Prozesse der Sozialisation werden nachhaltig durch institutionelle Einwirkungen geprägt. Sozialisation findet stets innerhalb entsprechender Arrangements statt. Diese zu beeinflussen und förderlich zu gestalten, ist eine zentrale Aufgabe der Politik. Im Folgenden geht es um einen speziellen Bereich der damit angesprochenen Steuerungsaufgabe: die Kriminalpolitik. Sie dient in besonderer Weise der Demonstration, "dass der Staat handlungsfähig ist, dass er auf sein Gewaltmonopol pocht und dass er bürgerschaftliche Interessen ernst nimmt".
Sehr aussagekräftig für die Jugendkriminalpolitik der vergangenen Jahrzehnte ist das Beispiel einer Reform, die mit dem 1. September 2012 in Kraft trat. Die als "Gesetz zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten"
Diese Änderungen waren seit längerer Zeit Gegenstand von Forderungen einzelner Bundesländer und wurden in den Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung im Jahr 2009 aufgenommen. Angesichts der Vorlaufzeit handelte es sich nicht um einen Schnellschuss. Das Beispiel lässt sich folglich gut als Exempel für Prinzipien politischer Steuerung verwenden.
Reformen des Jugendstrafrechts und empirische Befunde
Sehen wir dazu auf die wissenschaftliche Einschätzung der Reform. Im Gesetzesentwurf selbst wird – wie dies auch das Bundesverfassungsgericht fordert – auf eine "Wirkungsorientierung" Wert gelegt, derzufolge jugendstrafrechtliche Regelungen und das Jugendstrafverfahren am Ziel der Legalbewährung des Einzelnen auszurichten sind. Dies erfordert, so wird festgehalten, "eine beständige Überprüfung auf kriminologischer und empirischer Grundlage, ob die gesetzlichen Regelungen im Hinblick auf die genannte Zielsetzung noch ausreichend und angemessen sind".
Allerdings ist es zumindest ambivalent, wenn eine empirische Begründung der Reform zwar anerkannt, ihr aber zugleich widersprochen wird, soweit der "Warnschussarrest" und die Erhöhung der maximalen Dauer von Jugendstrafe infrage stehen: Zum einen hatten der Rechtsausschuss des Bundestages, der Ausschuss für Frauen und Jugend sowie der Finanzausschuss an den Bundesrat – letztlich erfolglos – die Empfehlung ausgesprochen, die Reform nicht zu billigen, sondern den Vermittlungsausschuss anzurufen.
Entsprechend unzweideutig äußern sich wissenschaftliche Expertinnen und Experten: Beispielhaft sei genannt, dass der Kriminologe Arthur Kreuzer zur Ausweitung des Jugendarrests auf eine "Einmütigkeit" unter Fachleuten "über dessen Nutzlosigkeit, ja Schädlichkeit" aufmerksam macht.
Ähnlich fällt die wissenschaftliche Einschätzung langer Inhaftierungszeiten durch Jugendstrafe aus. Bei einer langen Haftdauer ist von besonderen "entsozialisierenden Folgen des Freiheitsentzugs" auszugehen.
Erklärungsversuche
Selten ist sich die Wissenschaft so einig wie im Falle der beiden eben diskutierten Reformmaßnahmen des Jugendstrafrechts: "Warnschussarrest" und verlängerte Inhaftierungszeiten scheinen nicht die Bevölkerung zu schützen und die Legalbewährung von jungen Delinquenten zu fördern. Wiedereingliederung beziehungsweise Erziehung von Tätern zur Sicherheit der Bevölkerung werden folglich mit großer Wahrscheinlichkeit selten Erfolg zeitigen. Tatsächlich sind die empirischen Befunde derart eindeutig, dass politischen Akteuren der Widerspruch der Reformen mit dem wissenschaftlichen Kenntnisstand bekannt sein müsste. Ausschüsse und Experten hatten dies wiederholt deutlich gemacht.
