"Sozialer Wandel", das heißt nachhaltige Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen, kann schneller oder langsamer vor sich gehen und bleibt den Gesellschaftsmitgliedern mitunter über längere Zeit mehr oder weniger verborgen. Viele dieser Veränderungen berühren lediglich begrenzte Teilbereiche der Gesellschaft, etwa das Familienleben oder die Kunst; andere betreffen tendenziell die gesamte Gesellschaft, wie zum Beispiel die Transformation der staatssozialistischen Gesellschaften Mittel- und Osteuropas nach 1990.
Wer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Westdeutschland aufwuchs, erlebte eine Phase vielfältigen sozialen Wandels: den rasanten Wiederaufbau der westdeutschen Gesellschaft und das "Wirtschaftswunder" der 1950er Jahre, die in den 1960er Jahren einsetzende Bildungsexpan-sion, die Studentenbewegung und das Aufkommen der Bürgerinitiativen und der "Grünen", die "Ölkrise" und das Ende der Vollbeschäftigung seit Mitte der 1970er Jahre, den Zusammenbruch der DDR 1989 und die deutsche Wiedervereinigung, die rapide Verdichtung der weltweiten kommunikativen Vernetzung in allen Lebensbereichen durch das Internet, die Einführung des Euro als gemeinsame Währung von immer mehr europäischen Ländern im Jahr 2002 nach einem jahrzehntelangen Prozess des europäischen Zusammenwachsens seit Gründung der Montanunion von Frankreich, Italien, den Beneluxstaaten und Westdeutschland im Jahr 1951, die von Menschen gemachte drohende "Klimakatastrophe", "9/11" und den islamistischen Terrorismus, die demografische Entwicklung hin zu einer stetig alternden Gesellschaft und die im Herbst 2008 explosiv ausbrechende Weltfinanzkrise, die die Weltwirtschaft und die Staatsfinanzen noch auf Jahre tiefgreifend prägen wird.
Diese sehr unvollständige Auflistung von Problemen und Chancen macht deutlich, in welchem Maße zahlreiche sich gleichzeitig vollziehende und in oftmals komplexen Wechselwirkungen miteinander verknüpfte Veränderungsdynamiken den sozialen Wandel kennzeichnen. Manche Zeitdiagnostiker gehen davon aus, dass eine immer größere Beschleunigung des Wandels aller Lebensverhältnisse zum Signum der Gegenwartsgesellschaft geworden sei, womit wir alle irgendwie zurechtkommen müssen. Dem widerspricht auf den ersten Blick eine ebenfalls immer wieder geäußerte Sichtweise, die auf Stillstand, Reformstaus, Blockaden hinweist: Vieles müsse sich grundlegend ändern, aber nichts passiere – so zum Beispiel die verbreitete Stimmung in der Endphase der DDR. Der scheinbare Gegensatz löst sich auf, wenn man sich klar macht, dass sozialer Wandel einerseits "naturwüchsig" geschieht, zwar als Ergebnis des handelnden Zusammenwirkens vieler Menschen, aber von keinem ge-plant – dass wir andererseits aber in der "Moderne" der Idee anhängen, diesen Wandel mit Blick auf bestimmte Zielvorstellungen, die wir unter der Generalformel "Fortschritt" bündeln, gestalten zu können. Dass "nichts" passiert, kann dann eben bei genauerem Hinsehen auch heißen: Es passiert nicht das "Richtige", das als notwendig Erachtete. Was uns also offensichtlich zunehmend Probleme bereitet, ist ein sozialer Wandel, der aus dem Ruder läuft – wobei wir nicht wissen, ob der Wandel tatsächlich immer ungesteuerter passiert oder ob wir immer unrealistischere Steuerungsambitionen hegen. (...)
Ist das, was wir an sozialem Wandel erleben, eher gut oder eher schlecht? Und haben wir den sozialen Wandel noch im Griff, oder ist er uns entglitten? Diese beiden Fragen – Fortschrittsoptimismus oder -pessimismus und Gestaltungsoptimismus oder -pessimismus – bestimmen unser Bild des sozialen Wandels. Wenn Fortschritts- und Gestaltungsoptimismus zusammenkommen, fühlen wir uns gut. Das ist immer wieder über längere Zeiträume, wie auch in den 1950er und 1960er Jahren in Westdeutschland, die Grundstimmung der Moderne gewesen. Gut können wir uns auch fühlen, wenn wir zwar gestaltungspessimistisch, aber fortschrittsoptimistisch sind. Denn dann gehen wir davon aus, dass eine wohltätige "unsichtbare Hand", etwa die des Marktes, richten wird, was wir geplant nie schaffen würden. Schlecht fühlen wir uns hingegen, wenn wir aufgrund von Gestaltungspessimismus Fortschrittspessimisten sind: Weil wir die überkomplexen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht oder nicht mehr in den Griff bekommen, brechen sie – so kommt es vielen vor – unkontrolliert wie ein Wirbelsturm über uns herein.
