Wie erkennen wir Neues in der Politik, und wie bewerten wir dieses Neue, wenn es darauf abzielt, die vertrauten politischen Maßstäbe und -einheiten in Frage zu stellen? Die Piratenpartei als neueste Erscheinung in der bundesrepublikanischen Politik erlaubt es, diesem Problem nicht nur abstrakt nachzugehen. Meine Ausgangshypothese verortet das Neue weder im von der Piratenpartei eingebrachten Thema, noch in einer besonderen Position, die sie innerhalb des politischen Spektrums bezieht, sondern in ihrem Vorschlag, die Art und Weise zu verändern, wie politische Macht in der deutschen Demokratie ausgeübt wird: den Modus demokratischer Herrschaft von Repräsentation auf liquid democracy umzustellen.
Blickt man auf die öffentlichen Reaktionen auf die Piratenpartei, so lassen sich die Umgangsweisen mit diesem Neuen in drei Kategorien einordnen: Negation, Affirmation und Zwangsintegration. Während insbesondere die anderen Parteien abstreiten, dass mit der Piratenpartei etwas Neues entstünde, das die eingespielten politischen Bewertungen durcheinanderbrächte, begeistern sich Teile der Öffentlichkeit für das Neue, das dementsprechend als Revolution und Befreiung gefeiert wird. Eine dritte Variante ist die von den öffentlichen Medien praktizierte Integration des Neuen in die vertrauten Narrative der politischen Berichterstattung, indem sowohl die grundsätzliche Andersheit der Piratenpartei betont als auch der Zwang, sich in die journalistischen Bewertungskategorien einzuordnen, mit aller Macht durchgesetzt wird.
Politische Rationalität der Piratenpartei
Ein lohnender Ausgangspunkt ist die Selbstbeschreibung der Piratenpartei, sie böte "kein Programm, sondern ein neues Betriebssystem für die Politik", da diesen Satz jeder kennt und doch niemand ihn gesagt hat:
Was bedeutet es, ein Betriebssystem für die Politik anzubieten? Zunächst ist Politik damit qua Positionierung dasjenige, was vom Betriebssystem verwaltet und standardisiert zugänglich wird. Politik erscheint also als Hardware, als eine komplexe Konfiguration physikalischer Elemente, die bei richtiger Ansprache bestimmte Funktionen ausführen kann. Die Ansprache dieser Hardware wird vom Betriebssystem der Piratenpartei geleistet – wie sie jedoch erfolgt, das heißt zu welchen Programmen solche Ansprachen zusammengeschlossen werden, entscheiden die Mitglieder der Partei: Sie können so die Politik bedienen oder sogar programmieren. Die Piratenpartei selbst "macht" also keine Politik, sondern ist lediglich eine standardisierende Plattform, die ihren Benutzerinnen und Benutzern ermöglicht, politische Programme zu erstellen und ablaufen zu lassen. Dazu muss die Partei bis zur Unsichtbarkeit transparent,
Neben diesem neuen Verständnis von "Partei" hat die Vorstellung von Politik als Hardware aber auch direkt Auswirkungen darauf, was "Politik zu betreiben" bedeutet: Da Politik in ihren technologischen Anlagen aufgeht, für die diejenigen, die "Politik machen", die geeigneten Programme schaffen müssen, ergibt sich eine neue Vorstellung von Technokratie, die anstatt einer Herrschaft von Technikern die Herrschaft durch Technik in den Vordergrund stellt. Wenn Politik als Hardware aus den Techniken zur Herrschaft besteht und die Piratenpartei der so verstandenen Politik ein neues Betriebssystem verpassen will, das für alle Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung steht, kann man das in ihrer Metaphorik angelegte Ziel als eine Öffnung der Position des Technikers begreifen: Das Piraten-Betriebssystem ermöglicht jedem, die Rolle einzunehmen, die eine traditionelle Vorstellung von Technokratie den technischen Experten vorbehält. Für diese partizipative Technokratie ist Transparenz eine funktionale Bedingung, da die Bürgerinnen und Bürger nur dann ihre Rolle als Techniker ausfüllen können, wenn der "Code" der auf der Politik ablaufenden Programme für alle einsehbar ist.
