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Der Sozialstaat als Erziehungsagentur

Stephan Lessenich

/ 15 Minuten zu lesen

Man wird in der Regel die Berufserziehung wie die Erziehung überhaupt nicht zu den sozialpolitischen Angelegenheiten rechnen." So viele dauerhaft richtige Einsichten Hans Achinger, der Doyen der bundesdeutschen Sozialpolitikforschung, in seinem Wissenschaftlerleben auch gehabt haben mag: Hier irrte er. Und dies gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen im eigentlichen Sinne, denn mit der faktischen Zustimmung zur typisch deutschen Ausgliederung des Erziehungs- wie des Bildungswesens aus dem Gegenstandsbereich sozialpolitischen Handelns reproduzierte er in seinem Standardwerk – das zu Recht "Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik" verstanden wissen wollte – eine Leerstelle, die sich hierzulande erst in jüngster Zeit langsam zu füllen beginnt. Zum anderen aber auch im übertragenen Sinne, denn bei Lichte besehen kann kein Zweifel herrschen, dass eine der wesentlichen Wirkungen des modernen Sozialstaats und seiner "Institute" in der politisch-sozialen Erziehung der Bürger und Bürgerinnen demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften besteht.

Bei Lichte besehen war dies – so viel Ehrenrettung muss sein – selbstverständlich auch Hans Achinger bewusst. Schon seine Definition sozialpolitischer "Institute" und ihrer Wirkungsmacht lässt dies deutlich werden, wollte er darunter doch "alle Apparaturen des Vollzugs sozialer Geld- und Sachleistungen verstehen, die Dauer besitzen, von eigenem Geist erfüllt sind und ihrerseits nach kurzer Zeit beginnen, die soziale Intention der Gesamtheit zu beeinflussen, zu deklarieren und zu steuern". Im selben Atemzug mit seinem Verweis der Erziehungsfrage in die Welt des Außersozialpolitischen gab er selbst einen unmissverständlichen Hinweis auf die erzieherischen Ambitionen des Sozialstaats seiner Zeit, übe dieser doch "einen stetigen Druck in der Richtung aus, daß abhängige Arbeit möglichst frühzeitig beendet werde".

Nun wirkt der sozialpolitische Druck auf die lohnabhängig Arbeitenden heute, ein gutes halbes Jahrhundert Sozialstaatsgeschichte später, in genau die entgegengesetzte Richtung, auf dass sie ihr Arbeitsleben möglichst spät beenden mögen. So oder so aber, mit und gegen Achinger, ist eines klar: Die "Institute" des Sozialstaats formen und prägen, neben anderen gesellschaftlichen Institutionen, die moderne Marktgesellschaft und die in ihr handelnden Subjekte, ihre Interessenlagen und Wertideen, ihre Alltagspraktiken und Lebenswege.

Der Sozialstaat ist eine veritable Erziehungsagentur, eine Schulungsinstanz sozialen Handelns. Als solcher wird er im Folgenden in einem ersten Schritt ganz grundsätzlich kenntlich gemacht und in seinen typischen Erziehungsmethoden charakterisiert. In einem zweiten Schritt werden die erzieherischen Ansprüche beschrieben, die er in seiner gegenwärtigen Gestalt als "aktivierender" Sozialstaat an die Adressaten und Adressatinnen seiner Intervention stellt. Der Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zur Frage der Erziehungsberechtigung im Sozialstaat.

Kapitalismus als Schicksal

Es war mit Max Weber einer der Klassiker soziologischen Denkens, der vor nunmehr bald einem Jahrhundert vom Kapitalismus als "der schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens" sprach. Was aber ist am Kapitalismus – mit Weber verstanden als eine historisch spezifische Ordnung des wirtschaftlichen Handelns, im Sinne einer Orientierung desselben auf permanente Produktivitätssteigerung und Profitproduktion im Rahmen rationaler Betriebsführung – das Schicksalsvolle? Webers berühmte Sentenz ist nicht so zu verstehen, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung rückblickend gleichsam die unausweichliche, von "höheren", sprich außersozialen Mächten ausgehende Bestimmung der industriellen Gesellschaften der westlichen Welt (und später des gesamten Globus) gewesen wäre. Vielmehr war gerade er es, der mit seinem Werk auf die konkreten historisch-sozialen Bedingungen und damit auf die Kontingenz (und eben nicht schicksalhafte Notwendigkeit) der Herausbildung des modernen Kapitalismus in ganz bestimmten Weltregionen verwiesen hat.

