Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie."
Drang nach Freiheit
Vor nicht langer Zeit hat das Aufbegehren der Menschen in der DDR gegen ihre Entmündiger zu friedlichem Protest, zum Fall der Mauer und schließlich zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt.
Gegenwärtig lastet eine schwere Krise auf dem Projekt eines politisch einigen, freiheitlichen Europas. Hoffnungen werden eingetrübt, und eine allgemeine Unsicherheit ist bis tief in persönliche Lebensverhältnisse zu spüren. Die Regierungen in den europäischen Ländern sind bislang an der Herausforderung gescheitert, die Interessen der Nationalstaaten und ihrer Bürger miteinander über den Erhalt des Friedens hinaus zu vernetzen. Europa erscheint als Projekt von politischen und ökonomischen Eliten, welche die Bürger nicht mitnehmen, zumal "demokratische Teilhabe kein genuiner Baustein im System der europäischen Integration war und eher marginal blieb".
An den Ketten einer Politik, die von oben verordnet wird und die Bürger nicht mitnimmt, wird in Deutschland gerüttelt: von Protestwählern und Protestparteien, von Wut- und Mutbürgern mit ihren Aktionen, von Bürgerinitiativen, die mehr direkte Demokratie einfordern. Rebellion als Schule der Demokratie?
Zu den gegenwärtigen Anforderungen an eine demokratische Kultur gehört, auch in schwieriger Lage, die Zuständigkeit von Politik zurückzuerobern und ein Verständnis von freiheitlicher Politik zu aktualisieren, dessen Zentrum der Bürgerwille ist. Dabei kann an Rousseaus Idee vom Gesellschaftsvertrag angeknüpft werden, in dem Freiheit und Verantwortung, Rechte und Pflichten der Bürger untrennbar sind. Sein Werk unterzeichnet er mit "Citoyen de Genève" und macht gleich zu Anfang deutlich, dass politische Bildung und politisches Interesse Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft sind: "Ich bin als Bürger eines freien Staats geboren und Glied des Souveräns, und so schwach auch der Einfluss meiner Stimme auf die öffentlichen Angelegenheiten sein mag – mein Stimmrecht genügt, mir die Pflicht aufzuerlegen, mich darin zu unterrichten. Sooft ich über Regierungen nachdenke – welches Glück, dass ich bei diesen Untersuchungen immer neue Gründe finde, die Regierung meines Vaterlands zu lieben!"
Zentrale republikanische Werte in Rousseaus Gesellschaftsvertrag
Jean-Jacques Rousseau wird am 28. Juni 1712 in Genf geboren. Viele Jahre seines Lebens verbringt er auf Wanderschaft, arbeitet in verschiedenen Berufen. Nebenbei bildet er sich autodidaktisch, entwickelt eine Notenschrift, komponiert, schreibt Theaterstücke und philosophische Werke. Sein Diskurs über die Wissenschaften und Künste wird 1750 von der Akademie in Djion preisgekrönt.
Rousseaus Werke und sein nach Unabhängigkeit strebendes Leben wurden als Bruch mit den Ordnungsvorstellungen der alten Welt interpretiert, sogar als Aufforderung zur Revolution. Jedoch enthalten weder seine Werke ein revolutionäres Programm noch hat sich die Französische Revolution unmittelbar von Rousseau leiten lassen. Aber die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 erhielt auch von ihm Inspiration. Von Napoleon Bonaparte etwa ist die Äußerung überliefert, es wäre besser gewesen, Rousseau hätte nicht gelebt.
Im Laufe seines Lebens hat der "helvetische Franzose" die Funktionsweise der politischen Systeme seiner Zeit studiert und verglichen. Kennengelernt hat er republikanische, ihre Unabhängigkeit verteidigende Schweizer Städte und Landsgemeinden, die selbstständige Republik Venedigs, die absolutistischen Regime Savoyens, Frankreichs und Preußens, die parlamentarische Monarchie Großbritanniens. Er schloss daraus, dass es den Menschen möglich ist, frei zu sein, auch wenn der Preis, den sie dafür zahlen, hoch ist.
Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, gehörte es bei den Intellektuellen zum Common Sense, nicht mehr die Natur oder Gott als Urheber des Staates zu betrachten, sondern die Menschen selbst. Thomas Hobbes (1588–1679) und John Locke (1632–1704) hatten den Staat zwar als Resultat von Verträgen und als notwendig für die Existenz der Individuen angesehen, aber mit einem mehr (so Hobbes) oder weniger (so Locke) großen Verlust an Freiheit verbunden. Im Gegensatz dazu erkennt Rousseau im Freiheitswillen der Menschen das Prinzip des Rechtsstaates. Immanuel Kant (1724–1804) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) schätzen ihn deshalb. Für Rousseau ist eine politische Ordnung nur dann rechtmäßig, wenn sie auf dem in Freiheit geäußerten Willen der Menschen beruht. Hätten die Menschen keine Chance, ihren Willen zu bekunden oder – wie im Modell von Thomas Hobbes – verzichteten sie aus Sicherheitsgründen auf Freiheit, so sei die Ordnung ungerecht und könne keine Rechtmäßigkeit oder gar Gehorsam seitens der Bürger beanspruchen.