Dieser Widerspruch von empirischer Befundlage und politischem Handeln ist nicht neu. Er wurde und wird international breit diskutiert, da die Kriminalpolitik sich seit den 1970er Jahren zunehmend vom Rat der Wissenschaft und von Experten entfernt.
Punitive Bevölkerung:
Es wird angenommen, Politikerinnen und Politiker seien durch eine hohe Straflust (Punitivität) in der Bevölkerung gleichsam gezwungen, Strafverschärfungen zu realisieren. Sie kämen durch punitive Reformen demnach lediglich einer rechtsstaatlichen Aufgabe nach, nämlich dem moralischen Empfinden einer Mehrheit in der Bevölkerung zu entsprechen. Diese Annahme kann als widerlegt betrachtet werden: Zum einen werden Politikerinnen und Politiker selbst aktiv, um Strafverschärfungen durchzusetzen, um sich selbst als besonders durchsetzungsstark zu präsentieren.
Eingeschränktes Handlungspotenzial der Politik:
Politik scheint in vielen Bereichen des modernen Lebens kaum noch steuerungsfähig oder -willig zu sein. Die Kriminalpolitik bietet einen Ausweg, da sich zumindest beim Umgang mit Delinquenz die Instanzen des Staates als besonders handlungsfähig erweisen könnten. Eine Ausweitung strafrechtlicher Sozialkontrolle sei deshalb systematisch verbunden mit der staatlichen "Unfähigkeit zur Kontrolle der grenzüberschreitenden Kapital-, Menschen- und Zeichenströme".
Punitiver Wandel im Umgang mit Kriminalität?
Seit einigen Jahren wird in der kriminologischen Forschung über die Frage diskutiert, ob es einen "punitiven Wandel" im Umgang mit Kriminalität gegeben hat. Gemeint ist die These, dass sich der Umgang mit Kriminalität zunehmend von einer wohlfahrtsstaatlichen Maxime der Resozialisierung entfernt und immer stärker auf Vergeltung, Sühne und Gesellschaftsschutz Wert gelegt wird. Einen wesentlichen Impuls für diese Annahme lieferten Entwicklungen in den USA und England/Wales sowie steigende Inhaftierungsraten in verschiedenen weiteren westlichen Ländern.
Die breite Debatte zeigt jedoch, dass differenziert werden muss. So entwickeln sich massenmediale Diskurse, kriminalpolitische Trends, die Bevölkerungsmeinung und die institutionelle Rechtsanwendung nicht automatisch in die gleiche Richtung. Massenmedien berichten oftmals stark pointiert über Delikte, beispielsweise indem scheinbar klare Rollen (Täter versus Opfer) verteilt werden oder Tathintergründe unklar bleiben. In der Kriminalpolitik zeigte sich in Deutschland in den vergangenen Jahren ein Zuwachs an Punitivität. Dem internationalen Trend gemäß werden wissenschaftliche Befunde weniger als früher entscheidungsrelevant. Kriminalpolitische Reformen richten sich stattdessen mitunter an eine vermutete Bevölkerungsmeinung, etwa indem schwerwiegende Einzelfälle übergeneralisiert werden und akuter Handlungsdruck unterstellt wird.
Die Bevölkerung selbst ist dabei keineswegs generell punitiv eingestellt, da zwischen Delikten und Tätergruppen unterschieden wird. Bezüglich der Handlungspraxis von Jugend- und Staatsanwälten sowie Jugendrichtern zeigt sich ebenfalls, dass die These einer allgemein gestiegenen Punitivität kaum zutrifft. In einer differenzierten Analyse im Jahr 2012 machte Wolfgang Heinz darauf aufmerksam, dass die Annahme einer wachsenden Strafbereitschaft "empirisch nicht bestätigt werden" kann. Restriktiver als früher werden jedoch Gewalt- und Sexualdelikte behandelt.
Ohne dass diese These dadurch grundlegend hinterfragt wird, wird allerdings angemahnt, dass sie zu unspezifisch ist. Es ist auf nationale und regionale Differenzen hinzuweisen; sie wirken langfristig und führen zu jeweils besonderen kriminalpolitischen und strafrechtlichen Systemen.
