Die Vorstellung, dass die Persönlichkeit eines Menschen sein politisches Denken und Handeln beeinflusse, ist nicht neu. In den Sozialwissenschaften und darüber hinaus erlangte sie vor mehr als einem halben Jahrhundert einige Prominenz. Damals meinten Theodor W. Adorno und seine Kolleginnen und Kollegen, mit der im Kindesalter geformten autoritären Persönlichkeit ein Denkmuster gefunden zu haben, das Menschen potenziell faschistisch werden lasse.
Persönlichkeitseigenschaften
Fragt man nach der Persönlichkeit eines Menschen, bezieht man sich meist auf Verhaltenstendenzen, die eine Person über die Zeit und Situationen hinweg an den Tag legt, und die sie von anderen Personen gleichen Alters in der gleichen Kultur unterscheiden.
Innerhalb des Eigenschaftsparadigmas hat sich seit den 1990er Jahren die Auffassung durchgesetzt, dass fünf relativ umfassende Eigenschaftsdimensionen, die sogenannten Big Five, genügen, um wesentliche Unterschiede zwischen Menschen zu erfassen.
Persönlichkeitseigenschaften sind zum Teil genetisch angelegt, zum Teil in frühen Lebensjahren erworben und bleiben im Laufe des Lebens relativ konstant. Damit sind die Neigungen und Bedürfnisse, die sich in Persönlichkeitseigenschaften niederschlagen, Einstellungen und Verhalten in spezifischen Situationen zeitlich vorgelagert und können auf diese wirken. Dies geschieht dadurch, dass sie Einfluss darauf nehmen, welche Ziele eine Person verfolgt, welche Stimuli in ihrer Umwelt sie als wichtig erachtet und wie sie darauf reagiert. Im Zusammenspiel mit Umwelteinflüssen führen tief verankerte Persönlichkeitseigenschaften somit zu charakteristischen Anpassungen eines Menschen, also zur Ausprägung bestimmter Gewohnheiten, Einstellungen und Verhaltensmuster.
Vor diesem Hintergrund kann es kaum erstaunen, dass Persönlichkeitseigenschaften menschliches Verhalten in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären vorhersagen können. Ebenso liegt es nahe, Informationen über die Persönlichkeit von Menschen etwa bei der Personalauswahl zu nutzen. Beispielsweise würde man einer schüchternen Person nicht unbedingt raten, einen Beruf als Lehrkraft zu ergreifen, dagegen gewissenhafte Personen gerne mit Aufgaben betrauen, die Akribie erfordern.
Wenigstens auf den ersten Blick könnte es jedoch fragwürdig erscheinen, diese allgemeinen, gleichsam unpolitischen Persönlichkeitseigenschaften mit politischen Einstellungen und Verhaltensweisen in Verbindung zu bringen. Tatsächlich liegt es jedoch gar nicht so fern. Denn Menschen legen tief verankerte Verhaltenstendenzen nicht ab, sobald sie sich der politischen Sphäre nähern. Man mag allerdings zweifeln, ob das politische Geschehen Reize bereithält, auf die Personen in Abhängigkeit von ihren Persönlichkeitseigenschaften unterschiedlich reagieren. Eine wachsende Zahl von Befunden zu Wirkungen von Persönlichkeitseigenschaften auf politisches Verhalten und politische Präferenzen spricht dafür, dass diese Zweifel unbegründet sind.
Persönlichkeit und politische Partizipation
Wie sehr sich Menschen für politisches Geschehen interessieren und wie stark sie sich am politischen Prozess beteiligen, hängt auch von Persönlichkeitseigenschaften ab. Solche Zusammenhänge entstehen, sofern politisches Engagement den mit der Persönlichkeit eines Menschen zusammenhängenden Neigungen und Bedürfnissen entspricht (positiver Zusammenhang) oder diesen widerspricht (negativer Zusammenhang).
Um diese Überlegung anwenden zu können, ist es nützlich, sich Eigenschaften verschiedener Formen von politischer Beteiligung ins Gedächtnis zu rufen. In politischen Prozessen versuchen Akteurinnen und Akteure nicht zuletzt ihre Auffassungen darzustellen, für sie zu werben und in der Auseinandersetzung mit anderen durchzusetzen. Politische Prozesse führen somit zu häufig konflikthaften Auseinandersetzungen zwischen Menschen. Für die verschiedenen Formen politischen Engagements von Bürgerinnen und Bürgern gilt das in unterschiedlichem Maße. Die Kandidatur für ein öffentliches Amt und die Organisation einer Demonstration erfordern es beispielsweise, im öffentlichen Wettstreit die eigenen Standpunkte darzulegen und um Unterstützung zu werben. In Wahlen können Bürgerinnen und Bürger ihre politischen Vorlieben hingegen geheim zum Ausdruck bringen. Im Vergleich mit den beiden anderen politischen Aktivitäten ist die Teilnahme an Wahlen somit weniger geeignet, Selbstdarstellungsbedürfnisse zu befriedigen, erfordert aber auch weniger Streitbarkeit und Mut zum öffentlichen Bekenntnis. Diese Unterschiede zwischen Formen politischer Teilhabe spiegeln sich in Einflüssen von Extraversion, emotionaler Stabilität und Verträglichkeit auf ihre Nutzung wider. Für die USA konnte gezeigt werden, dass verträgliche
Hohe Extraversionswerte begünstigen darüber hinaus in verschiedenen Gesellschaften die Nutzung diverser Formen politischer Teilhabe, etwa Kontakte zu Abgeordneten, die Unterstützung von Parteien und Kandidaten in Wahlkämpfen sowie die Teilnahme an (genehmigten und nicht genehmigten) Demonstrationen.