Diese Einsicht wirkt wie ein Paukenschlag: Rousseau spricht allen Systemen, die auf einseitigen Machtverhältnissen beruhen, die Legitimität ab. Menschen, die ihnen unterworfen sind, hätten das Recht, sogar die Pflicht, den Gehorsam zu verweigern. Niemand könne und dürfe auf seine Freiheit verzichten, denn sie sei das unveräußerliche Gut des Menschen: "Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten. Wer auf alles verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen; seinem Willen jegliche Freiheit nehmen heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen. Endlich ist es ein nichtiger und widersprüchlicher Vertrag, einerseits unumschränkte Macht und andererseits unbegrenzten Gehorsam zu vereinbaren."
Auslegungen und Anwendungen
Die Konstruktion des Bürgers als vollständig durch den Gesellschaftsvertrag vergesellschaftetes Wesen hat den Interpreten Rousseaus große Schwierigkeiten bereitet. Verständlich wird sie nur, wenn berücksichtigt wird, dass Besitz und Eigentum in jeder Gesellschaft politischen Machtverhältnissen unterliegen, sie also keine natürlichen menschlichen Eigenschaften sind. In den absolutistischen Systemen verfügte der herrschende Adel über unermesslichen Besitz, den er oft durch die Enteignung der Untertanen vermehrte. Das konnte nicht rechtmäßig sein. Der Gesellschaftsvertrag als Grundlage einer rechtmäßigen Ordnung reguliert die Eigentumsverhältnisse und gewährleistet das persönliche Eigentum der Bürger, die nun nicht nur ein Recht auf Eigentum haben, sondern auch den Schutz ihres Eigentums durch die Gemeinschaft erfahren.
Das Verständnis vom Gesellschaftsvertrag, wie es in der von John Locke begründeten liberalen Tradition vorherrscht, demzufolge der Staat lediglich nach dem Willen seiner Bürger die Absicherung schon bestehender (Besitz-)Verhältnisse wahrnimmt, unterscheidet sich von Rousseaus Konzeption. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom Juli 1776 – also 14 Jahre nach Erscheinen des contrat social – mit ihrem naturrechtlich verankerten Gleichheitspostulat ("all men are created equal") und dem Auftrag an den Staat, das Streben nach Glück seiner Bürger ("the pursuit of happiness") zu fördern, geht auf Locke und nicht auf Rousseau zurück. Unterschiedliche bis heute wirksame Traditionen des Staatsverständnisses werden deutlich.
Rousseau hat den Gemeinwillen (volonté générale) als Einheit des Willens aller Bürger konzipiert. Aus dem Akt des Zusammenschlusses, der Übereinkunft der Willen Einzelner zu einem allgemeinen Willen, entstehe die Republik. Gegenstand des Gemeinwillens sei zunächst die Übereinkunft als Souverän, die freiheitliche Zustimmung zum Gemeinwesen (im Sinne eines Grundgesetzes) und sodann die Inhalte des Gemeinwohls, die durch die Gesetze konkretisiert werden. Gesetze seien Ausdruck der Freiheit, aber damit auch der Pflichten und Verantwortungen, welche die Bürger sich auferlegen. Sich vom Gehorsam gegenüber den selbst erlassenen Regeln zu suspendieren, könne nicht im Namen der Freiheit geschehen. Diesbezüglich war Rousseau jedoch optimistisch: Bürger, die sich selbst ihre Gesetze geben, würden alles daran setzen, diese zu befolgen. Die Abstimmung darüber solle in Volksversammlungen stattfinden.
An dieser Konstruktion ist vehement Kritik geübt worden. Nicht nur war das Versammlungsgebot schon zu Rousseaus Zeiten aufwendig. Auch die Beziehung zwischen Mehrheitsbeschluss und Schutz von Minderheiten, die "unaufgelöste Spannung zwischen Kollektivismus und Individualismus"
Viele Aspekte der Rousseauschen Republik werden in der politischen Kultur Frankreichs tradiert: Der Soziologe Émile Durkheim, der das Projekt einer republikanischen Erziehung weiterführte, sprach noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Kollektivbewusstsein, dem es kraft solidarischer Einstellung gelingt, die Anomien der gesellschaftlichen Modernisierung durch Arbeitsteilung zu überwinden.
Gefahren für die Demokratie
Für Rousseau lässt sich die Republik mit unterschiedlichen Regierungsformen wie Monarchie, Aristokratie und Demokratie verbinden. Regierungen seien lediglich die Sachwalter des Souveräns und von ihm abhängig. In der Demokratie sei die Trennung zwischen Gesetzgeber und Souverän, zwischen Exekutive und Legislative, aufgehoben, das Volk regiere sich selbst, nicht nur grundsätzlich, sondern auch im politischen Alltagsgeschäft. Dabei gerate leicht das große Ganze aus dem Blick. Außerdem sei es praktisch undurchführbar, dass sich das Volk permanent versammele. Ferner sei ein derart tugendhaftes Volk, das sich stets von den allgemeinen Interessen leiten ließe und keine Sonderinteressen verfolge, eine unrealistische Vorstellung.