Dies führt zur dritten Position, die auf Diskussionen um ein
"symbolisches Strafrecht"
zurückgeht. Es wird damit nicht bestritten, dass ohnehin jede (straf-)rechtliche Regelung auch symbolische Qualitäten aufweist. Gemeint ist vielmehr eine besondere symbolische Qualität, und zwar eine hohe Expressivität der Darstellung und Kommunikation strafrechtlicher Normierungen bei gleichzeitigem Verzicht des Gesetzgebers auf eindeutige, begrenzte und zielfokussierte Regelungen. Der Hinweis auf ein symbolisches Strafrecht benennt in diesem Sinne eine "gleisnerische Vorspiegelung gesetzlicher Effektivität und Instrumentalität",
Die Positionen schließen sich nicht unmittelbar aus; vor allem der zweite und dritte Standpunkt ergänzen sich auf der Grundlage unterschiedlicher Schwerpunkte. Insbesondere die dritte Annäherung zeigt dabei Überschneidungen mit der obigen Analyse der aktuellen Reform des Jugendstrafrechts. Betrachten wir hierzu kurz den Begriff "Warnschussarrest". Er signalisiert, dass jungen Delinquenten nun gewissermaßen ein "Schuss vor den Bug" gegeben werde. Durch eine martialische Sprache ("Warnschuss") wird eine feindselige, ja kriegerische Haltung gegen Jugendkriminalität dargestellt. Wer Warnschüsse abgibt, will nicht resozialisieren, erziehen oder verstehen, er will durchgreifen und nötigenfalls, wenn auch der "Warnschuss" nicht abschreckt, endgültig "ernst machen". Die Symbolik der Regelungen ist entsprechend eindeutig. Es kann vermutet werden, dass der konkrete Gehalt der neuen Regelung in der Bevölkerung nicht im Einzelnen klar ist. Bereits zuvor konnten junge Täter beispielsweise bis zu vier Wochen Arrest erhalten (als "Dauerarrest" gemäß §16 Abs. 4 Jugendgerichtsgesetz). Untersagt war hingegen dessen Koppelung mit einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe. Ohnehin waren viele der mit einer Bewährung bedachten jungen Täterinnen und Täter bereits zuvor arrestiert oder in Untersuchungshaft, sodass sie durch Arrest nicht abgeschreckt wurden beziehungsweise werden konnten.
Aber dies scheint unerheblich, denn die Politik tritt nun, indem der Terminus "Warnschussarrest" massenmedial verbreitet wird, als Instanz auf, die jungen Tätern entschieden entgegentritt. Dies fügt sich ein in eine lange Reihe demonstrativ repressiver Inszenierungen strafrechtlicher Reformen.
Folgewirkungen symbolischer Kriminalpolitik
Die Rationalität staatlicher Kriminalpolitik erweist sich angesichts der bisherigen Betrachtungen als ausbaufähig, zumindest in ihrem gegenwärtigen Auftreten und unter Bezug auf die Zielsetzung, Kriminalität zu verhindern. Aber eine normative Bewertung der Kriminalpolitik soll hier nicht im Vordergrund stehen. Wichtiger ist der analytische Umgang mit den skizzierten Besonderheiten der Kriminalpolitik. Sie ist auf besondere Weise symbolisch ausgerichtet und besitzt zugleich konkrete Folgewirkungen. Diese ergeben sich in verschiedene Richtungen.