Darüber hinaus entsprechen nicht alle Formen politischer Aktivität gleichermaßen den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln. Einige Formen sind illegal, andere legal, aber wenig verbreitet und gelten nicht als legitim, wieder andere sind erlaubt, gelten als legitim, ja die Nutzung mancher wird geradezu als Bürgerpflicht angesehen. Die Gewissenhaftigkeitsdimension erfasst unter anderem, inwieweit Menschen sich an geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln orientieren. Daher erscheint es folgerichtig, dass in Deutschland hohe Gewissenhaftigkeitswerte dazu beitragen, dass Bürgerinnen und Bürger mit dem Wahlrecht eine gewisse Verpflichtung verbunden sehen und auch tatsächlich ihre Stimme abgeben. Dagegen halten sich Menschen mit dieser psychischen Disposition von weniger konventionellen und illegalen Formen der politischen Aktivität eher fern.
Politisches Engagement spiegelt somit zu einem gewissen Teil die in Persönlichkeitseigenschaften erfassten Neigungen und Bedürfnisse von Menschen wider. Nicht zuletzt tragen offenbar hohe Werte auf den Dimensionen Offenheit und Extraversion zu ausgeprägter politischer Aktivität bei. Sie lassen es also wahrscheinlicher werden, dass Personen dem in der politischen Bildung häufig hochgehaltenen Ideal politisch interessierter und aktiver Bürgerinnen und Bürger entsprechen.
Persönlichkeit und politische Präferenzen
Der Einfluss von Persönlichkeitseigenschaften ist nicht auf den Grad politischer Aktivität beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf politische Präferenzen. Dementsprechend spiegeln sich Unterschiede in der Persönlichkeit auch in politischen Wertorientierungen, ideologischen Vorstellungen sowie Einstellungen zu politischen Sachfragen, Kandidaten und Parteien wider. Eine wesentliche Ursache für diese Zusammenhänge ist wiederum darin zu suchen, dass etwa bestimmte Vorschläge zur Lösung gesellschaftlicher Probleme den psychischen Neigungen und Bedürfnissen einer Person besonders gut entsprechen oder diesen widersprechen. Beispielsweise könnte eine liberalere Zuwanderungspolitik von offenen Menschen als Möglichkeit gesehen werden, zusätzliche Anregungen zu erhalten, und daher begrüßt werden. Personen mit niedrigen Ausprägungen dürften dieselbe Aussicht eher als Störung oder Bedrohung empfinden und daher ablehnend reagieren.
Das Beispiel bezieht sich nicht zufällig auf Offenheit. Denn diese Eigenschaft erweist sich auch hier als ausgesprochen einflussreich.
Gewissenhaftigkeit scheint in gewisser Weise spiegelbildlich zu Offenheit zu wirken. Sehr gewissenhafte Menschen neigen dazu, in der Gesellschaftspolitik an traditionellen Moralvorstellungen festzuhalten und beurteilen daher Politikvorschläge kritisch, die davon abzurücken versprechen. In der Außenpolitik treten sie eher für isolationistische Positionen ein und sind überdurchschnittlich oft bereit, den Einsatz militärischer Gewalt zu befürworten. Letzteres dürfte nicht zuletzt mit ihrer Neigung zusammenhängen, eindeutig zwischen "richtig" und "falsch" zu unterscheiden. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik scheinen sie marktfreundliche Vorstellungen zu bevorzugen, auch wenn die Befunde für Deutschland an dieser Stelle nicht ganz eindeutig sind. Hohe Werte auf der Gewissenhaftigkeitsdimension begünstigen die Ausprägung eher rechter oder gar rechtsextremer Grundorientierungen sowie auf Bewahrung zielender Wertorientierungen. An der Wahlurne lassen sie ein Votum für konservative Parteien wahrscheinlicher werden, Stimmen für linke und linksliberale Parteien hingegen weniger wahrscheinlich.