So lässt sich die politische Rationalität der Piratenpartei als Streben nach einer partizipativen Technokratie beschreiben, in der die unsichtbare Partei die um den Zugriff auf die Techniken der Herrschaft konkurrierenden Parteiprogramme verwaltet. Transparenz ist in diesem "Betriebssystem für die Politik" eine doppelte Funktionsvoraussetzung: Innerparteiliche Transparenz erlaubt der Piratenpartei, zum unsichtbaren Medium zwischen den politischen Programmen und der Hardware der Politik zu werden und andere Parteien insofern obsolet zu machen, als dann alle Bürgerinnen und Bürger mithilfe der standardisierten Infrastruktur zu politischen Akteuren werden können. Transparent müssen aber auch die auf dieser Grundlage erstellten politischen Programme der Bürgerinnen und Bürger sein, um die Chance aller anderen zu wahren, selbst aktiv werden zu können. Denn nur die durch lückenlose Einsicht in die Programme und ihre Umsetzung erzeugte Nachvollziehbarkeit ermöglicht die Pluralität solcher politischen Programme. Die Notwendigkeit der Transparenz für die Piratenpartei und damit die Dringlichkeit ihrer Transparenzforderungen lässt sich also auf die Stellung von Transparenz als doppelte Voraussetzung der politischen Rationalität zurückführen.
Liquid Democracy
Dass sich die Vehemenz ihrer Transparenzforderungen aus deren funktionaler Notwendigkeit für die politische Rationalität der Piratenpartei erklären lässt, weist bereits darauf hin, dass die Piraten Repräsentation vornehmlich als Problem begreifen. Denn Transparenz wird nicht zufällig häufig von den Repräsentanten eingefordert, damit nachvollziehbar und kontrollierbar wird, ob sie die Interessen der von ihnen Repräsentierten vertreten und nicht ihre eigenen oder die ihrer jeweiligen Partei. Als geradezu logische Konsequenz daraus zielt der zentrale Vorschlag der Piratenpartei auf nichts weniger als den Ersatz der repräsentativen durch die flüssige Demokratie.
Begrifflich gesehen, gewinnt liquid democracy ihre Bestimmtheit durch Negation:
Liquid democracy stellt sich als Modifikation der bestehenden demokratischen Verfahren dar, die je nach Interpretation mehr oder weniger drastisch ausfallen.
Mit dem Begriff der "demokratischen Spaltung" greife ich auf eine Gemeinsamkeit radikaldemokratischer Theorien – etwa von Claude Lefort, Ernesto Laclau oder Jacques Rancière – zurück, die es als konstitutiv für Demokratie erachten, dass sie grundlose Herrschaft ist, weil jede und jeder mit gleichem Recht herrschen kann. Diese Charakterisierung der Demokratie verzichtet auf einen substantiellen Begriff des Volkes (demos), wie er in Demokratietheorien der Volkssouveränität leitend wird, um stattdessen die (radikale) Gleichheit in der Demokratie zu betonen. Der Demokratiebegriff wird insofern von den Regierungsformen her gelesen, gegen die er sich richtet: Demokratie bedeutet keine Herrschaft durch Eliten, mehr oder weniger wohlmeinende Tyrannen oder Experten – der Begriff zeichnet stattdessen ein Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten aus, in der jede und jeder von einer Seite auf die andere wechseln kann, ohne – durch Reichtum, Abstammung oder Wissen – dafür besonders qualifiziert zu sein. Der gegenwärtig eingespielte Mechanismus, um diesen Wechsel zu organisieren, ist die freie und geheime Wahl in regelmäßigen Intervallen: Zumindest auf der konzeptuellen Ebene steht es hier allen Bürgerinnen und Bürgern frei, sich aufstellen und wählen zu lassen, um so von den Regierten zu den Regierenden zu wechseln. Die demokratische Spaltung ist also nicht mit der symbolischen Differenz zwischen Regierung und Opposition zu verwechseln, die in dieser Terminologie beide zu den Regierenden gehören.
Sowohl Repräsentation als auch liquid democracy lassen sich als Umgangsweisen mit mit der demokratischen Spaltung begreifen. Während Repräsentation der demokratischen Spaltung eine spezifische Form gibt und sie zur Darstellung bringt, in dem sie in Repräsentanten und Repräsentierte einteilt ("repräsentionale Differenz"), zielt liquid democracy auf ihre Aufhebung: Dadurch, dass die demokratische Spaltung soweit individualisiert und dynamisiert – "verflüssigt" – wird, verschwimmt sie wirklich. Liquid democracy individualisiert die demokratische Spaltung, weil für jede Frage durch die permanent möglichen Wahlen neu ermittelt wird, wer in dieser Sache herrscht und wer beherrscht wird. Insofern der oder die Einzelne daher in verschiedenen Abstimmungen mal regiert, mal regiert wird, subjektiviert die flüssige Demokratie die demokratische Spaltung, die nun auch durch die Individuen verläuft. Zugleich dynamisiert liquid democracy die demokratische Spaltung, da sie aufgrund der Individualisierung und ständigen Neuermittlung immer neu gezogen wird. Liquid democracy als "neues Betriebssystem" der Politik führt zu einer demokratischen Machtausübung, die zu jeder Zeit mit dem zählbaren Volkswillen übereinstimmt: eine totale Identität der Gesellschaft mit ihren Herrschaft ausübenden Institutionen.