Betrachten wir zunächst mögliche Folgen für die politischen Akteure. Intendiert sind natürlich Zustimmungsgewinne auf Seiten der Wählerschaft. Da diese nur in Ausnahmefällen kriminologisch geschult ist, ist der empirische Gehalt von Reformvorhaben relativ irrelevant, um diesen Zweck zu erreichen. Wenn nicht massenmedial wirksame Gegenmacht mobilisiert werden kann (etwa durch Wissenschaftler, die sich öffentlich artikulieren), so können die symbolischen Botschaften von der angeblichen Notwendigkeit eines "harten Durchgreifens" gegen Kriminalität voll zum Tragen kommen. Dennoch sind Strafverschärfungen für politische Akteure kein Selbstläufer. Kriminalpolitik ist mit Motiven des Bevölkerungsschutzes und der Herstellung von Sicherheit verwoben, sodass Politiker entsprechend authentisch und glaubwürdig wirken müssen. Sie müssen ihre (Wahl-)Interessen auf eine Weise verfolgen, die sie nicht unmittelbar sichtbar macht. Dies gelingt, wenn an kulturell etablierte Einstellungen zu Jugend und Kriminalität angeknüpft werden kann und massenmediale Darstellungen die entsprechende Haltung stützen.
Ferner sind Reformvorhaben direkt relevant für (potenzielle) junge Täterinnen und Täter. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sie nach aktuellem Kenntnisstand durch umfassendere Arrestierung oder Inhaftierung kaum gebessert werden, sondern den schädlichen Folgen einer Sozialisation in "totalen Institutionen"
Zu bedenken sind außerdem indirekte Folgen für Jugendliche, die (noch) nicht polizeilich auffällig wurden. Fast alle Jugendliche begehen – meist bagatellhafte – Delinquenz; es handelt sich um eine statistische Normalität jugendlicher Lebensführung.
Betrachten wir auf dieser Basis erneut die von der aktuellen Jugendkriminalpolitik vermittelte Botschaft, man müsse "härter" als bislang gegen Jugendkriminalität vorgehen. Delinquenz wird durch die entsprechenden Darstellungen als eine Gefahr für die soziale Ordnung vorgestellt. Natürlich geht von Jugendkriminalität in Einzelfällen durchaus eine Gefahr für Menschen aus. Aber wie zuvor beschrieben, sind auch die sehr selten auftretenden schwerwiegenden Formen von Jugendkriminalität ein Fall für besonnene, zurückhaltende Maßnahmen und nicht für die Demonstration von Handlungsbereitschaft.
Wird Jugendkriminalität entgegen diesem Befund als nicht tolerierbares, der unnachgiebigen Intervention bedürftiges Problem behandelt, so müssen Jugendliche als ein Risiko für die Gesellschaft erscheinen.
Fazit
Die Betrachtung der Jugendkriminalpolitik führt zu einer Ernüchterung: Politische Steuerung operiert in erster Linie nach Eigenlogiken des politischen Systems und deren Interaktion mit massenmedialen Darstellungen. Die politisch-massenmediale Kooperation der Kriminalitätsdarstellung
Ein wichtiger Schritt, um eine Instrumentalisierung von Kriminalität als Mittel politischer Selbstlegitimation zu vermeiden, kann darin bestehen, auf die Beschränkung von Kriminalitätskontrollen Wert zu legen. Während jüngst Prävention immer früher, Kontrolle immer umfassender und Ausgrenzung immer rigider angelegt war, ist es angebracht, auf rechtsstaatliche Selbstbeschränkung Wert zu legen, wie dies auf der Grundlage einer liberalen Strafrechtstheorie mit Recht eingefordert wird.
Die symbolische Qualität politischer Kommunikation zeigt allerdings die besondere Herausforderung, die sich hier ergibt: Kriminalpolitische Steuerung operiert oftmals durch emotionalisierende Darstellungen. So wird im Rahmen einer populistischen Kriminalpolitik die vermeintlich hohe Kriminalität von "Ausländern" angeprangert oder der aus benachteiligten Kreisen stammende "Intensivtäter" wird zum Zielpunkt besonderer Ausgrenzungsrhetoriken, womit die Lage der durch diese Rhetoriken adressierten Personen zusätzlich belastet werden kann. Vermutlich dürfte in diesen Fällen nur beharrliche Überzeugungsarbeit Erfolg versprechend sein, indem auf die Nebenfolgen punitiver Politik, auf wissenschaftliche Befunde zur Legalbewährung, auf die Schädlichkeit sozialer Ausgrenzung