Sozialer Wandel – eine Grundkonstante der Moderne
Wenn Letzteres nicht bloß zeitweise, sondern dauerhaft zur gesellschaftlichen Grundstimmung würde, liefe das auf einen radikalen Selbstzweifel der Moderne hinaus. Denn – paradox formuliert: Sozialer Wandel ist eine Grundkonstante der Moderne. Natürlich gab es sozialen Wandel auch in früheren Gesellschaften. Doch diese verstanden sich viel stärker als prinzipiell stabile Ordnungen, in denen Wandel entweder als – zumeist von außen, etwa durch Kriege oder Naturkatastrophen auferlegte – De-Stabilisierung und Verfall oder als Re-Stabilisierung, also als Gegenreaktion vorkommt. Zum Selbstverständnis der Moderne gehört hingegen, dass es keine dauerhafte Ordnung gibt, vielmehr sämtliche gesellschaftlichen Strukturen immer nur als Provisorien gelten. Entweder erweisen sie sich früher oder später als schlecht eingerichtet; dann bemüht man sich darum, sie zu verbessern. Oder sie funktionieren gut; dann setzt genau deshalb eine Anspruchssteigerung derart ein, dass man sie sich noch besser vorstellen könnte und dahingehend umgestaltet. Das kann wiederum glücken, was die nächste Anspruchssteigerung nach sich zieht; und wenn es nicht glückt, zieht man aus der Enttäuschung den Schluss, wieder neue Umgestaltungen zu versuchen.
Dieses Bild wird noch viel komplexer, wenn man berücksichtigt, dass die Vorstellungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen darüber, wann bestimmte gesellschaftliche Strukturen gut beziehungsweise schlecht sind, stark divergieren können. Unternehmern beispielsweise kann ein Sozialstaat schon viel zu weit gehen, den ärmere Bevölkerungsgruppen als völlig unzulänglich ansehen. Unter solchen Bedingungen kann das erfolgreiche Bemühen einer Gruppe, gesellschaftliche Strukturen zu ihren Gunsten zu verändern, im nächsten Schritt andere Gruppen, die bis dahin halbwegs zufrieden waren, auf den Plan rufen und zu weiteren Veränderungen, die in der Regel nicht einfach zum Status quo ante zurückführen, veranlassen – u.s.w.
(...) Hinzu kommen "naturwüchsige" Wandlungsdynamiken – so etwa die auf ein Ursachenbündel aus medizinischem Fortschritt, veränderten Bedingungen für Elternschaft und weitere Faktoren zurückzuführende drastische Verschiebung des Altersaufbaus der Bevölkerung Deutschlands. Solche nicht auf Gestaltungshandeln zurückgehenden Wandlungen sind dann ihrerseits Auslöser für Gestaltungshandeln, sobald sie in den Augen gesellschaftlicher Gruppen Probleme aufwerfen, und halten damit die Unaufhörlichkeit sozialen Wandels ebenfalls in Gang. (...)
Die drei Hauptlinien des sozialen Wandels sind der Übergang von einer "fordistischen" zu einer "postfordistischen" kapitalistischen Wirtschaft, die Individualisierung der Lebensführung und die fortschreitende Globalisierung des gesamtgesellschaftlichen Erfahrungs- und Wirkungshorizonts (Anm. d. Red.).
Das Ideal der individuellen Autonomie
Der bereits in der Renaissance einsetzende moderne Individualismus betonte von Anfang an die Autonomie und Einzigartigkeit des Einzelnen – ursprünglich in Absetzung von der starken Eingebundenheit des mittelalterlichen Menschen in rigide lokale Gemeinschaften. Bis heute neigt der Kult des Individuums zu einer Überbetonung von Optionen auf Kosten der Ligaturen. Auf seinem Programm steht unter anderem eine rigorose Enttraditionalisierung aller Lebenszusammenhänge, um der Person ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Traditionen sollen nicht mehr binden. Die Kehrseite dieser Optionserweiterung ist Ligaturenverlust. Der Schützenverein beispielsweise ist eben nicht bloß spießiger Konformitätsterror, sondern kann auch echtes Gemeinschaftserleben – genau wie in der Raver-Szene – bedeuten.
Der Individualisierungsschub der letzten Jahrzehnte geht vor allem auf drei Entwicklungen zurück. Erstens hat eine bis in die 1980er Jahre anhaltende Wohlstandssteigerung in fast allen Bevölkerungsgruppen zwar die sozialen Ungleichheiten nicht nivelliert, wohl aber einen "Fahrstuhl-Effekt" (Ulrich Beck) ausgelöst: Alle konnten sich kontinuierlich ein bisschen mehr leisten, zum Beispiel Fernreisen oder den Zweitfernseher im Kinderzimmer. Zweitens hat die deutliche Verkürzung der Arbeitszeit den vollerwerbstätigen Gesellschaftsmitgliedern entsprechend mehr Freizeit beschert, in denen sie eigenen Interessen, vom Hobby bis zum politischen Engagement oder zur Weiterbildung, nachgehen können. Drittens schließlich hat das gestiegene Bildungsniveau, wie es sich vor allem im von Kohorte zu Kohorte höheren Abiturienten- und Studierendenanteil zeigt, zum einen dazu geführt, dass immer mehr Menschen bessere Chancen des sozialen Aufstiegs über eine berufliche Karriere bekommen haben. Zum anderen bedeutet höhere Bildung auch die Vermittlung kognitiver Kompetenzen und Anregungen, um profunder über sich selbst und das eigene Leben nachzudenken und auf dieser Grundlage selbstbestimmtere Lebensentscheidungen zu treffen, wie auch ein höheres Interesse daran. Mehr Zeit dafür hat man als Jugendlicher und junger Erwachsener ebenfalls, wenn man mehrheitlich nicht schon mit Vierzehn eine Lehre absolvieren oder als Ungelernter arbeiten gehen muss.
Auszug aus: Uwe Schimank, Sozialer Wandel. Wohin geht die Entwicklung?, in: Stefan Hradil (Hrsg.), Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, Bonn 2012, S. 17–40, online: www.bpb.de/politik/grund-fragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde (12.11.2012).