Man kann diese Konstellation mit Jacques Rancière als Postdemokratie beschreiben: als eine Weise, die Politik – verstanden als Unterbrechung der staatlich-institutionellen (in Rancières Terminologie: der "polizeilichen") Ordnung – zum Verschwinden zu bringen, weil das Volk als Subjekt dieser Unterbrechung in der Postdemokratie nicht mehr erscheinen kann: "Es ist ganz in einer Struktur des Sichtbaren gefangen, einer Struktur, in der man alles sieht und alles gesehen wird, und in der es daher keinen Ort mehr für das Erscheinen gibt."
Demokratische Differenz und ihre Versöhnungstechnologien
Als energischer Schritt Richtung Postdemokratie lässt sich liquid democracy also mit guten Gründen ablehnen. Indem sie als zentraler Vorschlag zur Neugestaltung der demokratischen Machtausübung die politische Rationalität der Piratenpartei bewertbar macht, entpuppt sich das von den Piraten in die Politik eingebrachte "Neue" als der bekannte antirepräsentationale Traum nach Unmittelbarkeit mit allen seinen problematischen Konsequenzen.
Bei dieser Schlussfolgerung stehen zu bleiben, hieße jedoch, auf die Chance zu verzichten, aus den Gründen für die Unbrauchbarkeit von liquid democracy theoretischen Gewinn zu ziehen. Denn obgleich das "Neue" der Piratenpartei auf den ersten Blick wenig Überraschendes zu bieten hat, sollte man doch die zumindest anfängliche Begeisterung für die Piratenpartei als Indiz für ein bei vielen Bürgerinnen und Bürgern verbreitetes Unbehagen mit der gegenwärtigen demokratischen Machtausübung ernst nehmen.
Die Problematik einer solchen Gleichsetzung von demokratischer Spaltung und repräsentationaler Differenz möchte ich an Juliane Rebentischs Buch "Die Kunst der Freiheit"
Rebentisch zufolge beruht die Ästhetisierungskritik – unter der sie die Kritik an der Tendenz versteht, ethische und vor allem politische Entscheidungen nach privaten ästhetischen Kriterien zu treffen und sich folglich aus dem gemeinsam geführten politischen beziehungsweise ethischen Diskurs zurückzuziehen – auf einem Missverständnis jener Freiheit, welche die Ästhetisierung schafft: Die Ästhetisierungskritik könne in der "ästhetischen Freiheit" nur eine individualistische Freiheit vom Sozialen erkennen, deren Verbreitung dieses Soziale zersetze.
Demokratie sei für eine so als frei verstandene soziale Praxis die einzig geeignete Regierungsform, weil sie dieser intern notwendigen Offenheit entspreche: Sie garantiere die für das dialektische Spiel der Freiheit erforderlichen Möglichkeiten zur Distanzierung von der und zur Rückkehr in die Gemeinschaft, solange sie das "Volk" als Subjekt der Selbstregierung nicht als "vorpolitische" Einheit voraussetze. Der demos einer Demokratie werde erst "in der politischen Repräsentation hervorgebracht" und existiere daher "niemals jenseits der damit zugleich etablierten Trennung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, Produzierenden und Rezipienten, Regierenden und Regierten".
Die in der Ästhetisierungskritik aufscheinende Kritik an der demokratischen Spaltung wird dieser (sehr verkürzt wiedergegebenen) Analyse nach von einer Unmittelbarkeitsfantasie getragen, die den demos eben doch jenseits seiner Spaltung voraussetzt und durchaus totalitäre Züge annehmen kann, wenn die Souveränität sich als ungebrochene Präsenz des Volkswillen ausgibt.