Schicksalsvoll ist der Kapitalismus für ihn allerdings in dem – zugleich handlungs- wie zukunftsorientierten – Sinn, dass dieser das Leben moderner Gesellschaften und der Menschen in modernen Gesellschaften auf eine besondere, durch keine andere soziale Instanz erreichte Weise beeinflusst, bestimmt und prägt. Es ist die wirtschaftsordnungsbedingte, das heißt vom Feld wirtschaftlichen Handelns ausgehende, Prägung ihrer Strukturbildungen und ihres Selbstverständnisses, der Denk- und Lebensweisen der Menschen, welche die moderne Gesellschaft – trotz ihrer Differenziertheit in verschiedenartigste Funktionsbereiche und Handlungsfelder – zu einer kapitalistischen Gesellschaft hat werden lassen und als solche immer wieder zu neuem Leben erweckt.

Die "kapitalistische Gesellschaft" ist ein Vergesellschaftungsmodus, der dadurch charakterisiert ist, dass eine bestimmte Form des Rentabilitätskalküls nicht nur das im engeren Sinne wirtschaftliche Handeln der Menschen anleitet, sondern auch deren Handlungsvollzüge in anderen, nicht- oder jedenfalls nicht unmittelbar wirtschaftlichen Dimensionen ihres Lebens – Familie und Freizeit, Lust und Liebe – bestimmt oder zumindest mitbestimmt. Auf das wirtschaftliche Handlungsfeld beziehungsweise das eigentliche "Wirtschaftsleben" bezogen hatte Weber schon für seine Zeit eindrücklich beschrieben, wie der Kapitalismus zur – zunächst einmal "teilsystemischen" – gesellschaftlichen Herrschaftsgewalt aufsteigt und damit auch zu einer veritablen Sozialisations- und Erziehungsinstanz wird: "Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist. Er zwingt dem einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf. Der Fabrikant, welcher diesen Normen dauernd entgegenhandelt, wird ökonomisch ebenso unfehlbar eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als Arbeitsloser auf die Straße gesetzt wird. Der heutige, zur Herrschaft im Wirtschaftsleben gelangte Kapitalismus also erzieht und schafft sich im Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmer und Arbeiter – deren er bedarf."

Wie aber setzt sich die kapitalistische Handlungsnorm – und damit der Kapitalismus als wirtschaftliche Handlungsordnung – gesellschaftshistorisch durch? Wie werden wirtschaftliche Handlungsnorm und Handlungsordnung dauerhaft reproduziert? Und wie können sie sich, auch jenseits des wirtschaftlichen Handlungsfelds, als gesellschaftliche Norm und Ordnung ausbreiten und etablieren?

Die ersten beiden Fragen verweisen auf das Problem der Institutionalisierung des Handelns beziehungsweise spezifischer Handlungsorientierungen und fordern eine spontane Antwort heraus, die im Weiteren genauer auszuführen sein wird: Die effektive Durchsetzung und beständige Reproduktion der spezifisch kapitalistischen Handlungsnorm "rentablen" Wirtschaftens lässt sich nur politisch erklären. Oder mit anderen Worten: Die Antwort liegt in der historischen Ausformung des modernen Staats als Sozialstaat. Die dritte Frage – die man inhaltlich auch als die nach den sozialen Mechanismen der "Ökonomisierung" tendenziell aller gesellschaftlichen Lebensbereiche umschreiben könnte – zielt formalanalytisch auf das Phänomen der Isomorphie, also der Herausbildung von insofern gleichgestaltigen (oder "gleichgerichteten") gesellschaftlichen Handlungsfeldern, als in ihnen strukturell gleichartige Handlungslogiken wirksam werden. Und auch auf diese Frage muss die Antwort lauten: Nur die in den Institutionen und Interventionen des modernen Sozialstaats verankerte und sich Bahn brechende politische Handlungslogik vermag diesen Prozess gesellschaftsweiter Gleichgestaltung nachvollziehbar zu machen.