Die berühmte Passage von Rousseaus Demokratiekritik lautet: "Nimmt man den Begriff in der ganzen Schärfe seiner Bedeutung, dann hat es niemals eine echte Demokratie gegeben, und es wird sie niemals geben. Es geht gegen die natürliche Ordnung, dass die Mehrzahl regiert und die Minderzahl regiert wird."
Am Modell der repräsentativen oder parlamentarischen Demokratie arbeitet Rousseau deren Gefahren heraus – etwa die Neigung der gewählten Repräsentanten, eigene Interessen zu verfolgen und dafür die Zustimmung des Volkes zu nutzen, die "Verdrängung" des Volkes aus wichtigen politischen Angelegenheiten und das allmählich entstehende Desinteresse des Volkes an der Politik bis hin zu einer Art Selbstentmündigung: "Wo ein Volk sich Vertreter gibt, ist es nicht mehr frei."
Die Beziehung zwischen dem volonté générale und der Ausbildung von partiellen Interessen ist bei Rousseau nicht systematisch berücksichtigt. Zur Lösung dieses Problems hat Hegel in den "Grundlinien der Philosophie des Rechts" (1821) die Sphäre des Rechtsstaats (bei uns: die Verfassung) als unbedingte Voraussetzung des Freiheitswillens und die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, dominiert durch individuelle Bedürfnisse und Interessen, voneinander getrennt, aber durch Korporationen verbunden. Dieses Modell hat sich historisch für Deutschland eher als wegweisend erwiesen denn Rousseaus Gesellschaftsvertrag. Ist die Idee eines Freiheit und Verantwortung, Rechte und Pflichten verknüpfenden Gesellschaftsvertrags dennoch relevant für Deutschland?
Deutschlands politische Großprojekte nach dem Zweiten Weltkrieg, die Etablierung einer stabilen parlamentarischen Demokratie, die europäische Integration und die Wiedervereinigung, konnten nur auf der Basis eines allgemeinen politischen Willens gelingen, der von der Mehrheit der Bevölkerung getragen und in Wahlen bestätigt wurde. Die Akzeptanz der Politik bei den Bürgern hatte viel damit zu tun, dass die Institutionen des Sozialstaats, die das Leben der Menschen alltäglich prägten, eine Balance zwischen dem Allgemeinwohl und den individuellen Bedürfnissen und den verschiedenen Interessen untereinander – für jeden erfahrbar – herzustellen vermochten (trotz ihrer vielfach ständischen Herkunft). In den vergangenen Jahrzehnten hat sich Deutschland zu einer hochgradig individualisierten und differenzierten Gesellschaft entwickelt. Der große öffentliche Raum, der für vielfältige Sonderinteressen (von Unternehmen, Verbänden, Vereinen, Parteien, Schichten und Milieus) vorhanden ist, gilt als Zeichen von lebendiger Bürgergesellschaft, Pluralität und Freiheit. Aus dieser an sich positiven Tatsache ergeben sich jedoch Gefahren für die Demokratie, die bereits Rousseau analysiert hat: Je erfolgreicher die Interessenvertreter für ihre Klientel Privilegien erzielen, desto schwächer wird deren Bezug auf die Gemeinschaft und deren Bereitschaft, sich über die eigenen Belange hinaus zu engagieren. Gemeinschaftsstiftende Traditionen und Aufgaben befinden sich auf dem Rückzug.
Im Selbstverständnis der Eliten ist ein mangelnder republikanischer Esprit zu beklagen, der sich zwar aus der historischen Erfahrung mit zwei Diktaturen erklärt, aber dazu führt, dass die Verantwortung für die politischen und gesellschaftlichen Institutionen vernachlässigt wird. Auf den Gebieten der Wirtschafts-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik sind beispielsweise die Eigeninteressen mächtiger Gruppen, Individuen und Organisationen zu Lasten der Gemeinschaft und der sie tragenden Institutionen gestärkt worden.
Eine Kultur der Verpflichtung aller Beteiligten, der Entscheidungsträger und der Betroffenen, im Sinne eines Gesellschaftsvertrags zur Stärkung der Institutionen, die das Leben der Deutschen auch im Zeitalter der Globalisierung und Europäisierung auf unabsehbar lange Zeit noch bestimmen wird, erscheint also dringend geboten. Deutschland hat mit der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte sondergleichen erlebt. Nun ist zu erwarten, dass die Politik, dort, wo sie sich in den vergangenen Jahren selbst abgebaut hat, ihre Zuständigkeit wieder verstärkt zur Geltung bringt und sich dabei auf ihre Basis, auf die Bürger, besinnt.