Repräsentationen eines Begriffs, 2013 (i.E.); dies., Postapokalypse – Wow! Faszination und Funktion der Rezeption postapokalyptischer Narrationen, in: Christian Hoffstadt/Stefan Höltgen (Hrsg.), This is the End … Mediale Visionen vom Untergang der Menschheit, Bochum 2011, S. 53–72.

  3. Franz Kafka, zit. nach: Andreas Töns, "Nur mir gegenübergestellt". Ich-Fragmente im Figurenfeld: Reduktionsstufen des Doppelgängermotivs in Kafkas Erzählprosa, Bern u.a. 1998, S. 15.

  4. Vgl. Martin Stricker, Die Katastrophe macht den Thrill aus, in: Salzburger Nachrichten vom 4.3.2011.

  5. Ähnlich geht auch Hans Krah in seiner Untersuchung vor, in der er "Endzeit" als Genre begreift, das sich durch eine spezifische Narration auszeichnet. Er spricht von "genrespezifische(n) Modelle(n) narrativer Programme". Hans Krah, Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe. Narrationen vom ‚Ende‘ in Literatur und Film 1945–1990, Kiel 2004, S. 375.

  6. Romane wie "Die Rättin" (1986) von Günter Grass oder "Julius oder Der schwarze Sommer" (1983) von Udo Rabsch wurden für eine nähere Analyse nicht ausgewählt, da der Fokus der Texte auf anderen Aspekten liegt.

  7. Gerhard R. Kaiser, Apokalypsedrohung, Apokalypsegerede, Literatur und Apokalypse, in: ders., Poesie der Apokalypse, Würzburg 1991, S. 7.

  8. Vgl. Maurice Blanchot, Der letzte Mensch, Basel–Wien 2005; Josef Hanimann, Auch Gott braucht Zeugen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.3.2006, S. 50.

  9. Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 7, München 1988, S. 460f.

  10. Vgl. Jacques Derrida, No Apocalypse, not now, in: ders., Apokalypse, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 20002, S. 81–118.

  11. Vgl. Michael Wetzel, "Apocalypse now". Der Wahrheitsbegriff der Postmoderne? (Nachwort des Übersetzers), in: J. Derrida, Apokalypse (Anm. 13), S. 119–125, hier: S. 124.

  12. Vgl. Gerry Canavan, The Past as Anti-Future, Externer Link: http://culturemonkey.blogspot.com/2008/01/past-as-anti-future.html (10.11.2012).

  13. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang auch der Text "Z wie Zacharias" von Robert C. O’Brien, in dem die 16-jährige Ann die Hauptfigur ist.

  14. Vgl. Konstanze Fliedl, Die melancholische Insel, in: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich, 35 (1986) 1/2, S. 35–51.

  15. Arno Schmidt, Schwarze Spiegel, in: ders., Leviathan und Schwarze Spiegel, Frankfurt/M. 2005, S. 41–141 (Erstausgabe 1951); Marlen Haushofer, Die Wand, München 2004 (Erstausgabe 1963); Herbert Rosendorfer, Großes Solo für Anton, Zürich 1981 (Erstausgabe 1976); Guido Morselli, Dissipatio humanis generis oder Die Einsamkeit, Frankfurt/M. 1993 (italienische Originalausgabe 1977); Thomas Glavinic, Die Arbeit der Nacht, München–Wien 2006; Jürgen Domian, Der Tag, an dem die Sonne verschwand, München 2008.

  16. Vgl. Helmut Gollner, Thomas Glavinics Welt-Literatur. Anmerkungen zu einem Erzähler, in: Literatur und Kritik, 36 (2001) 355/356, S. 51–56, hier: S. 54.

  17. T. Glavinic (Anm. 15), S. 94.

  18. M. Haushofer (Anm. 15), S. 147.

  19. Auch die Heldin in "Die Wand" stellte sich vor, wie sie sich zum Sterben in eine Höhle zurückziehen wollte, um nie gefunden zu werden. Vgl. ebd., S. 95.

  20. G. Morselli (Anm. 15), S. 17.

  21. Ebd., S. 88.

  22. Ebd., S. 149. Vgl. Wolfram Schütte, Die verschwundene Menschheit. Die "schwarze Luzidität" von Guido Morsellis letztem Roman, in: Frankfurter Rundschau vom 2.6.1990, Wochenendbeilage "Zeit und Bild", S. 4.

  23. Vgl. H. Rosendorfer (Anm. 15), S. 11.

  24. Ebd., S. 13.

  25. Bruno Weder, Herbert Rosendorfer – sein erzählerisches Werk, München 1978, S. 6.

  26. M. Haushofer (Anm. 15), S. 170.

  27. J. Domian (Anm. 15), S. 27.

  28. Ebd., S. 114.

  29. James Berger, After the End. Representations of Post-Apocalypse, Minneapolis 1999, S. 99.

  30. Vgl. Andreas Breitenstein, Die letzte Welt. Thomas Glavinics grandioser Endzeitroman "Die Arbeit der Nacht", in: Neue Zürcher Zeitung vom 15.8.2006, S. 23.

  31. Vgl. Gerhard Marcel Martin, Weltuntergang. Gefahr und Sinn apokalyptischer Visionen, Stuttgart 1984, S. 21.

  32. Vgl. Wolfgang Martynkewicz, Selbstinszenierung. Untersuchungen zum psychosozialen Habitus Arno Schmidts, München 1991, S. 196.

  33. Vgl. Hiltrud Gnüg, Utopie und utopischer Roman, Stuttgart 1999, S. 223.

  34. Vgl. Thea Dorn, Lust an der Apokalypse, in: Der Spiegel, Nr. 2 vom 5.1.2009, S. 126, online: Externer Link: http://www.spiegel.de/spiegel/a-599582.html (22.11.2012).

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M.A., geb. 1981; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für E-Governance, Donau-Universität Krems, Dr.-Karl-Dorrek-Straße 30, 3500 Krems/Österreich. E-Mail Link: judith.schossboeck@gmx.at