Ist demnach der Kapitalismus die schicksalsvollste Macht des modernen Gesellschaftslebens, so ist es der Sozialstaat – beziehungsweise, im weiten Verständnis als politische Form moderner kapitalistischer Gesellschaftsordnung, der "Wohlfahrtsstaat" –, der unter dem Druck und im Sog des Kapitalismus, gleichermaßen mit ihm und gegen ihn, als eine weitere Schicksalsmacht des individuellen wie kollektiven Lebens auf die Bühne der modernen Gesellschaftsformation tritt. Und wie der Kapitalismus so ist auch der Sozialstaat maßgeblich daran beteiligt, die Subjekte zu schaffen und zu erziehen, deren diese Gesellschaftsformation bedarf.

Schicksalsmacht Sozialstaat

Um es gleich an dieser Stelle möglichst deutlich zu machen: Webers auf die kapitalistische Wirtschaftsordnung gemünzte und hier auf die politisch überformte, wohlfahrtskapitalistische Gesellschaftsordnung übertragene und ausgeweitete Formulierung, wonach sich eine anonyme, überindividuelle Struktur "ihre" konkreten, individuellen Akteure "schafft", ist hier wie dort nicht so zu verstehen, als wäre damit ein gleichsam frankensteinscher Akt der systemischen Schöpfung willenloser Verhaltensautomaten gemeint. Weder "der Markt" noch "der Staat" formen den modernen Menschen nach Gutdünken zum politischen Marktsubjekt, und "die Leute" in modernen Gesellschaften sind keine beliebig formbaren Objekte in Markt- und Staatshänden.

Was Weber mit seiner Formulierung vor Augen hatte, waren real existierende Menschen in historisch konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen, die dem abstrakten Handlungstypus des Marktakteurs faktisch möglichst weitreichend entsprechen – das heißt möglichst weitgehend den Marktsignalen und -mechanismen gemäß handeln – müssen, wenn sie nach Maßgabe einer marktwirtschaftlichen Ordnung "Erfolg" haben wollen: also danach trachten, Unternehmensgewinne einzufahren oder Arbeitseinkommen zu erzielen, und dies nicht nur einmal oder ab und an, sondern kontinuierlich und auf die Dauer. Ob die sozialen Akteure in diesem Sinne tatsächlich erfolgreich sind, ist dabei aber grundsätzlich ebenso offen – also eine strikt empirische, sich immer wieder neu stellende und zu klärende Frage – wie es nicht schon a priori gesichert ist, dass "das System" darin erfolgreich ist, die sozialen Akteure zu systemkonformem, im hier interessierenden Fall also marktgemäßem oder markterfolgsgerechtem, Handeln anzuhalten.