Doch nicht das Umschlagen von Demokratie in Totalitarismus interessiert hier, sondern Rebentischs Verteidigung der Ästhetisierung als wichtiges Moment der dialektischen Freiheit, die für sie mit einer Verteidigung der demokratischen Spaltung verknüpft ist. Rebentisch zeigt, wie die Ästhetisierungskritik auf die Überwindung der demokratische Spaltung zielt, demokratische Machtausübung also letztlich jenseits von Machtbeziehungen zu positionieren versucht, mit denen die demokratische Spaltung unweigerlich entsteht. Komplementär zum Totalitarismus, den Rebentisch als eine Weise analysiert, die demokratische Spaltung durch Gleichsetzung von Volk und Herrschaft aufzuheben, sei die Verleugnung der Machtausübung eine zweite Art, die demokratische Spaltung zu überwinden, die in die Postdemokratie führe.
Während diese Argumentation mit der im vorherigen Abschnitt entfalteten Kritik an liquid democracy kongruent ist, trifft Rebentisch eine folgenschwere Vorentscheidung, indem sie die demokratische Spaltung mit der Differenz zwischen Repräsentanten und Repräsentierten gleichsetzt und daher ihre Verteidigung der demokratischen Spaltung notwendig zu einer Verteidigung der Repräsentation wird.
Stattdessen, so mein abschließender Vorschlag, lassen sich mit der strikten Unterscheidung zwischen demokratischer Spaltung und repräsentationaler Differenz – Repräsentation wie liquid democracy – als Versöhnungstechnologien begreifen: Beide bemühen sich, der nach einer Spaltung sich auf Seiten der Regierten statt auf Seiten der Regierenden wiederfindenden Individuen eine Interpretation anzubieten, die ihnen sowohl rational als auch affektiv erlaubt, die momentane Position des Unterlegenen zu akzeptieren. Bei liquid democracy ist das einfach zu sehen: Weil die Spaltung ständig erneuert wird, lassen sich die Regierten mit dem Hinweis auf die gleich wieder anstehende neue Grenzziehung vertrösten: Jetzt und in dieser Frage magst Du zu den Regierten gehören, dann und in jener Frage aber wirst Du regieren.
Repräsentation verfährt anders. Weil die repräsentative Demokratie längere Zyklen zwischen einer Erneuerung der demokratischen Spaltung vorsieht, verspricht sie den Regierten neben der Wiederholung eine "stellvertretende" Anwesenheit unter den Regierenden. Symbolisch ist der klarste Ausdruck die Opposition. Aber all die verschiedenen, theoretischen Bestimmungen von politischer Repräsentation – als Anwesenheit der Abwesenden, als ihre Stellvertretung oder als Verdopplung
Einerseits wird aus dieser Perspektive verständlich, warum die Verflüssigung der demokratischen Spaltung so attraktiv ist: Als alternative Versöhnungstechnologie mutet sie den Regierten weniger zu als die Repräsentation, muss keine fiktive Anwesenheit oder eine stets bezweifelbare Stellvertretung versprechen, sondern kann die fortwährende Chance auf einen sofortigen Positionswechsel anbieten. Der Preis dafür allerdings ist, wenn man der obigen Argumentation folgt, die Abschaffung der demokratischen Spaltung und das Abgleiten in die Postdemokratie. Aber auch die Repräsentation hat ihre Gefahren – nicht umsonst gibt es eine lange Tradition der Repräsentationskritik.
Konstruktiv gewendet folgt daraus, dass man auf der Suche nach einem anderen Umgangsmodus mit der demokratischen Spaltung von den Defiziten der beiden Versöhnungstechnologien lernen kann. Demokratische Versöhnungstechnologien müssen, so ließe sich bilanzieren, mindestens drei Bedingungen erfüllen: Sie müssen (a) die konstitutiv grundlose Spaltung in Regierende und Regierte respektieren, (b) diese für die jeweils Unterlegenen akzeptabel machen, und (c) sie dürfen die Versöhnungstechnologie selbst der demokratischen Gestaltung nicht entziehen. Diese drei Kriterien eröffnen der politischen wie der theoretischen Vorstellungskraft den notwendigen Raum, um Alternativen zu finden – Alternativen, die weder in einer postdemokratischen Verwaltung noch in einer Oligarchie derjenigen enden, welche die Repräsentationsmaschinerie zu bedienen wissen.
Im Erfinden demokratischer Machttechniken allerdings muss die politische Philosophie selbst Politik werden um diese Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürgern nicht von Qualifikationen abhängig zu machen, die dem demokratischen Impuls der Gleichheit zuwiderlaufen.