Für die übrigen Persönlichkeitseigenschaften liegen weniger eindeutige und konsistente Befunde vor. Hochgradig verträgliche Menschen befürworten überdurchschnittlich stark eine auf sozialen Ausgleich bedachte Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie kooperative und gewaltfreie Lösungen in der Außenpolitik. Für emotionale Stabilität konnten Wirkungen zugunsten einer marktfreundlichen Haltung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nachgewiesen werden. Extraversion scheint hingegen nur vereinzelt mit politischen Grundorientierungen, Einstellungen zu Sachfragen oder Wahlverhalten zusammenzuhängen.
Persönlichkeitseigenschaften beeinflussen, so können wir festhalten, auch politische Präferenzen. Zum Teil spielen dabei dieselben Eigenschaften eine prominente Rolle wie bei der politischen Aktivität, zum Teil auch andere. Extraversion beeinflusst offenbar die Bereitschaft zu politischer Aktivität, jedoch kaum politische Vorlieben. Für Gewissenhaftigkeit gilt der Tendenz nach das Gegenteil. Offenheit für Erfahrung erweist sich hingegen in beiden Hinsichten als einflussreich.
Folgerungen
Wie der vorangegangene Überblick über ausgewählte Forschungsergebnisse zeigt, kommen die in Persönlichkeitseigenschaften gebündelten Neigungen und Bedürfnisse auch darin zum Ausdruck, wie stark sich Menschen mit Politik befassen, wie stark sie Möglichkeiten zur politischen Beteiligung nutzen, welche Standpunkte sie zu politischen Sachfragen beziehen, wie sie Parteien und Politiker bewerten und wen sie wählen. Wie in anderen Lebensbereichen auch spielen bei der politischen Urteilsbildung und Partizipation zum Teil unbewusste, kaum willentlich beeinflussbare psychische Neigungen und Bedürfnisse eine Rolle. Politik ist also durchaus eine Frage der Persönlichkeit.
Die vorgestellten Zusammenhänge dürfen allerdings nicht überinterpretiert werden. Manche Befunde scheinen von der Messmethode abzuhängen und über Gesellschaften hinweg nicht stabil zu sein.
Das kann kaum anders sein, da Persönlichkeitseigenschaften allgemeine, nicht politikspezifische Neigungen und Bedürfnisse erfassen. Geht es um Politik, kommen zusätzliche Einflüsse ins Spiel, beispielsweise früh erworbene Parteibindungen oder ein aus der Situation heraus erwachsendes Interesse an bestimmten Fragen.
Zudem setzen politische Eliten in ihrem Kampf um die politische Deutungshoheit Kommunikationsstrategien ein, welche die politische Prägekraft von Persönlichkeitseigenschaften verstärken oder abschwächen können. Nicht zuletzt diese Argumente sollten auch verdeutlichen, dass es verfehlt wäre, aus dem Nachweis von Wirkungen zum Teil erblicher, zum Teil früh erworbener Persönlichkeitseigenschaften zu folgern, politische Ansichten und Verhaltensweisen seien von frühester Jugend an für das gesamte Leben genau festgelegt.
Diese Einschränkungen vermögen aber nichts daran zu ändern, dass Persönlichkeitseigenschaften politische Präferenzen und politisches Verhalten beeinflussen. Gerade die Verknüpfung beider Wirkungen erscheint bemerkenswert und politisch bedeutsam. So begünstigt stark ausgeprägte Offenheit für Erfahrung nicht nur aktive Beteiligung am politischen Geschehen, sondern gleichzeitig eine Präferenz für eher linke, traditionelle Vorstellungen infrage stellende Politikentwürfe.
Personen, die persönlichkeitsbedingt politisch vergleichsweise aktiv sind, vertreten also aus demselben Grund überzufällig häufig bestimmte politische Standpunkte. Insoweit sind diese politischen Standpunkte persönlichkeitsbedingt unter politisch aktiven Personen stärker vertreten als in der Gesamtbevölkerung. Sie dürften daher öffentlich sichtbarer sein und stärkeren Einfluss auf politische Prozesse und deren Ergebnisse, also etwa Gesetze, nehmen, als es ohne politische Wirkungen von Persönlichkeitseigenschaften der Fall wäre. Es scheint daher persönlichkeitsbedingte Ungleichheiten in der Repräsentation politischer Standpunkte zu geben.
Dieser Befund kann unterschiedlich bewertet werden. Im Vergleich zu den Wünschen der Bevölkerung stärker auf Wandel bedachte politische Entscheidungen könnten als Triebfeder des gesellschaftlichen Fortschritts angesehen werden. Die Bewertung dürfte noch wohlwollender ausfallen, wenn man annimmt, dass eine sich rasch wandelnde Gesellschaft – man denke an Migration, den demografischen Wandel und die Pluralisierung von Lebensformen – einer hohen Anpassungsfähigkeit politischer Entscheidungen bedürfe.
Legt man die Messlatte demokratischer Gleichheit an, kann ein kritischeres Urteil resultieren.