Historisch bedurfte es jedenfalls des Staates, sprich einer auf den Markt, das Markthandeln und die Markthandelnden bezogenen politischen Intervention, um den modernen Kapitalismus überhaupt möglich zu machen und langfristig als wirtschaftliche (und tendenziell über das wirtschaftliche Feld ausgreifende) Handlungsordnung zu stabilisieren. Nicht "immer schon" wurden die Menschen in den – mit Weber gesprochen – gesellschaftlichen Kosmos kapitalistischen Marktlebens hineingeboren, um sich in die damit gegebenen Umstände ein- und in ihnen zurechtfinden zu müssen. Der moderne Kapitalismus ist, auch wenn die gegenwärtig herrschende Ökonomik dies nicht wissen und wahrhaben will, ein durch und durch politischer Kapitalismus. Von Anfang an funktionierte er nur aufgrund politischer Intervention – im Sinne etwa der Sicherung des Privateigentums und entsprechender individueller Verfügungsrechte über selbiges, der Gewährleistung persönlicher Freiheitsrechte und damit auch "freier" Arbeitskräfte, der Produktion öffentlicher Dienstleistungen und Infrastrukturen (vom Bildungs- und Gesundheitswesen bis zur Verkehrs- und Energieversorgung) als Voraussetzungen eines marktförmigen Warentauschs, öffentlicher Eingriffe zum Ausgleich des zyklischen Ungleichgewichts von Arbeitsangebot und -nachfrage, der sozialen Sicherung nicht (oder noch nicht oder nicht mehr) "marktgängiger" Arbeitskraft.

Mit all diesen Institutionen und Interventionen setzte der Sozialstaat gleichsam eigene – marktbezogene und zugleich doch einer politischen Logik gehorchende sowie mit der potenziellen staatlichen Zwangsgewalt versehene – Daten, an denen die Marktakteure, Unternehmer wie Arbeiter, ihr Handeln wohl oder übel auszurichten hatten: "neue Lebensdaten für alle".

Eben diese "politische Ökonomie" des sozialen Handelns in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung aber gilt im Grundsatz, bei allem Gestaltwandel des Wohlfahrtskapitalismus, bis heute: Wenn auch unter historisch (und national) wechselnden Bedingungen, so bewegen sich die modernen Individuen doch stets in einem Geflecht politisch-ökonomischer beziehungsweise ökonomisch-politischer, "marktstaatlicher" Rahmungen und Maßgaben des Handelns, deren Achtung ihnen nicht wirklich freigestellt ist (beziehungsweise deren Missachtung sie sich leisten können müssen, womit die Missachtungsfähigkeit von entsprechenden Handlungsvorgaben als ein Ausweis sozialer Macht gelten kann). Hineingeboren und -erzogen in eine politisch gestaltete und sanktionsbewehrte Handlungsordnung des Marktes werden die Menschen zu Marktsubjekten geformt, und das im passiv-aktiven Doppelsinne: den "Marktgesetzen" unterworfen und zu Akteuren ihres je eigenen "Marktschicksals".

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die politisch-ökonomische Sozialfigur, an der die übergroße Mehrzahl der besitzlosen – und mehrheitlich männlichen – Marktakteure ihre Handlungen orientierten und die damit gesellschaftlich struktur- und kulturprägend wurde, die des "verberuflichten Arbeitnehmers": Die Verausgabung von Arbeitskraft im lohnabhängigen, betrieblichen, qualifizierten, tariflich wie sozialpolitisch gesicherten, ununterbrochenen und langfristigen "Normalarbeitsverhältnis" wurde zur gesellschaftlichen Norm und Normalität – wenn auch nur, wie bereits angedeutet wurde und hier nicht weiter ausgeführt werden kann, einer geschlechterpolitisch wie nationalgesellschaftlich halbierten. Ausbildungswege und Erwerbsverläufe, Familienformen und Haushaltsstrukturen, Konsummuster und alltägliche Lebensführung waren durch und durch "arbeitnehmerlich" geprägt – durch einen ebenso marktschaffenden wie -regulierenden, -schützenden wie -kompensierenden Sozialinterventionsstaat, dessen gesellschaftlich handlungsprägende Effekte gar nicht überschätzt werden können.

Über seine zentralen Steuerungsmedien Recht (von der Schulpflicht bis zum Kündigungsschutz), Geld (von der Arbeitslosenhilfe bis zur Eigenheimzulage) und Moral (von der "Leistungsgerechtigkeit" bis zum "Generationenvertrag") bildete er das institutionelle Korsett der "Arbeitnehmergesellschaft" der langen Nachkriegszeit, deren Kinder im Zuge und Zeichen einer historisch nie dagewesenen Prosperitätsrevolution nicht etwa gefressen, sondern genährt wurden – nicht zuletzt in ihren Hoffnungen auf eine dauerhafte Verstetigung der arbeitnehmergesellschaftlichen Verhältnisse.

Doch die Verhältnisse blieben nicht so. Zwar gewannen durch die Ausbildung sozialstaatlicher "Institute" – Gesetze und Ämter, Programme und Einrichtungen – "die neuen, von der Sozialpolitik umgestalteten Lebensformen Dauer und bestimmtes Gepräge". Doch andererseits veränderte sich, gewissermaßen im Hintergrund und in einer komplexen Konstellation von Bedingungsverhältnissen, die Struktur und Dynamik der wirtschaftlichen Handlungsordnung und der auf sie bezogenen politischen Interventionen. Im späten 20. Jahrhundert entwickelt sich die Strukturdynamik eines flexiblen Kapitalismus – sowie eines damit vermittelten und wahlverwandten, "aktivierenden" Sozialstaats. Auch diese neue ökonomisch-politische Formation aber erzieht und schafft sich – in dem nunmehr erläuterten Sinn – die Subjekte, deren sie bedarf, und schreitet zu sozialpolitischen Akten ihrer "Resozialisierung".

Formierung des Aktivbürgers

Der flexible Kapitalismus verlangt nach "neuen", veränderten, oder genauer: sich selbst verändernden, den veränderten Verhältnissen permanent anpassenden Subjekten. Flexibel sei der Mensch, selbstständig und unternehmerisch: So liest sich, in Kürzestform, das Handlungsanforderungsprofil der neuen, marktliberalen Wirtschaftsordnung an die – noch – arbeitnehmerisch sozialisierten Marktakteure. Der moderne Kapitalismus, so hatte Weber treffend formuliert, zwingt dem Einzelnen die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf, "soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist". Der (zumindest in seiner Selbstbeschreibung) moderne Kapitalismus der Gegenwart zeichnet sich vor allem anderen dadurch aus, dass sich in ihm Märkte ausweiten, ja tendenziell entgrenzen: Dem Handeln der Einzelnen werden nicht nur im wirtschaftlichen Handlungsbereich – und dort in verschärftem Maße –, sondern in immer weiteren, außerwirtschaftlichen Handlungsfeldern die Normen wirtschaftlichen Handelns aufgezwungen.

Auch diese erweiterte Subjektformierung in kapitalistischer Absicht aber vollzieht sich nicht "von selbst" – beziehungsweise nicht allein durch den bloßen Zwang der Marktkräfte und eine gesellschaftliche Kultur der Marktnähe (obwohl beide Faktoren, je für sich und im Zusammenspiel miteinander, durchaus wirkmächtig sind). Auch hier und heute hat vielmehr die moderne, sozialstaatlich verfasste Politik ihre – mal mehr, mal weniger sichtbare – Hand im Spiel gesellschaftlichen Handelns, erweist sich die zunehmende Ökonomisierung des Sozialen zugleich als eine Tendenz zu seiner effektiven Politisierung.

Was vom flexiblen Marktsubjekt zumindest erwartet, im Zweifel aber gefordert oder auch erzwungen wird, ist der kreative Umgang – bis hin zum Zerstörerischen – mit seinem individuellen Arbeitsvermögen. Selbstkontrolle in der betrieblichen Arbeitsorganisation, Selbstökonomisierung mit Blick auf die Marktfähigkeit der eigenen Arbeitskraft, Selbstrationalisierung der Lebensführung im Sinne ihrer Ausrichtung an den durch Unternehmen und Märkte gesetzten Handlungsanforderungen: Dies sind die idealtypischen Handlungsmuster des flexibel-kapitalistischen "Arbeitskraftunternehmers".

Das Bild dieser Sozialfigur, die mit ihr verbundenen Vorstellungen angemessenen und insofern "Erfolg versprechenden" Handelns in zunehmend vermarktlichten Handlungskontexten, bestimmt in den vergangenen beiden Jahrzehnten immer stärker auch die Formen und Mechanismen sozialpolitischer Intervention. Der Sozialstaat im beziehungsweise des flexiblen Kapitalismus wird mehr und mehr zu einem institutionellen Arrangement der "Erziehung zur Marktlichkeit": "In ihren zentralen Lebensäußerungen soll die einzelne Person sich auf die Befähigung zum Markt, auf die Beherrschung von Wettbewerbshandeln, auf die Einsicht in die Funktionsweise von Wettbewerb und die Legitimation des Marktes ausrichten." Vom Ende der Frühverrentung und der Absenkung des Rentenniveaus bis hin zur Sicherstellung der (stets als "Frauenproblem" gerahmten) Vereinbarkeit von Kind und Karriere oder der Konditionierung von Sozialleistungen für Erwerbslose: "Aktivierende" Sozialpolitik sucht, nicht nur hierzulande und in einem vieldimensionalen Arrangement aus "positiven" und "negativen" Interventionen, jeden einzelnen Menschen zum funktionsfähigen Arbeitsmarktsubjekt werden zu lassen.

Vom wirtschaftlichen Handlungsfeld greift diese Politik schrittweise auch auf andere gesellschaftliche Lebensbereiche, vom Erwerbssystem auch auf das Vor- und Nacherwerbsleben aus und über: die frühkindliche Erziehung wird zu einem prioritären Gegenstand einer langfristigen Sozialpolitik der Produktivkraftproduktion, die Jugendhilfe zum Ort der institutionellen Einübung in den marktzentrierten "Gebrauch der eigenen Kräfte", die Nacherwerbsphase zum Bezugspunkt aktivistischer Anrufungen im Sinne der Ausweitung der produktiven Lebenszeit, "lebenslanges Lernen" zur geradezu selbstverständlichen Auf- und Anforderung an jeden Einzelnen und jede Einzelne (und damit an "uns alle") – und wo die inhaltlichen wie zeitlichen Grenzen zwischen Arbeit und "Leben" (beziehungsweise "Nicht-Arbeit") verlaufen, dürfte mittlerweile kaum jemandem noch klar sein (und soll dies wohl auch nicht mehr). Der "Arbeitnehmer" hat als Sozialnorm ausgedient, das flexible, nach dem Pfadfinderprinzip agierende Marktsubjekt – "Allzeit bereit", "Selbst ist das Selbst", "Suche Deinen Weg!" – ist das neue gesellschaftliche Rollenmodell.

Die neue Sozialpolitik der Aktivierung ist an der Etablierung und Institutionalisierung entsprechender Handlungsorientierungen maßgeblich beteiligt. In ihrem programmatischen Kern ist sie als eine "neue politische Pädagogik der Menschen-Führung" zu verstehen: Jeder Mensch ist Hüter eines Humankapitalschatzes, jeder Bürger ein Träger von produktiven Potenzialen – und alle sind sie gehalten, diese Schätze zu heben und ihre Potenziale zu entfalten. Nichts und niemand (ob nun high oder low potential) soll unverwertet bleiben, alles muss raus – auf den Markt des Arbeitslebens und der Lebensarbeit, der Arbeit am Leben und eines Lebens für die Arbeit. Und für den flexibel-kapitalistischen Sozialstaat ist diese ökonomische Sozialisation des Aktivbürgers zugleich ein Akt seiner politischen Re-Sozialisierung, denn die aktive Ausübung von selbststeuerndem und eigenverantwortlichem Handeln auf Märkten ist zugleich immer auch – so der sozialpolitische Lehr- und Lernauftrag – eine soziale Tat im Sinne der "mikropolitischen" Verantwortungsübernahme für das Gemeinwohl.

Sozialpolitische Erziehungsillusionen

Der moderne Sozialstaat ist eine gesellschaftliche Erziehungsagentur. Seit den Anfängen der kapitalistischen Wirtschaftsformation ist er eine aktive Instanz der Sozialisierung der Subjekte im Sinne der kapitalistischen Handlungsrationalität. In seiner neuen, jüngsten Gestalt als "aktivierender" Sozialstaat spielt er eine zentrale Rolle bei der politischen Produktion und Reproduktion von dem flexiblen Kapitalismus angepassten, kontextangemessen handelnden Aktivbürgern als ökonomisch-soziale Produktivsubjekte. Wohlgemerkt: Es ist dies nicht im Sinne einer bloßen, direktiven, autoritativen Formierung der Menschen von "oben" gemeint und zu verstehen, sondern einer komplexen Wechselwirkungskonstellation ineinandergreifender Prozesse wirtschaftlichen und sozialen, kulturellen und institutionellen Wandels. Und auch der – gar nicht so geheime – Lehrplan des aktivierenden Sozialstaats setzt sich nicht nach Art des Nürnberger Trichters durch, sondern wird in einem ebenso komplexen, interaktiven und letztlich unkalkulierbaren Prozess der institutionellen Strukturierung alltäglicher Handlungspraktiken und deren Rückwirkung auf die institutionalisierten Handlungskontexte vermittelt. Letztlich gilt also auch hier das Marxsche Diktum, dass die Menschen "ihre" Geschichte machen (und sie machen müssen) – aber eben unter vorgefundenen, sprich ihrerseits von Menschen gemachten, Bedingungen. Nur so, in dieser immerwährenden Vermittlungsschleife von sozialen Handlungen und sozialen Strukturen, lässt sich die institutionelle Konstitution von Subjekten in modernen Gesellschaften denken.

Was bedeutet dies aber für den Auftritt des Sozialstaats als "erziehungsberechtigte" oder jedenfalls – gegenwärtig im Sinne des Aktivbürgers als Produktivsubjekt – erziehungsbeabsichtigende gesellschaftliche Institution? Zum einen, dass man ihm analytisch nur gerecht wird, wenn man ihn auch in seiner basalen Sozialisations- und Erziehungsfunktion ernst nimmt: Mit einer mal mehr (Riester-Rente), mal weniger (Hartz-Gesetze) sanften Pädagogik der Marktvergesellschaftung trägt der Sozialstaat in seiner gegenwärtigen Gestalt zur marktgerechten Selbsterziehung der Leute und damit zur sozialen Praxis des alltäglich-subjektiven doing capitalism bei. Zum anderen lässt diese spezifische Perspektive auf den Sozialstaat zugleich auch die sozialen Grenzen seiner Intervention erkennen: Ob und wie die Menschen den institutionellen Erziehungsauftrag in ihrem Handeln annehmen und ausführen, abwandeln oder abweisen, ist keineswegs durch eine schicksalsvolle Macht vorgegeben und vorherbestimmt, sondern eine empirisch offene Frage des sozialen Alltagsgeschehens. Insofern ist nicht einmal auszuschließen, dass die selbsterklärt Erziehungsberechtigten am Ende von den zu Erziehenden erzogen werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hans Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Von der Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat, Hamburg 1958, S. 76.

  2. Vgl. ebd., S. 102ff.

  3. Ebd., S. 102.

  4. Ebd., S. 76.

  5. Max Weber, Vorbemerkung [1920], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 19889, S. 4.

  6. Vgl. Uwe Schimank, Die Moderne: Eine funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft, in: Berliner Journal für Soziologie, 19 (2009) 3, S. 327–351.

  7. Max Weber, Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1904/05], in: ders. (Anm. 5), S. 37.

  8. Vgl. Thomas Schwinn, Max Webers Konzeption des Mikro-Makro-Problems, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS), 45 (1993) 2, S. 220–237.

  9. Vgl. Paul J. DiMaggio/Walter W. Powell, The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields, in: American Sociological Review, 48 (1983) 2, S. 147–160.

  10. Vgl. Karl Polanyi, Die Wirtschaft als eingerichteter Prozeß [1957], in: ders., Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, S. 219–244.

  11. Vgl. Stephan Lessenich, Theorien des Sozialstaats zur Einführung, Hamburg 2012, S. 25ff.

  12. Vgl. Georg Vobruba, Die Gesellschaft der Leute. Kritik und Gestaltung der sozialen Verhältnisse, Wiesbaden 2009.

  13. Vgl. Gero Lenhardt/Claus Offe, Staatstheorie und Sozialpolitik. Politisch-soziologische Erklärungsansätze für Funktionen und Innovationsprozesse der Sozialpolitik, in: Christian von Ferber/Franz-Xaver Kaufmann (Hrsg.), Soziologie und Sozialpolitik, Opladen 1977, S. 98–127.

  14. H. Achinger (Anm. 1), S. 97.

  15. Vgl. G. Günter Voß/Hans J. Pongratz, Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?, in: KZfSS, 50 (1998) 1, S. 131–158.

  16. Vgl. Ulrich Mückenberger, Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft?, in: Zeitschrift für Sozialreform, 31 (1985) 7/8, S. 415–434, S. 457–475.

  17. Vgl. Stephan Lessenich, Das Anerkennungsdefizitsyndrom des Wohlfahrtsstaats, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 37 (2012) 11, S. 99–115.

  18. Vgl. zur Charakterisierung der DDR als "arbeiterliche Gesellschaft": Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 1999.

  19. M. Rainer Lepsius, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland. Lebenslagen, Interessenvermittlung und Wertorientierungen, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, S. 187.

  20. Vgl. Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M.–New York 1984; Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000.

  21. H. Achinger (Anm. 1), S. 102.

  22. Vgl. ausführlich: Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008.

  23. Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. 2007.

  24. M. Weber (Anm. 7).

  25. Vgl. S. Lessenich (Anm. 11), S. 113ff.; grundsätzlich dazu auch: Michael Th. Greven, Die politische Gesellschaft, Opladen 1999.

  26. Vgl. G.G. Voß/H. J. Pongratz (Anm. 15).

  27. Vgl. Stephan Lessenich, "Aktivierender" Sozialstaat. Eine politisch-soziologische Zwischenbilanz, in: Reinhard Bispinck et al. (Hrsg.), Sozialpolitik und Sozialstaat, Wiesbaden 2012, S. 41–53.

  28. Frank Nullmeier, Vermarktlichung des Sozialstaats, in: WSI-Mitteilungen, 57 (2004) 9, S. 497.

  29. Vgl. Claire Annesley, Lisbon and social Europe: towards a European "adult worker model" welfare system, in: Journal of European Social Policy, 17 (2007) 3, S. 195–205.

  30. Fabian Kessl, Der Gebrauch der eigenen Kräfte. Eine Gouvernementalität sozialer Arbeit, Weinheim 2005.

  31. Vgl. Silke van Dyk et al., Vom "verdienten Ruhestand" zum "Alterskraftunternehmer"? Bilder des Alter(n)s im gesellschaftlichen Wandel nach dem Systemumbruch, in: Heinrich Best/Everhard Holtmann (Hrsg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft, Frankfurt/M.–New York 2012, S. 369–387.

  32. Vgl. Karin Gottschall/G. Günter Voß (Hrsg.), Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag, München 2003.

  33. Ulrich Brieler, "Erfahrungstiere" und "Industriesoldaten": Marx und Foucault über das historische Denken, das Subjekt und die Geschichte der Gegenwart, in: Jürgen Martschukat (Hrsg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt/M.–New York 2002, S. 74.

  34. Vgl. Stephan Lessenich, Krise des Sozialen?, in: APuZ, (2009) 52, S. 28–34.

  35. Vgl. Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt/M.–New York 1988, S. 35.

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Dr. rer. pol., geb. 1965; Professor für Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Carl-Zeiss-Straße 2, 07743 Jena. E-Mail Link: stephan.lessenich@uni-jena.de